INTERVIEW/HISTORIKERKOMMISSION - Im Gespräch mit
UEK-Mitglied Jacques Picard
«Immer wieder eine neue Freiheit des Denkens gewinnen»
Seit seiner Wahl zum Mitglied und
Forschungsleiter der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg
(UEK) gab Jacques Picard keine Auskünfte über seine Arbeit und jene der
Kommission. Im ersten substantiellen Interview, exklusiv für die JR,
beantwortet er Fragen zum Goldbericht und zieht Schlüsse daraus. Er gibt auch
Auskunft über die weiteren Forschungsschwerpunkte der UEK.
Jüdische Rundschau: Jacques Picard,
der erste Zwischenbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter
Weltkrieg (UEK) ist veröffentlicht. Sie sind der Forschungsleiter der UEK -
sind Sie mit der Arbeit zufrieden?
Jacques Picard: Ein Wissenschafter ist
von Natur aus nie ganz zufrieden mit seiner Aussage, weil er damit auch neue
Fragen und Problemstellungen verbindet. Sehr zufrieden bin ich allerdings,
dass wir jetzt nach der Präsentation unseres Zwischenberichts mit neuen
Perspektiven weiterarbeiten. Die Frage der Goldtransaktionen zwischen der
Schweiz und NS-Deutschland stellen zwar ein in sich geschlossenes komplexes
Gebilde dar, aber sie sind mit anderen Themenkreisen notwendigerweise eng
verknüpft.
An welche denken Sie?
Vier Fünftel aller Goldlieferungen wickelte die
Reichsbank während des Zweiten Weltkriegs über die Schweiz ab. Die anhaltende
Devisenknappheit veranlasste Deutschland dazu, Gold gegen Devisen zu tauschen.
Wichtige Rohstoffe und Güter, die kriegswirtschaftlich relevant waren, konnten
damit aus Drittstaaten, wie Portugal oder Rumänien, eingekauft werden.
Deutschland benötigte also Gold und konvertierbare Devisen, um seinen
Güterbedarf zu decken. Damit ergibt sich eine Schnittstelle zur
Handelspolitik, von der her sich die Frage stellt, wie die Schweiz
realwirtschaftlich, durch ihre Leistungen an NS-Deutschland, in das globale
Kriegsgeschehen verwickelt gewesen ist. Im Zentrum dieser Frage steht das
Funktionieren des sogenannten Clearings, das weniger abwicklungstechnisch,
sondern als politisch nützliches Instrumentarium zu verstehen ist.
Verlängerte demnach die Schweiz
durch ihre wirtschaftlichen Leistungen an NS-Deutschland tatsächlich den
Krieg, wie es der amerikanische Unterstaatssekretär Stuart B. Eizenstat und
auch Jean Ziegler vor einem Jahr postulierten?
Die These der Kriegsverlängerung erscheint mir
eine allzu verkürzte Fragestellung zu sein, weil damit zahlreiche Variabeln
und ungenügend bekannte Faktoren einbezogen werden. Diese These mag als Frage
interessant erscheinen, lässt sich aber in ernsthafter Absicht so kaum
beantworten. Klar ist einzig, dass diese These sich nicht auf die Schweiz
verengen lässt, sondern alle Staaten, die zu einem gewissen Zeitpunkt mit
Deutschland Handel trieben, erfassen müsste. Also anders formuliert: Der
Drehscheiben-Mechanismus der Schweiz war für NS-Deutschland von hoher
Bedeutung, weil er kriegswirtschaftlich wichtig war.
Was hat bei Ihnen der Goldbericht im
weiteren an Fragen ausgelöst?
