DEUTSCHLAND/ZWANGSARBEITER - Entschädigung unter dem
Eindruck der Schweizer Globalvereinbarung
Gerechtigkeit nach 50 Jahren
«Nichts war ungesetzlich.» Die
Einstellung von Zwangsarbeitern sei ihre «patriotische Pflicht» gewesen,
Deutschland befand sich im «Kriegszustand». So argumentierten während der
Kriegsverbrecherprozesse 1947 in Nürnberg die Direktoren der Firmen I.G.
Farben, Krupp und Flick. Fünf Jahrzehnte war die deutsche Industrie nicht
bereit, Verantwortung für ihre Beteiligung an den NS-Verbrechen zu übernehmen.
Mal hiess es, «die Häftlinge seien der Industrie von der Regierung
aufgezwungen» worden, dann wieder wurde behauptet, «unter den Zwangsarbeitern
gab es keine KZ-Insassen und erst recht keine Juden» oder «wir bezahlten an
die SS, und wer noch finanzielle Forderungen hat, soll sich an die
Bundesregierung als den Nachfolgestaat wenden». In fast keinem Fall waren
deutsche Grossunternehmen bereit, Entschädigungsansprüche zu akzeptieren.
VON ALEXIS CANEM
Entschädigungsansprüche wurden sofort
nach dem Krieg gestellt. Meistens erfolglos. Adolf Diamant war einer der
wenigen, der hartnäckig blieb. Bereits 1957 begann er einen Prozess gegen die
Firma Büssing, von der er mit anderen Leidensgenossen Ausgleichszahlungen
forderte. Diamant war zwanzig Jahre alt, als man ihn aus dem Ghetto von Lodz
ins KZ Auschwitz/Birkenau deportierte. Seine Eltern wanderten direkt in die
Gaskammern. Adolf Diamant dagegen war unter den KZ-Häftlingen, die von der SS
für kräftig genug erklärt wurden, um in der Braunschweiger Firma Büssing unter
Kontrolle des Konzentrationslagers Neuengamme Zwangsarbeit zu leisten. Büssing
stellte Lastkraftwagen für die Armee her. Im April 1945 wurde Diamant befreit.
Geld hatten die KZ-Häftlinge natürlich nie erhalten, den Lohn zahlte die Firma
direkt an die Verwaltung des KZ Neuengamme. Deshalb versuchte die Firma, sich
auch mit dem Hinweis, sie sei nicht für Geldforderungen zuständig, sondern
«die Bundesregierung» als Rechtsnachfolger, aus der Verantwortung zu
entziehen. Ohne Erfolg. Das Gericht entschied, «niemand sei berechtigt, die
Arbeitskraft einer Person zu kaufen, die rechtswidrig ihrer Freiheit beraubt
wurde». Der Vertrag sei unwirksam. Die Firma Büssing wurde zur Nachzahlung
verurteilt.
Ohrfeige für die Opfer
Doch dieser scheinbare Erfolg war ein
Pyrrhussieg. Adolf Diamant als Kläger hatte zwar den Prozess gewonnen, doch
wurden ihm lediglich 177,80 DM nachgezahlt. Diese Summe war vom Gericht
festgelegt. Dieses Urteil wiederum schreckte viele Überlebende von weiteren
Prozessen ab, sie scheuten hohe Anwaltskosten bei einer so lächerlichen
Rückerstattung, die einer offenen Ohrfeige ins Gesicht der Opfer gleichkam. Im
Jahr 1957 besass die Firma Büssing übrigens eine Liste mit rund 2000 Namen,
die als Zwangsarbeiter vom KZ Neuengamme geschickt worden sind. Diese Liste
ist jetzt nicht mehr auffindbar. Weitaus mehr Erfolg als Diamant hatten
Norbert Wollheim, ein deutscher Jude, der 1943 aus Berlin nach Auschwitz
deportiert wurde und zur Arbeit bei den I.G. Farben gezwungen wurde. Auch er
prozessierte für eine angemessene Entschädigungszahlung. Das Gericht entschied
zu seinen Gunsten. Daraufhin richteten die I.G.-Farben für alle ehemals
beschäftigten jüdischen KZ-Häftlinge einen pauschalen Entschädigungsfonds ein.
