MAROKKO /SERIE (TEIL 1) -
Zweitausend Jahre jüdische Geschichte im Maghreb
Gibt es eine Zukunft?
Seit gut zwei Jahrtausenden sind Juden in Nordafrika
nachgewiesen. Die grösste der stolzen jüdischen Gemeinden des Maghreb bestand
in Marokko. Seit den 50er Jahren hat die Zahl der Juden in Marokko durch
Auswanderung nach Israel und Frankreich rapide abgenommen, so dass heute nur
noch Reste einer einst blühenden Gemeinde existieren. Wie geht es weiter? Die
JR bereiste das Land, das sich immer auch als Brücke zwischen der jüdischen
und der arabisch-muslimischen Welt verstand. Bericht eines Augenscheines vor
Ort.

SOUND AND PICTURES:
DIASHOW MAROKKO
VON GABRIELLE ROSNER
«Hier kann man beten und sein Bier trinken!» Reda Berrada,
Delegierter des marokkanischen Fremdenverkehrsvereins in Rabat, Mitte vierzig,
beharrt auf den Qualitäten des Empfangs und den Werten der Toleranz seines
Landes. Eine Behauptung, welche wir vor Ort bestätigt erhielten, als wir einer
noch in Marokko lebenden jüdischen Gemeinde begegneten, deren Wurzeln stark
mit der Geschichte des Landes vermischt sind, und welche völlig in das Leben
Marokkos integriert ist. «Der Beitrag des Judentums in Marokko ist
beträchtlich. Aber man macht keinen Unterschied, alle sind Mitbürger. Die
Juden sind Teil des marokkanischen Erbes. Es ist sehr berührend zu sehen, wie
die Juden mit ihren marokkanischen Wurzeln verbunden sind», betont unser
Gesprächspartner. Erinnerung an eine noch sehr nahe Vergangenheit, wo in den
fünfziger Jahren die jüdische Gemeinde noch mindestens 220 000 Seelen zählte,
2,3% der Gesamtbevölkerung ausmachte. Viele Marokkaner, die diese Zeit gekannt
haben, bedauern, dass sie vorüber ist. Die Jüngsten, die nach den massiven
Fortzügen der Juden (seit der Gründung des Staates Israel, mit den Höhepunkten
zur Zeit des Endes des französischen Protektorates 1956 und während der
israelisch-arabischen Kriege 1967 und 1973) zur Welt kamen, kennen dieses
grösstenteils friedliche Zusammenleben der Juden und Araber Marokkos gar
nicht.
Zorah, eine junge muslimische Studentin, arbeitet als
Presseattaché der Stiftung für jüdisch-marokkanisches Kulturgut. Sie ist die
Autorin einer Arbeit über die «Hilloula», die Geburtsfeier des Rabbi Yehia
Lakhdar, eines jüdischen «Heiligen» aus Casablanca, dessen Grab eine
Pilgerstätte ist. «Die jungen Marokkaner kennen dieses jüdisch-arabische
Zusammenleben in Marokko nicht. Sie stellen sich die Juden nur anhand des
Bildes der Israelis aus dem israelisch-arabischen Konflikt vor. Ich arbeite
daran, diese Geschichte zu rekonstruieren, von der heute beinahe nichts mehr
übrigbleibt.» Wenn es einen verwundert, dass eine Muslimine sich so sehr dafür
interessiert, das jüdische Erbe Marokkos zu ergründen und zu bewahren, so
erwidert Zorah: «Marokkanische Juden haben sich wohl für unsere Kultur
interessiert, dies muss in beiden Richtungen geschehen!»
Eine uralte Präsenz
Seit wann genau sind die Juden in Marokko präsent? Die
mündlichen Erzählungen jüdisch-marokkanischer Tradition berichten von der
Ankunft der Juden in Marokko zu biblischen Zeiten. Man erzählt, die Stadt Safi
sei von Sem, einem Sohn Noahs, gegründet worden und dass die Berber Nachkommen
der Philister seien, die vor König David und seinem General Joab Ben Serouya
im 11. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geflohen wären. Tatsache ist, dass
viele nordafrikanische Berberstämme zwischen dem 1. und dem 5. Jahrhunder zum
Judentum übergetreten sind, während in den Städten der Küste sich seit der
Römerzeit jüdische Gemeinden nachweisen lassen. Im Antikenmuseum von Rabat
kann man eine jüdische Öllampe bewundern sowie ein jüdisches Grab, das in den
römischen Ruinen von Volubils gefunden worden ist. Die Archäologie bestätigt
somit die jüdische Präsenz in den römischen Kolonien zu Beginn der
christlichen Ära. Ebenso weiss man, dass jüdische Seeleute mit Rom Handel
trieben. Im 2. Jahrhundert soll es sogar jüdische Königreiche in Südmarokko
gegeben haben: das Königreich Oufranes (Ifrane vom Anti-Atlas), diejenigen von
Zagora, Tafilalt, Telouet und Tamgrout. Im 6. Jahrhundert proklamiert Mohammed
den Islam in Arabien und seine Reiter erreichten 683 Marokko. Zur gleichen
Zeit wie die Islamisierung und die Einigung Marokkos wird von Idris I. der
Statut der «Dhimmi» (wörtlich: «der Beschützten») institutionalisiert, der
während der kommenden Jahrhunderte den sozialen Status der monotheistischen -
jüdischen und christlichen - Minderheiten regelt. Er sieht hauptsächlich vor,
dass die Juden vom Sultan den Schutz ihres Lebens und ihrer Güter erhielten,
unter der Bedingung, dass sie die Oberherrschaft des Islams anerkannten und
Unterwerfungssteuern zahlten. Im Gegenzug erhalten die Juden eine komplette
Gemeindeautonomie sowohl religiös wie juristisch. Zu einer Zeit, als das
Konzept des Bürgers noch nicht existierte, war es bei weitem wünschenswerter,
selbst einen minderwertigen Status zu haben als überhaupt ohne Status zu sein.