Erstaunlich ist zum Beispiel, dass die
Schweizerische Nationalbank (SNB) bis kurz vor Kriegsende Gold entgegennahm,
um Forderungen schweizerischer Finanzgläubiger abzugelten. Erstaunlich -
weniger aus schweizerischer Optik, sondern aus deutscher Perspektive. Welche
Motive hatten die deutschen Schuldner in einer Phase der Agonie des Dritten
Reiches überhaupt noch den schweizerischen Forderungen aus dem Finanzzahlungs-
und Warenkostenverkehr nachzukommen? Welche Erwartungen wurden deutscherseits
daran geknüpft? Daraus erhellt sich, dass die Problemstellungen der Forschung
mit dem Kriegsende von 1945 nicht erledigt sein können.
Welche Themenkreise leiten Sie
demnach als weiterführende Fragen aus dem Goldbericht her?
Besonders wichtig ist die Frage nach
NS-Fluchtkapitalien während des Krieges und erst recht nach dem Krieg. Gerade
beim Opfergold stehen wir vor der Frage, ob solche Werte auch in
privatisierten Formen abflossen und nicht nur über staatliche Kanäle verwertet
wurden. Im Konzentrationslager Auschwitz gab es zum Beispiel Prozesse und
Verfahren gegen SS-Leute, die von Deportierten und Ermordeten geraubte Güter
in die eigene Tasche wirtschafteten. Demgegenüber war das sogenannte
«Melmer-Konto» bei der Reichsbank, also der Abfluss von geraubtem Opfergold
durch den SS-Hauptsturmführer Bruno Melmer, ein staatlicher Plünderungsakt,
bei dem Gold in den Pool der Reichsbank eingeliefert und dort verschmolzen
wurde.
Sprechen Sie bei den privatisierten
Raubformen den Schwarzmarkt an?
Der Schwarzmarkt ist als ein relativ
klandestiner Vorgang sehr schwierig zu rekonstruieren. Damit stellt sich
allerdings die Frage, wie weit geraubte Vermögenswerte anderer Art, nicht nur
Gold, über private oder staatliche Kanäle abgeflossen sein könnten. Obwohl
Gold einen hohen symbolischen Wert besitzt, ist es wichtig zu wissen, ob, wie
und in welchem Ausmass nicht auch andere Raubvermögenswerte ausserhalb des
NS-Marktbereichs verwertet wurden. Spezifisch spreche ich von «Arisierungen»
im finanziellen und industriellen Bereich, von Kulturgütern und Raubkunst, die
ebenfalls eine gewisse Symbolik vermitteln. Beteiligte am Raub dieser Werte
können Private oder auch offizielle Stellen gewesen sein.
Waren alle Kommissionsmitglieder
einverstanden mit dem Inhalt und den Schlussfolgerungen des
Gold-Zwischenberichts?
Er wurde in einem konsensualen Verfahren
verabschiedet. Kein einziges Kommissionsmitglied sprach sich gegen diesen
Bericht aus.
Vor der Veröffentlichung schrieb
das Magazin «Facts», auf Wunsch von Wirtschaftskreisen seien ganze, heikle
Passagen eliminiert worden.Trifft dies zu?
Nein. Was wir erarbeiten und was unser
Kenntnisstand ist, das wird auch publiziert. Wir erwarten von öffentlichen und
privaten Stellen, die von der Untersuchung betroffen sind, dass sie uns auch
ihren Stand der Kenntnisse zur Verfügung stellen, so dass wir von Anfang an
mit deren Einsichten konfrontiert werden.
Was ist neu an den Einsichten der
Kommission? Was hebt den Goldbericht von früheren Einsichten ab?
Neu ist zunächst, dass wir fünf Kategorien
definieren, welche auf die Herkunftsseite des Goldes abstellen. Dabei werden
drei Kategorien unterschieden, die sich übergreifend als Raubgold bezeichnen
lassen. Diese Systematik ist zwar qualitativ zu verstehen und nicht in
quantitativer Hinsicht. Es wird eine Benennung geschaffen, die nach dem Krieg
von der Tripartite Gold Commission der West-Alliierten unterlassen wurde. Auf
diese Weise wird deutlich, dass es begrifflich nicht nur um die Frage der
Kriegsreparationen, sondern auch um jene der Opferrestitutionen gehen musste.
