WIEN/INTERVIEW - Mit Ariel Muzicant betritt in der 
  Israelitischen Kultusgemeinde die Nachkriegsgeneration die Bühne
  
  «Ich glaube nicht, dass Täter das Recht haben, den 
  Schlussstrich zu verlangen»
  
  Ariel Muzicant ist der neue Präsident 
  der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG). 1952 wurde er in Haifa geboren 
  und lebt seit seinem vierten Lebensjahr in Wien. 1976 promovierte er als 
  Mediziner, trat in das väterliche Immobilienmaklerbüro ein, das er zu einem 
  der erfolgreichsten in Österreich ausbauen konnte. Zuletzt wirkte Muzicant als 
  Bauherr eines der neu errichteten Bürohochhäuser am Stadtbild Wiens 
  entscheidend mit. Zahlreiche Funktionen nahm er in jüdischen Organisationen 
  und in der IKG (zuletzt als Vizepräsident), im Aufsichtsrat des jüdischen 
  Museums der Stadt Wien und als Präsident der Bnai-Brith-Zwi-Perez-Chajes-Loge 
  in Wien ein. Bei den IKG-Wahlen im März wurde Muzicants Liste «Atid» 
  stimmenstärkste Fraktion, in einer stundenlangen Marathonsitzung wurde er im 
  dritten Wahlvorgang mit knapper Mehrheit von 13:11 Stimmen als Nachfolger von 
  Paul Grosz zum Präsidenten der IKG gewählt. Mit Ariel Muzicant sprach Anton 
  Legerer. 
  
  J!UDISCHE RUNDSCHAU: Herr 
  Dr. Muzicant, Sie sind promovierter Mediziner, Sie sind als Immobilienmakler 
  und Bauherr in Wien erfolgreich, und seit rund einem Monat sind Sie Präsident 
  der Israelitischen Kultusgemeinde: Warum tun Sie sich diese zusätzliche 
  Belastung an? 
  ARIEL MUZICANT: Meine Aktivitäten 
  in der IKG sind nicht überraschend oder zufällig, weil ich im Rahmen der 
  Gemeinde schon seit rund 28 Jahren in verschiedenen Funktionen gearbeitet 
  habe, das Amt des Vizepräsidenten habe ich rund 18 Jahre lang ausgeübt. Dass 
  ich als Präsident der IKG mein Engagement noch verstärke, liegt darin, dass 
  ich die Möglichkeit sehe, für meine Gemeindemitglieder noch mehr zu tun, etwas 
  weiterzubringen. So habe ich für meine Amtszeit drei Schwerpunkte gesetzt: als 
  erstes ist das Schlagwort «Bürgernähe» zu nennen, dabei geht es mir um das 
  Näherrücken an die Menschen, das betrifft alle Institutionen und 
  Verwaltungsbereiche der IKG. Die Kultusgemeinde soll weniger Amt, dafür mehr 
  Servicestelle sein. Das beinhaltet auch eine Reform der Statuten und der 
  Verwaltung. Die heutige Geschäftsordnung der IKG stammt aus dem 19. 
  Jahrhundert, und da ist es an der Zeit, dass wir uns an das 21. Jahrhundert 
  anpassen. Zweitens möchte ich die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde 
  verstärken. Das betrifft vor allem die jüdischen Belange, erstreckt sich aber 
  auch auf manche Fragen der Menschenrechte, wie Ausländerfeindlichkeit und 
  ähnliche Themen, zu denen sich die Kultusgemeinde in der Öffentlichkeit 
  äussern sollte. Der dritte Schwerpunkt betrifft die Arbeit mit der Jugend, wir 
  müssen uns um die Errichtung eines Sportplatzes und eines Freizeitzentrums 
  sowie von Jugendklubs für unsere Kinder bemühen. Dabei geht es mir auch um die 
  Stärkung des jüdischen Bewusstseins. 
  