Im 20. Jahrhundert kam der «Dhimmi»-Status mit der Zeit ausser Gebrauch.
Verbote, wie dasjenige, ein öffentliches Amt zu bekleiden, wurden vom König
Mohammed V. 1957 abgeschafft.
Ankunft der Sephardim
Ein
anderess wichtiges Ereignis war die Ankunft der 1492 aus Spanien vertriebenen
Juden in Marokko; sie gab neue Impulse. Ihr Einfluss herrschte in Städten wie
Fez, Meknes, Tanger oder Tetoua vor, wo si die geistige und materielle Führung
der jüdischen Gemeinden übernahmen. So entwickelte sich im Laufe der
Jahrhunderte eine in ihrer Vielfalt extrem reiche jüdische Gemeinde; ihre
intellektuelle Ausstrahlung war sogar bereit, sich den europäischen Einflüssen
zu öffnen. Am Ende des 19. Jahrhunderts gerieten die Juden Marokkos auf sehr
bedeutsame Weise unter den Einfluss der kulturellen Werte Frankreichs, dies
dank dem wichtigen Netz der Schulen der Alliance Israélite Universelle, die
sich ab 1862 niederliess. Als 1912 der Protektoratsvertrag mit Frankreich
unterzeichnet wurde, erlangten die Juden eine noch grössere Autonomie, unter
anderem das Recht, dort zu wohnen, wo sie wollten und nicht mehr
gezwungenermassen in der Mellah (im jüdischen Quartier).
Die doppelte Auswanderung
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges waren auch in Marokko die
Juden sehr beunruhigt. Nach der französischen Niederlage 1940 führte General
Noguès, Vertreter der Regierung von Vichy, auch in Marokko ein Sonderrecht für
Juden ein, das, auch wenn es von Sultan Mohammed V. gemildert worden ist, die
Freiheit der Juden beträchtlich einschränkte. Der Sultan hielt während der
Vichy-Zeit seine schützende Hand über seine jüdischen Untertanen.
Am Ende des Krieges zeichneten sich zwei Tendenzen unter der
jüdischen Bevölkerung ab: die Öffnung gegen Westen, der den Modernismus
darstellte; und die Rückkehr nach Zion, die wie eine Hoffnung erschien, ja
sogar für einige der Anfang messianischer Zeiten bedeutete. Die Gründung des
Staates Israel und der erste israelisch-arabische Krieg hatten traumatische
Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft in Marokko. Spannungen nahmen zu
und eskalierten. Trotz des Widerstandes von Sultan Mohammed V. und den
französischen Behörden, die Marokko vor den Leidenschaften, die den Nahen
Osten zerrissen, bewahren wollten, wurden den Juden übermässige
«Straf-Geldforderungen» gestellt, dies vor allem in Oujda und Jerrada im Jahre
1948. Es kam sogar zu Ausschreitungen und eigentlichen Pogromen gegen die
jüdische Bevölkerung.
Die
Auswanderung ins Gelobte Land nahm Jahr für Jahr zu. 1956 wanderten gegen 100
000 Juden nach Israel aus, oft geheim. Die meisten von ihnen stammten aus der
Volksmasse, denn die Elite wandte sich Frankreich, Kanada und den USA zu.
Seit der Unabhängigkeit Marokkos 1956 geht diese
Auswanderung weiter, obwohl die Juden laut Gesetz und auch tatsächlich
gleichberechtigte Bürger Marokkos sind. Nur eine Minderheit marokkanischer
Juden traf die Wahl, im Lande zu bleiben und sich im Wiederaufbau des
unabhängigen Marokkos auf seiten ihrer muslimischen Mitbürger zu engagieren.
Schon in den ersten beiden Regierungen (1956-1958) gab es einen jüdischen
Minister: Doktor Benzaken, der somit die Gleichberechtigung zwischen Juden und
Muslimen in den Tatsachen niederschreibt.