Als zweites sind die systematische Erfassung und transparente Kommentierung
der Zahlen zu nennen. Damit wird ein Instrumentarium für interessierte
Forscher und Forscherinnen geschaffen, das hilfreich sein kann. Schliesslich
sind neu die eigentlichen Resultate, insbesondere die Evaluation der von der
Schweizerischen Nationalbank verwendeten Rechtfertigungsargumente und die
Einflussnahme von privater Seite, um bei der SNB zu erreichen, dass auch in
den letzten Monaten vor Kriegsende Gold entgegengenommen wurde.
Die Resultate Ihres
Gold-Zwischenberichts wurden vor allem in den USA mit Spannung erwartet, weil
sie die «Globallösung» zwischen Schweizer Grossbanken, jüdischen
Sammelklage-Anwälten und dem Jüdischen Weltkongress beeinflussen sollten. Auch
eine vorbereitete Sammelklage gegen die Nationalbank sollte davon abhängen.
Muss nun das Washingtoner Abkommen von 1946 neu verhandelt werden?
Zu diesen politischen Fragen, die das Umfeld
der Kommission direkt oder indirekt berühren, was bei der Globallösung ganz
entschieden der Fall ist, nehme ich öffentlich keine Stellung.
Wie gestaltet sich die
Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Kommissionsmitgliedern, die ja teilweise
weit entfernt voneinander wohnen und arbeiten? Federführend beim vorliegenden
Bericht sind Harold James, Jakob Tanner sowie Sie selber gewesen. Kümmert sich
jedes Kommissionsmitglied um eine bestimmte Thematik?
Es ist arbeitsökonomisch vernünftig, dass
innerhalb der Kommission die unterschiedlichen Bereiche und Projekte jeweils
Kommissionsmitgliedern zu zweit oder zu dritt zugeordnet werden. Das gilt
nicht nur für den Goldbericht, sondern auch für alle anderen Hauptthemen.
Sobald aber ein Bericht erarbeitet ist, liegt es an jenen zuständigen
Mitgliedern, darüber in der Gesamtkommission zu referieren. Nur so können wir
effektiv auch einen Mehrwert an Kompetenzen erhalten und gleichzeitig
effizient arbeiten.
Ist es denn kein Nachteil, dass die
Mitglieder über die halbe Welt verstreut sind?
Natürlich schafft dies Probleme, die aber heute
im Zeitalter von E-Mail, Fax und Telefon keine mehr sind. Der
Kommunikationsabstand zwischen der Schweiz und England ist nicht grösser als
jener zwischen Bern und Zürich. Hingegen war das Vorhandensein
unterschiedlicher wissenschaftlicher Kulturen teilweise neu für mich. Sie
führen dazu, dass ein erheblicher Mehrwert an Perspektivierungen geschaffen
wird, es aber auch einen grossen Lernprozess erfordert, miteinander zu
kommunizieren. Das ist im Grunde genommen eine Globalisierung der bisher
bekannten schweizerischen Erfahrung, wenn etwa zwischen Romands und
Deutschschweizern oder zwischen zwei divergierenden Forschungszugängen die
Verständigung gesucht werden muss.
Aufgrund der internationalen
Zusammensetzung der Kommission stellen sich Fragen, die aus einer
Binnenperspektive erst gar nicht bewusst werden können.
Genau das ist ein spannungsreicher und
fruchtbarer Prozess, in dem ich mich persönlich wohl fühle, weil es zu meiner
eigenen Erfahrung gehört, mit unterschiedlichen Sensibilitäten umgehen zu
können.
Welches ist Ihre Aufgabe als
Forschungsleiter?