  Sie sind der erste Präsident der 
  IKG, der erstens in Israel und zweitens nach der Schoa geboren wurde. 
  Inwieweit unterscheidet Sie das in Ihrer Persönlichkeit von der Generation vor 
  Ihnen? 
  Der wesentliche Unterschied ist sicher, 
  dass die Eltern- und Grosselterngeneration von der Schoa nichts mehr hören und 
  in Ruhe gelassen werden wollte. Während meine Generation die Wut im Bauch hat 
  und fragt: «Wie konnte das passieren, und wie konnte auch nach 1945 weiterhin 
  Unrecht geschehen?» In dieser Hinsicht möchte ich das Auftreten der IKG ändern 
  und von österreichischen Politikern verlangen, sich mit der Geschichte 
  auseinanderzusetzen…
  
  …selbstbewusster und fordernder…?
  
  Ja, selbstbewusster und fordernder, wobei 
  wir sachlich diskutieren wollen und verlangen, dass eine Aufarbeitung erfolgt 
  und nicht weiter unter den Teppich gekehrt wird. Die Schweiz ist für die 
  österreichische Regierung und offizielle Stellen in dieser Hinsicht ein 
  Musterbeispiel, wie man mit der Geschichte nicht umgehen soll. In die 
  Situation der Schweiz sollte Österreich nicht kommen. Als positives Beispiel 
  kann ich da etwa die Ministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten 
  anführen, die anlässlich der Beschlagnahme der Schiele-Gemälde in New York 
  eine umfassende Recherche in allen Museen angeordet hat. Dass man es nicht bei 
  den beiden Schiele-Bildern belassen hatte, sondern eine umfassende Aufklärung 
  anstrebt, wurde ja auch im Ausland als beispielgebende Reaktion positiv 
  aufgenommen. Seitens der IKG wünschen wir uns, dass dieses Verhalten nicht auf 
  die Kunst beschränkt bleibt
  
  …die erste Reaktion der 
  angesprochenen Ministerin Elisabeth Gehrer war eigenartig und folgte der 
  Tradition latenten österreichischen Antisemitismus, als sie in einer 
  Nachrichtensendung davon sprach, dass aufgrund der Beschlagnahme der Bilder 
  das österreichische Verhältnis zur Kultusgemeinde beeinträchtigt werden 
  könnte… 
  …die erste Reaktion der Ministerin hat 
  viel Kritik hervorgerufen. Die nunmehr eingesetzte Untersuchungskommission und 
  die Art und Weise, wie jetzt vorgegangen wird, sind wirklich beispielgebend, 
  und das ist die Initiative der gleichen Ministerin… 
  
  …das war aber erst am Tag danach…
  
  …ja, besser so, als umgekehrt. 
  
  Sie haben bereits die Situation in 
  der Schweiz angesprochen, wo man sich aber mit Österreich unter genau 
  umgekehrter Perspektive vergleicht: da geht man davon aus, dass Österreich 
  seit der Affäre um den mit antisemitischen Untertönen geführten Wahlkampf des 
  späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim und der darauffolgenden 
  internationalen Ächtung das durchgemacht hat, womit die Schweiz erst jetzt 
  konfrontiert wird… 
  Mit einem Unterschied: wir hoffen, dass 
  Österreich dazugelernt hat. Bei der Schweiz bin ich mir da noch nicht ganz 
  sicher. Die Art, wie die Schweizer Banken stets nur jene Teile eingestanden 
  haben, die sie gestehen mussten, war ein Déjà-vu-Erlebnis für mich. Das war 
  bei Kurt Waldheim ähnlich, hat ebenfalls nicht funktioniert und ist ihm 
  schliesslich auf den Kopf gefallen. Ich halte mich nicht befugt, über 
  Schweizer Verhalten zu urteilen, aber man muss aus der Geschichte lernen.
  
  Was würden Sie aus dieser Erfahrung 
  heraus den Schweizer Juden empfehlen? 
  Ich bin erstens nicht in der Lage, dazu 
  irgend etwas zu empfehlen und Ejzes zu geben, zweitens glaube ich, dass 
  Schweizer Juden und die Repräsentanten der Schweizer Gemeinden selbst am 
  besten wissen, welches Vorgehen für sie am besten ist.
  
