SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder auf Israelreise:
"Bei uns ist niemand, der sich auf die Gnade der späten Geburt
beruft"
Der neuerkorene Kanzlerkandidat der SPD, Gerhard
Schröder, hält sich dieser Tage in Jerusalem auf, das er in seiner Eigenschaft
als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen schon vorher besuchte. Schröder
setzt damit nach Robin Cook und Victor Klima den Reigen prominenter Besucher
in Israel in den letzten zehn Tagen fort. Mit dem Kanzlerkandidaten, der im
Falle eines Sieges als erster Kanzler der BRD in Berlin residieren wird,
unterhielt sich für die JR Igal Avidan.
Er habe nie etwas dagegen, abends zu essen, und wenn es in
Jerusalem Menschen gebe, die den gleichen Wunsch haben, freue er sich darauf.
Es sei auch vorbereitet, dass er nicht hungrig ins Bett gehen müsse. Mit
Anspielung auf den vom britischen Außenminister Robin Cook verursachten Eclat
beantwortete der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder unsere Frage, ob er auf
seiner Israelreise auch die neue Siedlung Har Homa in Ost-Jerusalem besuchen
werde. Da «spektakuläre Aktionen» ihm fern lägen, plane er keinen Besuch in
Har Homa, so Schröder weiter. Und im gleichen Atemzug fügt er hinzu: Seine
Äußerung soll nicht als Kritik gegen Cooks Besuch verstanden werden, «aber ein
britischer oder französischer Außenminister auf Israelbesuch ist freier als
ein deutscher. Man muss die Besonderheiten, die aus der deutschen Geschichte
kommen, berücksichtigen.»
Anlass dieses Gespräches war Schröders erste Auslandsreise
als Kanzlerkandidat, die ihn ausgerechnet in den Nahen Osten brachte: Israel,
die palästinensischen Autonomiegebiete und den Libanon. Nach Israel reiste
Schröder in seiner Funktion als Bundesratspräsident, und zwar als Gast des
israelischen Parlamentsvorsitzenden Dan Tichon. Auf seinem Programm standen
Gespräche mit dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, mit dem Vorsitzenden
der Arbeitspartei, Ehud Barak, mit dem Staatspräsidenten Eser Weizman und mit
Shimon Peres. Geplant war ein Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem sowie eine
Kranzniederlegung an Yitzhak Rabins Grab und eine Begegnung mit
Palästinenserchef Jassir Arafat.
Am 25. März fuhr Schröder mit einer Wirtschaftsdelegation
nach Beirut. Energisch und selbstbewusst übertrug Schröder zu Beginn seine
Botschaft:
Er stehe weiterhin für die besonderen deutsch-israelischen
Beziehungen, kritisierte jedoch die israelische Siedlungspolitik. Er sehe
«relativ wenig Unterschiede» zwischen der Israelpolitik der Bundesregierung
und der der SPD, so Schröder. «In diesem Thema gibt es viel Kontinuität.»
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Welche Bedeutung hat diese
Israelreise für Sie?
GERHARD SCHRÖDER: Ich habe Dan Tichons Einladung sehr gerne
angenommen, weil ich auch in meiner neuen Funktion deutlich machen wollte,
welche Bedeutung für mich das deutsch-israelische Verhältnis hat. Es ist
üblich, dass der Bundesratspräsident zu Anfang seiner einjährigen Amtsperiode
in die Niederlande geht, das ist eine alte Tradition. Das werde ich aber an
zweiter Stelle tun. Ich wollte aber zuerst nach Israel reisen, um für mich und
für Politiker meiner Generation auszudrücken, dass wir uns schon der
historischen Bedeutung des deutsch-israelischen Verhältnisses bewusst sind.
Bei uns ist niemand, der sich auf die «Gnade der späten Geburt» beruft. Obwohl
ich noch später geboren bin, glaube ich nicht, dass man sich darauf berufen
soll, sondern es gibt historisch begründete Besonderheiten, die jeder
verantwortliche Politiker in Deutschland sehen muss. Man muss nicht alles gut
finden, was es in der israelischen Politik gibt. Gerade wenn man sich der
besonderen Bedeutung bewusst ist, erwirbt man sich auch das Recht, eine eigene
Meinung zu haben, und die sollte möglichst unspektakulär ausgedrückt werden,
aber sie sollte schon ausgedrückt werden. Denn was haben Begegnungen für einen
Sinn, wenn man nicht freimütig miteinander reden kann?
Wo liegt der Schwerpunkt dieses Besuches?