Es geht darum, die forschungspolitischen Ziele
der Kommission so zu strukturieren, dass sie in der konkreten Arbeit umgesetzt
werden können. Gleichzeitig bringe ich zahlreiche Impulse der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in die Kommission ein, denn ich erwarte von den Forschern und
Forscherinnnen, dass sie nicht nur Ausführende sind, sondern sehr viel
wissenschaftliche Selbstinitiative und Kreativität entwickeln. Meine
Philosophie ist, dass es dies braucht, denn wir müssen nachvollziehbare Arbeit
leisten. Wenn das zustandekommen soll, sind die Mitarbeitenden das eigentliche
Kapital. Als Mitglied und Forschungsleiter der Kommission bin ich das
vermittelnde Band zwischen der Kommission und den wissenschaftlichen
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Ich orientiere über den Stand der Forschung
und die damit verbundenen Schwierigkeiten, stelle Verbindungen her zwischen
Kommissionsmitgliedern und einzelnen Forscherteams. Andererseits vermittle ich
Inputs der Kommission in die Teams hinein und begleite sie bei ihrer
Forschung.
Wie sind die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen der Forschung organisiert?
Wenn ich Kreativität oder guten
wissenschaftlichen Geist bei den Forscherinnen und Forschern ermöglichen will,
dann muss ich auf drei Voraussetzungen abstellen können: Es braucht kleine
Teams, die an Themen orientiert arbeiten. Sie müssen einerseits in ihrem
Bereich gute Projekte erarbeiten und andererseits unter zeitlichem Druck auf
die Realisierung dieser Projekte hinstreben. Es benötigt eine klare
Vorstellung, was sich aus dem gegebenen Mandat im einzelnen machen lässt, und
den Willen, mit grossem Engagement das Vorgenommene zu realisieren, und zwar
im Teamwork. Für Historiker und Historikerinnen liegt wie für jeden anderen
Geisteswissenschafter die Schwierigkeit, aber auch die grosse Chance darin,
dass er zwar auf universitärem Weg zu einem Einzelgänger ausgebildet worden
ist, der sich seine Zeit selber einteilen kann, sich jetzt in der
Kommissionsarbeit jedoch mental umstellen und in kleine Teams einfügen soll,
die solidarisch und sehr zielorientiert arbeiten müssen. Bei Ingenieuren und
Naturwissenschaftlern ist hingegen diese Arbeitsweise von Anfang an Teil der
Ausbildung. Auch unsere Kommission kann daher nicht auf einer einsamen Wolke
thronen.
Heisst das, dass die gewählten
Kommissionsmitglieder aktiv an der eigentlichen Forschungsarbeit teilnehmen?
Die eigentliche Forschung wird von den
wissenschaftlichen Mitarbeitern getragen. Die grosse Chance sehe ich als
Forschungsleiter darin, dass auf diese Weise über das Ende der Kommission
hinaus später einmal zahlreiche Forscher und Forscherinnen auf dem Platz sein
werden, die wichtige Projekte in neuen Dimensionen erarbeiten könnten. Wir
schaffen für die Schweiz einen Kompetenzfundus im Bereich von Wirtschafts- und
Finanzgeschichte, welche entschieden transnational zu verstehen ist, sowie der
Geschichte des NS-Regimes und der Holocaust-Forschung. Die
Kommissionsmitglieder sind in der Situation, sich mit den jungen Forschern und
Forscherinnen substantiell auseinandersetzen zu müssen, was allerdings auch
auf unterschiedliche Art passiert. Die Verantwortung für den jeweils auf diese
Weise erarbeiteten Bericht trägt jedoch die Kommission als Ganzes. Die
entscheidende Funktion des Präsidenten ist es dabei, seine Kommission nach
aussen, gegenüber Behörden und Unternehmen, unbeugsam und mit der nötigen
Klarheit zu vertreten.
Kommen wir auf den Goldbericht
zurück: Wieso gab es so viele Verspätungen?
Es gab keine Verspätungen. Das Problem liegt in
den verfehlten zeitlichen Ankündigungen, die seit unserer ersten Besprechung
im März 1997 in Umlauf kamen.
Wie geht es jetzt weiter?
Es wurde angekündigt, der Goldbericht, der
heute, am 18. Juni, als Broschüre und im Internet veröffentlicht wird, solle
dann bereits in Teilen überarbeitet sein.