  Medienberichten zufolge geht es 
  Ihnen in Österreich vor allem um die Aufklärung der Vielzahl von enteigneten 
  Wohnungen?
  
  Mir geht es darum, und das wird auch 
  Gegenstand eines Gesprächs mit dem österreichischen Bundeskanzler in den 
  nächsten Tagen, dass nicht nur die Enteignungen von Kunstwerken, sondern alle 
  Vorgänge der Entrechtung aufgedeckt werden. Parlament und Regierung sollen die 
  Geschichte von 1938 bis 1958 aufrollen, also sowohl die Arisierungen nach dem 
  Anschluss als auch die Restitutionen beziehungsweise die unterbliebenen 
  Restitutionen aufarbeiten: Es soll eine historische Aufarbeitung der Fragen 
  «Wer hat arisiert und profitiert, wie und wieviel wurde arisiert, wie wurde 
  restituiert, von wem an wen, und was wurde nicht zurückgegeben, und wo sind 
  diese Vermögenswerte? Das soll lückenlos dokumentiert werden. Diese 
  Aufarbeitung und die anschliessende Bewusstmachung in der Öffentlichkeit sind 
  mir Anliegen.
  
  In welchem Zeitrahmen könnte das 
  erfolgen?
  
  Nach bisherigen Erfahrungen haben alle 
  unsere Anregungen, die die Regierung aufgegriffen hat, zur Verbesserung der 
  Reputation Österreichs geführt. Deshalb bin ich überzeugt, dass auch diese 
  Initiative aufgegriffen und bald umgesetzt werden wird. Wir tun das ja, damit 
  wir nicht in eine Situation kommen, wie sie die Schweizer Juden vorfinden, wo 
  die vielen ungeklärten Vorgänge der Geschichte nun zu einem Aufflammen von 
  Antisemitismus führen.
  
  …Österreich ist nun aber auch nicht 
  frei von einer gewissen Form des Antisemitismus… 
  …das ist keine Frage. Ich möchte, dass 
  die Klärung der Geschichte der Judenverfolgung zu einem österreichischen 
  Anliegen wird und von vornherein von der österreichischen Regierung und vom 
  österreichischen Parlament angestrebt wird, dass es keine jüdische 
  Angelegenheit bleibt, die zu antisemitischen Ausfällen führt. Und wenn alles 
  aufgeklärt ist und von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, dann 
  kann man das Thema abhaken…
  
  …obwohl man oft Stimmen hört, die 
  den Schlussstrich schon längst einfordern… 
  Ja, schon 1945, 1956, 1958 und 1988 gab 
  es Leute, die gesagt haben: «Das war der Schlussstrich.» Ich glaube aber 
  nicht, dass die Täter das Recht haben, den Schlussstrich zu verlangen. Dabei 
  entscheidend mitzusprechen halte ich für das Recht der Kultusgemeinde.
  
  Mitte Mai waren Sie Gast in der 
  bekannten Nachrichtensendung «Zeit im Bild», und dabei wurde in einer Frage 
  das Schicksal von Wehrmachtssoldaten mit dem Schicksal von Juden in Beziehung 
  gesetzt… 
  …ja, und ich habe klargestellt, dass die 
  Schoa, trotz der berechtigten Trauer um umgekommene Soldaten, nicht 
  relativiert werden kann…
  
  …diese Frage - Ihr Vorgänger Grosz 
  bezeichnete das einmal als Ringen um den Opferstatus - spiegelt doch 
  österreichisches Denken repräsentativ wider. Inwieweit stört Sie das? 
  Es stört mich dann, wenn Menschen 
  relativieren, wenn sie auf die «Schoa» mit «Dresden» antworten, das sind zwei 
  unterschiedliche Themen, und diese Gleichsetzung lasse ich nicht zu. Aber das 
  ändert nichts daran, dass unschuldig umgekommene Zivilisten oder vergewaltigte 
  Frauen oder ethnische Säuberungen Vorkommnisse sind, die uns alle als Menschen 
  zum Protest und Einschreiten motivieren sollten, und Juden sind in dieser 
  Hinsicht ganz besonders sensibel. Ich habe mich gefreut, als Elie Wiesel 
  damals nach Sarajevo geflogen ist.
  