Es wird darum gehen, deutlich zu machen, welche Bedeutung
die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel einerseits,
aber auch der EU und Israel anderseits haben.
Wie stehen Sie zur israelischen Siedlungspolitik?
Ich wäre glücklich gewesen, wenn man die zurückhaltendere
Politik von Rabin und Peres weitergeführt hätte. Das will ich in den
Gesprächen in Israel sehr deutlich sagen, aber ich will es nicht durch
spektakuläre Besuche ergänzen.
Welche Rolle kann die EU als Vermittler im
Nahost-Friedensprozess spielen?
Ich glaube, dass die EU eine geschlossene Position zum
Friedensprozess hat. Die EU kann mehr ein Partner sein, der die
wirtschaftliche Entwicklung in Israel und in Palästina unterstützt und weniger
sich als Vermittler einschalten. Wenn der Friedensprozess Erfolg haben soll,
dann braucht er ökonomische Unterstützung, d.h. eine ökonomische
Zusammenarbeit. Umgekehrt aber braucht die ökonomische Zusammenarbeit den
Friedensprozess.
Und Sie selbst sind am Magnesiumwerk am Toten Meer
indirekt beteiligt?
Wir (das Land Niedersachsen) sind bei Volkswagen ein
bisschen beteiligt, weil wir glauben, dass der Friedensprozess sich nicht im
leeren Raum entwickelt, sondern dass das unterstützt werden muss durch intakte
ökonomische Zusammenarbeit.
Werden Sie einen israelischen Rückzug aus dem Südlibanon
unterstützen im Gegenzug zu libanesischen Sicherheitsgarantien?
Ich möchte hören, wie die israelische und die libanesische
Seite darüber denken, denn ich habe dazu keine abgeschlossene Meinung. Alles,
was die friedliche Koexistenz unterstützt, ist ein sinnvoller Einsatz.
Werden Sie von Jerusalem nach Beirut eine persönliche
Mitteilung von Netanyahu mittragen?
Ich bin ja kein Briefträger, und ich bin ziemlich sicher,
dass wenn der israelische Premierminister mit dem libanesischen etwas zu
besprechen hat, dass er mich dazu nicht braucht. Ich überschätze meine Rolle
nicht.
Wie interpretieren Sie die besondere Verantwortung
Deutschlands zu Israel?
Deutschland muss sich bewusst sein, dass es das besondere
Sicherheitsinteresse Israels zur Kenntnis nehmen muss. Ich glaube, dass die
Besonderheit der deutsch-israelischen Beziehungen auch bei den führenden
Politikern der Grünen ganz ähnlich ist.
Ihr Vater ist 1944 im Zweiten Weltkrieg gefallen. Welche
Rolle spielte diese Tatsache bei Ihrer politischen Entwicklung? Ist das
vielleicht der Grund, warum Sie kein Aktivist der 68er-Generation waren?
Mein Vater ist drei Tage nach meiner Geburt auf dem Rückzug
der deutschen Truppen auf dem Balkan gefallen, und aus diesem Grund habe ich
ihn nie kennengelernt. Natürlich wurde meine Haltung zum Krieg dadurch
geprägt, aber das ist viel später gekommen. Sie ist dann verstärkt worden, als
auch mein Stiefvater Mitte der 60er Jahre als späte Folge des Krieges
gestorben ist. Also, ich weiß sehr persönlich, was Krieg bedeuten kann.
Interessanterweise habe ich der Vätergeneration keine Vorwürfe gemacht. Als
ich in den 60er Jahren zu studieren begann, hatte ich bereits nach der
Volksschule eine Zeit als kaufmännischer Angestellter und als Bauhilfsarbeiter
hinter mir. Ich habe das Studium als ein ungeheures Privileg begriffen. Ich
musste nicht um sieben aufstehen, um zur Arbeit zu fahren, und um sieben
abends zurück (samstags arbeitete ich nur bis vier Uhr), sondern ich war auf
einmal Herr meiner eigenen Zeit. Die ersten vier Wochen bin ich morgens um
acht in die Vorlesungen gegangen, aber danach habe ich nur noch bis zwölf
geschlafen und habe das richtig genossen. Solche einfachen Dinge haben bei mir
verhindert, dass ich einer der Aktivisten der Studentenbewegung wurde. Ich war
dieser Gesellschaft nicht undankbar dafür, dass ich studieren konnte. Ich bin
von der 68er-Bewegung beeinflusst worden, aber ich war nicht ihr Teil.

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