Wird er auch neue Fakten enthalten?
Der im Mai publizierten Version wird in der
Broschüre und im Internet nichts mehr hinzugefügt, das wesentlich wäre und
über Präzisierungen hinausginge. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns im
Hinblick auf den Schlussbericht im Sinn von «work in progress» nicht weiterhin
mit der Frage der Gold- und Devisenpolitik auseinandersetzen.
Der etwas später publizierte
Eizenstat-Bericht II enthält andere Zahlen über das Opfergold als Ihr Bericht.
Standen seinem Team bessere oder zumindest andere Unterlagen zur Verfügung?
Im jüngst vorgelegten Eizenstat-Bericht II
werden in der Tat andere Zahlen über das von der SS an die Reichsbank
abgeführte Gold präsentiert, und zwar hinsichtlich jenes Teils des
Opfergoldes, das nach der bei der SS dafür zuständigen Person Melmer-Gold
genannt wird. Die Quellenlage für dieses sogenannte Melmer-Gold ist und bleibt
mangelhaft. Originale der Melmer-Akten sind nicht mehr verfügbar. Unsere
Kommission benutzte für die Analyse der Goldlieferungen der SS an die
Reichsbank unter anderen auch Dokumente der amerikanischen Militärregierung,
die auf den verschollenen Originalunterlagen beruhen. Die Mitarbeiter am
zweiten Eizenstat-Bericht standen vor dem gleichen Problem und griffen auf
eine andere Quelle zurück, nämlich auf eine Aufstellung, die ein ehemaliger
Reichsbankbeamter, Albert Thoms, nach dem Krieg vornahm und von welcher der
Wiener Herzog in den fünfziger Jahren Kopien anfertigte. Anders gesagt: Die
unterschiedlichen Quellen für beide aktuellen Berichte sind an sich schon
kritisch zu hinterfragen. Das erklärt noch nicht die unterschiedlichen Zahlen,
die zwischen dem zweiten Eizenstat-Bericht, unserem Bericht und den
Schätzungen des deutschen Forschers Hersch Fischler sowie des amerikanischen
Ökonomen Zabludoff im Auftrag des Jüdischen Weltkongresses angestellt wurden.
Unser Bericht nennt 2,9 Millionen Dollar für das komplette Melmer-Konto,
Eizenstat 4,6 Millionen, Fischler 3 Millionen, Zabludoff 4 Millionen.
Welche Zahl stimmt denn nun, jene
der UEK oder jene des zweiten Eizenstat-Berichts?
Die jeweils errechneten Summen setzen sich aus
verschiedenen Teilbeträgen, die in den Quellen als Aufstellungen erkennbar
sind, zusammen. Solche Teilbeträge können Goldbarren, Goldmünzen,
Silberbarren, Zahngold oder Devisen umfassen. Obwohl verschiedene Quellen und
auch verschiedene Teilbeträge zugrunde liegen, muss doch gesagt werden, dass
es bei den im zweiten Eizenstat-Bericht addierten Summen möglicherweise eine
doppelte Zählung gegeben hat.
Bestanden und bestehen Kontakte zur
Historikergruppe des Eizenstat-Berichts?
Es gibt ein freundliches Verhältnis, aber
keinen Austausch von Forschungsergebnissen. Wir trafen uns im Sommer 1997 in
Ascona auf dem Monte Verità mit Historikern aus den unterschiedlichen
Kommissionen, um zu sehen, wo gemeinsame Forschungsbereiche vorhanden sind und
wo Mandate der einzelnen Kommissionen auseinandergehen. Nebst Verantwortlichen
und Forschenden der verschiedenen europäischen Staaten und Argentiniens nahmen
auch die an den Eizenstat-Berichten beteiligten Historiker teil. Seit damals
herrschen ein guter Geist und gegenseitiger Respekt im Wissen darum, dass
historische Forschung immer auch eine gemeinsame Aufgabe wird sein müssen.