Die Claims Conference war dabei der Partner. Bis heute verweisen auch die
damals zum I.G.-Farben-Konzern gehörenden Firmen Hoechst, Bayer und BASF bei
neuen gerechtfertigten Ansprüchen auf diesen Fonds. Oder sie erklären, dass
die Bundesregierung als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches der eigentliche
Ansprechpartner sei.
Neue Töne
Erst jetzt, seit dem historische
Forschungen immer mehr Belege dafür fanden, dass die SS den Unternehmen
Zwangsarbeiter nicht aufdrängte, sondern Manager selbst in Auschwitz nach
Arbeitskräften suchten, beginnen Unternehmen, sich von dieser Ausrede zu
lösen. Möglicherweise fürchten nun die Grosskonzerne jene cleveren
Rechtsanwälte, vor allem die aus den USA, die bereits Schweizer Grossbanken zu
Entschädigungszahlungen an Holocaust-Opfern zwangen. Die Volkswagen AG zum
Beispiel erklärte noch im Juni 1998, «eine rechtliche Verpflichtung der
Volkswagen AG zur Entschädigung jüdischer Zwangsarbeiter besteht nicht».
Weiter heisst es in dem Schreiben, dass «die Ansprüche der ehemaligen
Zwangsarbeiter verjährt sind». Doch dann besann sich der Konzern. Im August
1998 verkündete VW plötzlich, dass er «einen eigenen Entschädigungsfonds für
ehemalige Zwangsarbeiter einrichten» will.
VW traf diese Entscheidung nicht allein.
Auch andere Konzerne denken über Massnahmen zur Wiedergutmachung nach. Wenn
die Bundesregierung einen Fonds für Zwangsarbeiter schüfe, erklärte ein
Sprecher von BMW, würde sich das Unternehmen daran beteiligen. BMW
beschäftigte nach eigenen Angaben mehrere tausend Zwangsarbeiter. Auch der
Siemens-Konzern, der bisher immer der Ansicht war, dass alles durch das
Bundesentschädigungsgesetz der Bundesregierung «geregelt» sei, erklärte nun
ebenfalls seine Beteiligung an dem Entschädigungsfonds, wenn ein solcher
geschaffen wird. Baukonzern Hochtief hat «zwar noch keine Entscheidung»
getroffen. Zahlungen an Zwangsarbeiter seien aber «nicht ausgeschlossen». Die
Dresdner Bank, die während der NS-Zeit Anteile an der Frankfurter
Rüstungsfabrik «Adlerwerke» besass, zahlte in diesen Tagen insgesamt 80 000 DM
an zehn ehemalige Zwangsarbeiter, die heute in Polen, in den USA, Frankreich
und Deutschland leben. Es sei als «humanitäre Hilfe» zu verstehen, betonte
eine Sprecherin des Bankhauses, eine «Entschädigung oder gar Wiedergutmachung
für erlittenes Leid könne und solle die finanzielle Hilfe nicht sein».
Abschreckende Kontroverse
Anlass für diesen späten Sinneswandel
gaben die Schweizer Grossbanken, die eine Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar
an jüdische Organisationen leisten, sowie die Bereitschaft des italienischen
Versicherers Assicurazioni Generali SpA 100 Millionen Dollar (rund 180
Millionen Mark) an Holocaust-Opfer oder deren Erben. Auch in Deutschland sind
nun Versicherungskonzerne zu Entschädigungsleistungen bereit. Die Allianz z.
B. erklärte bereits in München, dass sie eine «international anerkannte
Einigung über nicht ausgezahlte Versicherungspolicen von Opfern der
Judenverfolgung in der Nazi-Zeit» anstrebe. Zugleich hofft der Konzern auf
aussergerichtliche Einigungen. Andere deutsche Versicherungen überlegen sich
ähnliche Schritte.