  Wird es ein Museum wie etwa das U. 
  S. Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. in absehbarer Zukunft auch in 
  Österreich geben?
  
  Dafür gibt es bereits Konzepte und Pläne. 
  Ich habe darüber sowohl mit Simon Wiesenthal als auch Elie Wiesel und anderen 
  gesprochen. Mit der Unterstützung der Politiker könnte ein solches Projekt 
  innerhalb von fünf Jahren realisiert werden. Ich möchte, dass alle 
  einschlägigen Archive und Forschungsinstitute an einer Adresse angesiedelt 
  sind, und ihre Forschungserkenntnisse in einem angeschlossenen Museum 
  ausstellen.
  
  Im Vorjahr gab es in der 
  Juli-Ausgabe des Monatsmagazins «Wiener» eine antisemitische Titelgeschichte. 
  War das ein einmaliger «Ausrutscher»? 
  Nein, das ist kein Einzelfall, solche 
  Vorfälle gibt es immer wieder, die wird es auch immer wieder geben - fürchte 
  ich - mit oder ohne Juden und nicht nur in Österreich. Die entscheidende Frage 
  dabei ist das Verhalten der Gesellschaft in so einem Fall, ob es allgemeine 
  Empörung auslöst oder akzeptiert wird. Die konkrete Geschichte im «Wiener» ist 
  durch Vergleiche und Berichtigungen ausgeräumt.
  
  
  Die Liste, mit der Sie bei den 
  IKG-Wahlen angetreten sind, heisst «Atid» (Zukunft); wie ist jüdisches Leben 
  in Österreich in der Zukunft denkbar? Wie wird es weitergehen? 
  Wir haben eine sehr lebendige und aktive 
  jüdische Gemeinde, und warum soll ich mir da den Kopf darüber zerbrechen, wie 
  es weitergehen wird? Wir müssen danach trachten, dass wir noch lebendiger und 
  noch aktiver werden, als wir das ohnedies schon sind. Im Vergleich zu anderen 
  europäischen jüdischen Gemeinden, können wir stolz sein auf das, was wir 
  erreicht haben: Wir sind eine Einheitsgemeinde mit allen Richtungen von 
  ultra-orthodox bis progressiv. Wir haben alle Einrichtungen, die eine jüdische 
  Gemeinde benötigt und werden weiterausbauen und -entwickeln, ohne dabei unsere 
  Verbundenheit mit Israel zu vergessen, die sich in den letzten sechs Monaten 
  in mehr als 50 Veranstaltungen anlässlich des 50. Unabhängigkeitstages 
  ausgedrückt hat. Man kann natürlich nie ganz zufrieden sein, aber ich wünsche 
  den meisten jüdischen Gemeinden in Europa, dass sie jenen Status erreichen 
  mögen, den wir heute haben.
  
  …trotz der belasteten 
  Vergangenheit?
  
  Trotz der Vergangenheit. Antisemitismus 
  ist ja nicht ein spezifisch österreichisches Problem, den gibt es in ganz 
  Europa. In Österreich gibt es Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, es gibt 
  den Jörg Haider, und es gibt eine ganze Reihe von Problemen - ich will das gar 
  nicht beschönigen. Aber die Täter sterben langsam aus, und die Kinder und 
  Enkelkinder unterliegen ja nicht einer Kollektivschuld…
  
  Die Wiener Gemeinde ist eine 
  vielschichtige und wachsende, wobei ein grosser Teil der in Österreich 
  lebenden Juden nicht Mitglied der IKG ist… 
  Die Zahl der österreichischen Juden ist 
  stabil, die Zeiten des Wachsens sind vorbei. Etwa die Hälfte der 
  österreichischen Juden sind Mitglieder, und es sind Bestrebungen im Gange, die 
  Gemeinde zu öffnen und mehr ansässige Juden zum Beitritt zu bewegen. Dazu 
  wollen wir die Kultussteuer abschaffen und das kulturelle Angebot erweitern.
  
	