Alan Morris Schom, den Simon
Wiesenthal als «Hobby-Historiker» bezeichnet, hatte jedoch keinen Kontakt mit
Ihnen, sondern missbrauchte offensichtlich Ihren Namen und Ihre Funktion zur
Schmückung seiner eigenen dürftigen, polemischen Arbeit über nazifreundliche
Gruppen in der Schweiz der Kriegsjahre. Sie haben sich bereits mit aller
Deutlichkeit von dieser Arbeit distanziert…
Ich nehme zu inhaltlichen Aussagen keine
Stellung, zumal dieser Bericht auch nichts enthält, das nicht schon bekannt
wäre. Im übrigen erinnere ich an ein Sprichwort aus der jüdischen Tradition:
«Eine halbe Wahrheit ist oft eine ganze Lüge.» Was nun die missbräuchliche
Verwendung meines Namens anbelangt, so ist es offensichtlich, dass es sich
hier um den Versuch eines Trittbrettfahrers handelt.
Welche Ergebnisse der bisherigen
Forschung der UEK hat Sie persönlich am meisten erstaunt oder betroffen
gemacht?
Durchgängig bringt mich zum Erstaunen die
Haltung von damaligen Akteuren wie auch von heutigen Zeitgenossen gegenüber
der Tatsache, dass der NS-Staat ein verbrecherisches Unrechtsregime war. Nach
Hitlers Machtergreifung wurde bald deutlich, dass der sogenannte Führerstaat
mit seinen Sondergesetzen ein Terror-Regime war, das einzelne Menschen und
Gruppen diskriminierte und verfolgte. Während des Kriegs zeigte sich
zunehmend, dass das NS-Regime einen eigentlichen Raub-, Plünderungs- und
Vernichtungsfeldzug in Europa plante und durchführte. Mühe bereitet mir die
Tatsache, dass dies mehr und mehr Leute wissen und erkennen konnten, aber im
Grund nicht wissen und erkennen wollten. Die Frage nach den Gründen für diese
teilweise Verblendung gegenüber einem System, das in seiner eigenen Normalität
letztlich höchst banal war, beschäftigt jeden Historiker. Auch heutige
Zeitgenossen sind manchmal nicht bereit, sich mit dieser Banalität und
Abgründigkeit der Vorgänge im NS-Staat auseinanderzusetzen, sondern ziehen vor
diese geschichtliche Realität vornehm den Vorhang der Neutralität.
Wie geht ein Historiker mit Fakten
um, die ihn als Menschen persönlich stark berühren?
Ich beobachte es nicht nur an mir, sondern auch
bei Kollegen und Kolleginnen häufig: Wenn wir uns mit Realitäten aus der
Vergangenheit auseinandersetzen, kommen wir nicht darum herum, selber einen
intensiven Prozess der Reflexion zu durchlaufen. Wer das nicht macht, wird der
Gefangene vergangener Chimären, gerade auch als Historiker. Für mich ist
entscheidend, diese Bewusstseinsprozesse in einer Weise anzugehen, bei der ich
gegenüber der Vergangenheit, aber aufgrund der Auseinandersetzung mit ihr,
auch immer wieder eine neue Freiheit im Denken gewinnen kann.
Damit unterscheiden Sie zwischen
historischer Wahrheit und persönlicher Klarheit.Wie gewichten Sie diese beiden
Pole?
Der Begriff Wahrheit ist schwieriger
durch den Umstand, dass niemand Wahrheiten für sich in Anspruch nehmen kann.
«Wahrheit» setzt immer voraus, dass man um sie ringt, sich ihr ein Stück weit
nähert, aber sie niemals umfassend definieren kann. Die Suche nach Wahrheit
ist immer von zahlreichen psychischen und sozialen Faktoren abhängig, die
ebenfalls betrachtet und durchschaut werden müssen. Deshalb bevorzuge ich den
Begriff Wahrheit, während das Wort Klarheit suggeriert, dass nachher alles
klar und damit vom Tisch wäre. Diesen Anspruch gibt es in der Forschung nicht
- obwohl ich anerkenne, dass in der Forschung bezüglich deren Grenzen Klarheit
geschaffen werden soll. Professor Bergier kündigte die Zwischenberichte über
das Gold und die Flüchtlingspolitik als einzige Zwischenberichte vor dem
Schlussrapport von 2001 an. Der Auftrag des Bundesbeschlusses umfasst jedoch
sämtliche Aspekte der Wirtschaftsbeziehungen zwischen NS-Deutschland und der
Schweiz.