Ursache dieser Sinneswandlung kann in
vielen Fällen eine drohende Klage sein. Anwalt Michael Witti, der zusammen mit
einer New Yorker Anwaltskanzlei Ansprüche von Holocaust-Opfern vertritt,
kündete auf einer Pressekonferenz Mitte August weitere Klagen an. Doch die zu
verlieren, bedeutet für die Konzerne nicht nur einen finanziellen, sondern
auch einen Image-Verlust. So wurde die Gerechtigkeit für ehemalige
Zwangsarbeiter nun für die Banken, Versicherungen und Grossindustrie eine
Frage ihres Prestiges. Dieser Druck endlich zwingt zum Nachdenken, fünfzig
Jahre nach Kriegsende. Unverständlich bleibt, warum erst jetzt etwas geschieht
und nicht schon viel früher. Erst nachdem Witti die Erweiterung der
Sammelklage, die bereits gegen die Dresdner und Deutsche Bank eingereicht
wurde, nun auch gegen die Commerzbank ankündigte, will die Commerzbank endlich
auch ihre Geschichte erforschen lassen. Schon jetzt räumt die Bank ein, sie
habe «Konten von Menschen jüdischen Glaubens entsprechend den damaligen
Gesetzen an die Reichsbank übertragen».
Doch längst noch nicht alle Unternehmen
sind bereit, die Fehler ihrer Vergangenheit zu begleichen. Die Firma Züpplin
z. B. beschäftigte über 1800 weibliche KZ-Häftlinge am Bau eines Flughafens.
Von Adolf Diamant auf finanzielle Entschädigung angesprochen, antwortete ihm
der Vorstandsvorsitzende, dies sei «keine Gesprächsthematik mehr». Über so
viel Ignoranz empört, erwägt Diamant nun eine Klage gegen die Automobilfabrik
und Maschinenbaukonzern MAN, der die Firma Büssing übernommen hat. Auch die
Bundesregierung weist noch die Idee einer Stiftung für Holocaust-Opfer von
sich. Es sei «eher zweifelhaft, ob eine heute bestehende individuelle Notlage
auf eine nationalsozialistische Unrechtsmassnahme zurückzuführen ist»,
erklärte vor erst zwei Jahren noch Irmgard Karwatzki, Staatssekretärin im
Bundesfinanzministerium und Mitglied der CDU. Auch sei «die vorgesehene
Stiftungslösung eine nicht vertretbare Belastung» für die öffentliche Kasse.
Im August wurde dann vom Finanzministerium erneut betont, dass die
Bundesregierung die «Einrichtung eines gemeinsamen Fonds mit der Industrie»
ablehne.
«Nie ein Geheimnis» aus der Vergangenheit will
nach Aussage des Generalbevollmächtigten Michael Jansen die Degussa AG gemacht
haben. Es war diese Firma, die von Nazis gestohlenes Gold und andere
Edelmetalle zu anonymen Barren einschmolz und dabei nach den Einträgen in
ihren Scheidebüchern genau wusste, dass es sich hierbei um «Jd»,
«Judensilber», «Judengold» oder «reichsfeindliches Material» handelte. «Für
Entschädigungsansprüche einzelner Opfer lassen die vorliegenden Erkenntnisse»,
so Jansen, jedoch «keine Ansatzpunkte erkennen». Überhaupt so scheint es, will
Degussa am liebsten in Ruhe gelassen werden. Zu Beginn des Jahres hatte das
Unternehmen «jüdischen Organisationen angeboten, ihnen bei der Untersuchung»
behilflich zu sein. Trotzdem vereinbarte Israel Singer, Generalsekretär des
Jüdischen Weltkongresses, die Zusammenarbeit um den Verbleib von Edelmetallen
aus jüdischem Besitz zu klären. Zugesagt wurde auch Yad Vashem, «historisch
bedeutsame Dokumente aus dem Unternehmensarchiv zur Verfügung stellen» sowie
«jüdische Institutionen in Israel, den USA und Deutschland» zu unterstützen.
Doch klingt all dies angesichts der grossen Schuld, die das Unternehmen auf
sich lud, allzu sehr nach einem Ablenkungsmanöver. Jetzt reichten
Holocaust-Überlebende eine Klage gegen Degussa ein, ein Vorgang, den Ignatz
Bubis in seiner Eigenschaft als Präsident des Zentralrates der Juden in
Deutschland begrüsst.
Endlich, wenn auch sehr spät, müssen
Grossindustrie, Banken, Versicherungen und andere Konzerne sich ihrer
Vergangenheit stellen. Bleibt nur noch zu hoffen, dass auch die
Bundesregierung ihren Standpunkt nochmals überdenkt und endlich das Signal für
die Schaffung eines Bundesfonds für Zwangsarbeiter gibt, in dem deutsche
Firmen, die ja ihre Bereitschaft bereits signalisieren, tatsächlich einzahlen
können.