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WEISSRUSSLAND / ANTISEMITISMUS - Gespräch mit dem Kommentator Siemion Bukchyn

Kaum noch eine Zukunft

Im Rahmen einer Ausstellung von Fotografien über Weissrussland befand sich dieser Tage auch der bekannte weissrussische Kolumnist und politische Kommentator Siemion Bukchyn in Basel. Gegenüber der JR äusserte sich Bukchyn, selbst jüdischer Abstammung, zur prekären politischen Situation in Weissrussland und der Rolle des Antisemitismus in Präsident Lukaschenkos autoritärem Regime. Mit Siemion Bukchyn sprach für die JR Simon Erlanger.

JÜDISCHE RUNDSCHAU:
Wie kommt man zur Stellung eines Kommentators in Weissrussland?

SIEMION BUKCHYN:
Ich komme von der Akademie her und bin eigentlich Literaturwissenschaftler. Ich verfasste über ein Dutzend wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher zur russischen, weissrussischen und polnischen Literatur und den literarischen und kulturellen Beziehungen zwischen den drei verwandten Sprachgebieten. In den letzten zehn Jahren habe ich mich aber vor allem als Publizist und politischer Kommentator betätigt. Siemion Bukchyn ist dabei mein Pseudonym. Mein richtiger Name ist Samuel Bukchyn.

Sie kommentieren also die politische Situation in Weissrussland?

Ich bin ein gewöhnlicher Angehöriger der «Intelligenzia». Als die Perestroika einsetzte und die Sowjetunion zusammenbrach, hatte ich Freude an der Entwicklung, an der Öffnung und nahm alles in Kauf, so etwa den Verlust meines Status als Wissenschaftler und meinen Arbeitsplatz an der Akademie der Wissenschaften. Nach und nach bin ich dann in den Journalismus hineingerutscht und arbeite heute unter anderem für die «Belorusskaya Gazeta».

Wie ist das, als Journalist in Weissrussland zu arbeiten? Von allen Staaten der GUS ist Weissrussland ja einer der autokratischsten?

Ja, das stimmt, Weissrussland ist autoritär. Die Intelligenz, Journalisten und Liberale, glaubten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion daran, dass es möglich sei, eine Demokratie aufzubauen und eine moderne staatliche Struktur zu schaffen. Diese Hoffnungen haben sich leider nicht erfüllt. Man darf aber nicht einfach alles Alexander Lukaschenko in die Schuhe schieben. Der Prozess der Demokratisierung scheint viel länger zu gehen und viel tiefgründiger zu sein, als bisher angenommen. Trotzdem kann man sagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung gemerkt hat, dass die Allmacht des kommunistischen Systems nichts Gutes ist. Darum hatten wir Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre sehr ausgiebige antikommunistische Demonstrationen und die nationalistische weissrussische Volksfront, die nach der Unabhängigkeit verlangte, war im Aufwind. Aber die ökonomischen Folgen des Auseinanderfallens der Sowjetunion sind in Weissrussland derart gravierend, dass die Leute immer apathischer werden und sich Heimweh nach der Sowjetzeit breitgemacht hat, als die Wurst billig war und die Wohnungen gratis, die negativen Seiten des Sowjetsystems wurden vergessen. Dafür sieht man heute die wachsende soziale Ungleichheit.

Sind darum die Postkommunisten heute derart stark?

Die Bezeichnung Postkommunisten ist verharmlosend. Das Volk, das siebzig Jahre unter dem Sowjetsystem gelebt hat, ist ein Sowjetvolk ohne jegliches «post». Da hat sich nichts geändert. Wir können nicht innerhalb von so kurzer Zeit England, Frankreich oder die Schweiz werden. Das Heimweh nach alten Werten kam so wieder auf und war Wasser auf die populistischen Mühlen Lukaschenkos, der Ordnung, Wohlfahrt, Kampf gegen Korruption und Diebstahl versprach und deshalb gewählt wurde. Aber als Lukaschenko an der Macht war, merkte man, dass den schönen Worten nichts konkretes folgte. Lukaschenko dehnte dafür die Macht des Staates wieder extrem aus und schränkte Persönlichkeitsrechte ein. Und so wurden alle, die frei denken, von Lukaschenkos als Gegner angesehen, in erster Linie die freie Presse und liberale Politiker, die ihn kritisierten.

Wie kommt nun der Antisemitismus in das eben Geschilderte hinein?

Es wird nun in Weissrussland die Frage gestellt, wer ist denn überhaupt schuld an der ganzen Misere, an den Missständen? Wer hat die Sowjetunion, in der man gut gelebt hat, kaputtgemacht, so fragt das Volk. Auf der Suche nach den Schuldigen wurden in der Sowjetunion seit eh und je die «Zionisten» genannt, ein Euphemismus für Juden, für ein noch viel älteres Feindbild.

Wie äussert sich das?

Ich könnte nicht sagen, dass Lukaschenko als Staatspräsident mit antisemitischen Reden auftreten würde. Er betonte in einer kürzlichen Rede sogar, dass er um die Leiden und die Unterdrückung der Juden in der Sowjetunion wisse und das solches nie mehr sein dürfe, auch nicht in Weissrussland. Aber diese Haltung entspricht nicht unbedingt dem, was wirklich vor sich geht. So wurde ein offenbar jüdischer Kritiker Korrespondent des Moskauer unabhängigen Fernsehens aus dem Land geekelt. Der Mann berichtet heute aus Jerusalem. In der gegenwärtigen Stimmung erscheinen immer wieder sehr viele antisemitisch gefärbte Berichte und Kommentare in den Medien, sowohl in den staatlichen als auch in den nichtstaatlichen. So frönen zum Beispiel die staatliche Jugendzeitung «Das Banner der Jugend», die Zeitschrift «Slawische Sturmglocke» oder die Zeitung «Persönlichkeit» immer wieder dem mehr oder weniger offenen Antisemitismus. «Persönlichkeit» z.B. wird in einer staatlichen Druckerei, die man eigentlich als Präsidentendruckerei bezeichnen könnte, gedruckt. Das heisst, dass das Regime, die antisemitischen Medien zumindest duldet. Wäre es anders, hätte man sie wenigstens aus den staatlichen Druckereien verbannt. Das sind Beispiele dafür, wie die Propaganda angeheizt wird, die eine Stimmung schafft, die früher oder später zum Pogrom führt.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Die Zeitung «Persönlichkeit» brachte kürzlich einen Bericht, wobei nach unbestätigten Angaben die Kampfgruppe «Betar» einen Putsch gegen Lukaschenko vorbereite. Diese Art Bericht ist äusserst geschickt, da keine Quellen genannt, aber Misstrauen und Judenhass geschürt werden. Im staatlichen Radio und Fernsehen kommen immer wieder Berichte über die «Protokolle der Weisen von Zion». Das überraschende ist, dass an dieser Propaganda auch Schriftsteller, Professoren und Intellektuelle beteiligt sind.

Gibt es für die Juden Weissrusslands längerfristig eine Zukunft?

Die ist sehr unsicher. Die meisten gehen. Nur solche wie ich harren aus.

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