Nach dem Zwischenbericht zur Flüchtlingspolitik sind keine weiteren
Zwischenberichte zu erwarten. Die Kommission will sich im Hinblick auf den
Schlussbericht auf die weiteren Bereiche konzentrieren können, die sie bis
heute wegen der Anstrengungen für den Goldbericht noch nicht oder zu wenig
bearbeiten konnte.
Welche weiteren Bereiche?
Ich habe darauf hingewiesen: Themenkreise wie
die «Arisierungen» und Fluchtkapitalien, NS-Absetzbewegungen, Raubkunst und
kriegswirtschaftlich relevante Leistungen der Schweiz an NS-Deutschland. Wir
werden dies sehr gezielt angehen müssen und benötigen konzentrierte Arbeit, um
unser Mandat zu erfüllen.
Es gibt Leute, auch Historiker, die
die Kommission eine «staatlich eingesetzte Kommission» nennen und sie deshalb
argwöhnisch beobachten. Befürchten Sie, dass es der Kommission ähnlich ergehen
könnte wie den Professoren Ludwig und Bonjour, die nicht alles publizieren
durften?
Der Unterschied ist augenfällig. Er besteht
darin, dass es sich diesmal nicht um einen Einzelbeauftragten handelt, sondern
um eine international zusammengesetzte Kommission. Nicht ein einziges Mitglied
der Kommission, auch ich nicht, zweifelt daran, dass der Schlussbericht durch
den Bundesrat vollumfänglich publiziert wird.
Professor Bergier sagte an der
Präsentation, der Goldbericht sei kein politischer Bericht, die politischen
Schlüsse müssten andere Gremien ziehen. Welche Aufgabe sehen Sie in Ihrer
Arbeit?
Wir machen keine Politik. Wir haben gute und
nachvollziehbare Forschungsarbeit zu leisten. Selbstverständlich ist jede
historische Arbeit eine Aussage über politische Vergangenheiten, und das wird
niemals in einem wertfreien Raum erforscht und vermittelt werden können.
Deshalb geht es nicht an, dass man Bewertungen über eine Vergangenheit ohne
Berücksichtigung des Verständnisses der damaligen Zeitgenossen vornimmt. Nicht
als blossen Nachvollzug dieser Sicht, sondern als Evaluation der
Voraussetzungen und Motive, die deren Denken und Handeln prägten. Gleichzeitig
sind die damaligen Spielräume und Handlungsmöglichkeiten zu analysieren,
unbesehen davon, welche Entscheide getroffen oder eben nicht getroffen wurden.
Wir setzen uns also nicht nur mit den Fakten auseinander, sondern ebenso mit
der Frage, in welchen Erwartungshorizonten sich die Zeitgenossen bewegten oder
bewegen liessen. Wir interessieren uns demnach auch für die damaligen
Zukunftsvorstellungen, die sich später als Realität oder als Illusion
erwiesen.
Und wie steht es mit moralischen,
ethischen Wertungen? Dürfen, sollen sie in die Berichte einfliessen oder
nicht?
Es geht nicht darum, nachträglich
damaliges Geschehen moralisch zu bewerten, sondern es geht darum, zu fragen,
nach welchen Vorstellungen ethischer Natur damals Entscheid- und
Verantwortungsträger handelten oder es unterliessen, angemessen zu handeln.
Das ist die Arbeit eines Historikers, der zu sich selbst wie zu den damaligen
Vorgängen eine genügende Distanz wahren will.
Interview Gisela Blau