Erbe und Selbstverständnis
Heute, während die marokkanische jüdische Gemeinde auf
nationalem Territorium beträchtlich zurückgegangen ist, leben nur noch 5000
Juden in ganz Marokko. Die Mehrheit des marokkanischen Judaismus lebt in der
Diaspora. Trotzdem tritt ein neues Selbstverständnis an den Tag. «Die
marokkanische Diaspora ist stark mit diesem Land verbunden geblieben», erklärt
Simon Lévy, Professor an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät in Rabat und
Beauftragter der kulturellen Angelegenheiten beim Rat der israelitischen
Gemeinden Marokkos. «Daher ist es unsere Aufgabe, dieses kulturelle Erbe am
Leben zu erhalten. Ein Teil des marokkanischen Erbes trägt die jüdischen
Farben.» Um diesem Bedürfnis nachzukommen, hat der Rat der jüdischen Gemeinden
Marokkos die «Fondation du Patrimoine Culturel Judéo-Marocain» gegründet,
deren Ziel es ist, die Synagogen und Friedhöfe, Zeugen alter Gemeinden, zu
restaurieren und zu erhalten; aber ebenso beinhaltet ihr Programm, ein Museum
zu gründen sowie die jüdisch-marokkanische Kultur durch Bücher, Film,
Kassetten und Vorträge bekannt zu machen. So sind Synagogen in Oujda, Debdou,
Tanger (Synagoge Nahon) und Arzon restauriert worden. Andere Projekte sind im
Gange, die einige Synagogen in Fez (Danan, Mansano, En Habbanim, Slat el
Fasiyin) betreffen. Die Stiftung sichert die Finanzierung und verwaltet den
Unterhalt über einen grossen Zeitraum. Das Museum des jüdisch-marokkanischen
Erbes, das nun beendet wird, befindet sich im Oasis-Viertel in Casablanca.
Seine Infrastruktur ist derjenigen modernster europäischer und amerikanischer
Museen würdig und wird ihm erlauben, Sammlungen zu empfangen und Austäusche
mit ausländischen Museen vorzunehmen. «Es ist das erste jüdische Museum in
einem arabisch-muslimischen Land. Wir hoffen, das Interesse junger Marokkaner
zu wecken, die die jüdische Komponente der Geschichte ihres Landes nicht
kennen», erklärt Simon Lévy. Andere Vereinigungen sind ins Leben gerufen
worden, so das Studienzentrum über die Juden Marokkos, das Robert Assaraf 1994
in Paris gegründet hat. Das Wissen und das Studium der Juden Marokkos
vertiefen und die Studenten im zweiten und dritten Zyklus unterstützen und
universitäre Kolloquien organisieren, dies ist das Ziel dieser Organisation,
die enge Beziehungen mit mehreren Universitäten in Marokko (wo viele
marokkanische muslimische Studenten an der Geschichte der Juden Marokkos
arbeiten), in Frankreich und in Israel pflegt. Ein Lehrstuhl für Geschichte
Marokkos und der Juden Marokkos ist sogar auf Initiative des CRJM an der
Hebräischen Universität Jerusalems gegründet worden. «Die marokkanische
Diaspora ist ihrem Land sehr verbunden geblieben», hält Simon Lévy noch fest,
«und wir bleiben die Wiege dieser Diaspora.» Dies bezeugt der Zulauf von
Zehntausenden Juden marokkanischen Ursprungs, die aus Israel, Kanada, den
Vereinigten Staaten oder Frankreich während der Pilgerreisen des Omer zwischen
Ostern und Schawuot kommen. Der Kult der «Heiligen» - eigentlich weise
einheimische oder manchmal aus Palästina stämmige und in Marokko beerdigte
Rabbiner - ist eine rein marokkanische jüdische Tradition, welche heute
weiterhin in Israel, z. B. mit dem Kult um «Baba Sali», und Marokko Bestand
hat.

Ist diese Sorge der Bewahrung des Erbes der Zeuge einer
definitiv vergangenen Zeit? Oder eher ein neuer Dynamismus in der drei Mal
tausendjährigen Geschichte der Juden Marokkos? Für David Toledano,
Unternehmensleiter in Rabat «darf man nicht sagen, dass es fertig ist, man
muss etwas unternehmen; die Mentalität der Juden ist heute anders als in den
fünfziger Jahren, und die übrigbleibende Gemeinde muss ihre marokkanische
Staatsbürgerschaft normal leben! Diejenigen, die sich an der Schwelle zum Jahr
2000 für Marokko entschieden haben, sind sicher am motiviertesten, an eine
Zukunft des Judaismus in Marokko zu glauben… oder zumindest entschlossen,
diesen in der Gegenwart gut zu leben.» Tatsache ist aber, dass sich gerade in
den letzten Jahren wieder vermehrt Juden zur Auswanderung entschlossen, dies
vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Diese Erscheinung wird von der
veröffentlichten marokkanischen Meinung sehr bedauert. «Warum verlassen uns
unsere Juden?» fragten 1997 marokkanische Zeitungen besorgt. Die Frage nach
der Zukunft bleibt somit offen.
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