JÜDISCHE RUNDSCHAU:
Wie kommt man zur Stellung eines Kommentators in Weissrussland?
SIEMION BUKCHYN:
Ich komme von der Akademie her und bin eigentlich Literaturwissenschaftler.
Ich verfasste über ein Dutzend wissenschaftliche und
populärwissenschaftliche Bücher zur russischen, weissrussischen und
polnischen Literatur und den literarischen und kulturellen Beziehungen
zwischen den drei verwandten Sprachgebieten. In den letzten zehn Jahren habe
ich mich aber vor allem als Publizist und politischer Kommentator betätigt.
Siemion Bukchyn ist dabei mein Pseudonym. Mein richtiger Name ist Samuel
Bukchyn.
Sie kommentieren also die politische
Situation in Weissrussland?
Ich bin ein gewöhnlicher Angehöriger der
«Intelligenzia». Als die Perestroika einsetzte und die Sowjetunion
zusammenbrach, hatte ich Freude an der Entwicklung, an der Öffnung und nahm
alles in Kauf, so etwa den Verlust meines Status als Wissenschaftler und
meinen Arbeitsplatz an der Akademie der Wissenschaften. Nach und nach bin
ich dann in den Journalismus hineingerutscht und arbeite heute unter anderem
für die «Belorusskaya Gazeta».
Wie ist das, als Journalist in
Weissrussland zu arbeiten? Von allen Staaten der GUS ist Weissrussland ja
einer der autokratischsten?
Ja, das stimmt, Weissrussland ist autoritär.
Die Intelligenz, Journalisten und Liberale, glaubten nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion daran, dass es möglich sei, eine Demokratie aufzubauen und
eine moderne staatliche Struktur zu schaffen. Diese Hoffnungen haben sich
leider nicht erfüllt. Man darf aber nicht einfach alles Alexander
Lukaschenko in die Schuhe schieben. Der Prozess der Demokratisierung scheint
viel länger zu gehen und viel tiefgründiger zu sein, als bisher angenommen.
Trotzdem kann man sagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung gemerkt hat, dass
die Allmacht des kommunistischen Systems nichts Gutes ist. Darum hatten wir
Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre sehr ausgiebige
antikommunistische Demonstrationen und die nationalistische weissrussische
Volksfront, die nach der Unabhängigkeit verlangte, war im Aufwind. Aber die
ökonomischen Folgen des Auseinanderfallens der Sowjetunion sind in
Weissrussland derart gravierend, dass die Leute immer apathischer werden und
sich Heimweh nach der Sowjetzeit breitgemacht hat, als die Wurst billig war
und die Wohnungen gratis, die negativen Seiten des Sowjetsystems wurden
vergessen. Dafür sieht man heute die wachsende soziale Ungleichheit.
Sind darum die Postkommunisten
heute derart stark?
Die Bezeichnung Postkommunisten ist
verharmlosend. Das Volk, das siebzig Jahre unter dem Sowjetsystem gelebt
hat, ist ein Sowjetvolk ohne jegliches «post». Da hat sich nichts geändert.
Wir können nicht innerhalb von so kurzer Zeit England, Frankreich oder die
Schweiz werden. Das Heimweh nach alten Werten kam so wieder auf und war
Wasser auf die populistischen Mühlen Lukaschenkos, der Ordnung, Wohlfahrt,
Kampf gegen Korruption und Diebstahl versprach und deshalb gewählt wurde.
Aber als Lukaschenko an der Macht war, merkte man, dass den schönen Worten
nichts konkretes folgte. Lukaschenko dehnte dafür die Macht des Staates
wieder extrem aus und schränkte Persönlichkeitsrechte ein. Und so wurden
alle, die frei denken, von Lukaschenkos als Gegner angesehen, in erster
Linie die freie Presse und liberale Politiker, die ihn kritisierten.
Wie kommt nun der Antisemitismus
in das eben Geschilderte hinein?
Es wird nun in Weissrussland die Frage
gestellt, wer ist denn überhaupt schuld an der ganzen Misere, an den
Missständen? Wer hat die Sowjetunion, in der man gut gelebt hat,
kaputtgemacht, so fragt das Volk. Auf der Suche nach den Schuldigen wurden
in der Sowjetunion seit eh und je die «Zionisten» genannt, ein Euphemismus
für Juden, für ein noch viel älteres Feindbild.
Wie äussert sich das?
Ich könnte nicht sagen, dass Lukaschenko als
Staatspräsident mit antisemitischen Reden auftreten würde. Er betonte in
einer kürzlichen Rede sogar, dass er um die Leiden und die Unterdrückung der
Juden in der Sowjetunion wisse und das solches nie mehr sein dürfe, auch
nicht in Weissrussland. Aber diese Haltung entspricht nicht unbedingt dem,
was wirklich vor sich geht. So wurde ein offenbar jüdischer Kritiker
Korrespondent des Moskauer unabhängigen Fernsehens aus dem Land geekelt. Der
Mann berichtet heute aus Jerusalem. In der gegenwärtigen Stimmung erscheinen
immer wieder sehr viele antisemitisch gefärbte Berichte und Kommentare in
den Medien, sowohl in den staatlichen als auch in den nichtstaatlichen. So
frönen zum Beispiel die staatliche Jugendzeitung «Das Banner der Jugend»,
die Zeitschrift «Slawische Sturmglocke» oder die Zeitung «Persönlichkeit»
immer wieder dem mehr oder weniger offenen Antisemitismus. «Persönlichkeit»
z.B. wird in einer staatlichen Druckerei, die man eigentlich als
Präsidentendruckerei bezeichnen könnte, gedruckt. Das heisst, dass das
Regime, die antisemitischen Medien zumindest duldet. Wäre es anders, hätte
man sie wenigstens aus den staatlichen Druckereien verbannt. Das sind
Beispiele dafür, wie die Propaganda angeheizt wird, die eine Stimmung
schafft, die früher oder später zum Pogrom führt.
Können Sie ein Beispiel dafür
nennen?
Die Zeitung «Persönlichkeit» brachte kürzlich
einen Bericht, wobei nach unbestätigten Angaben die Kampfgruppe «Betar»
einen Putsch gegen Lukaschenko vorbereite. Diese Art Bericht ist äusserst
geschickt, da keine Quellen genannt, aber Misstrauen und Judenhass geschürt
werden. Im staatlichen Radio und Fernsehen kommen immer wieder Berichte über
die «Protokolle der Weisen von Zion». Das überraschende ist, dass an dieser
Propaganda auch Schriftsteller, Professoren und Intellektuelle beteiligt
sind.
Gibt es für die Juden
Weissrusslands längerfristig eine Zukunft?
Die ist sehr unsicher. Die meisten gehen. Nur
solche wie ich harren aus.