BRD/SERIE (TEIL3) - Die Jüdische Gemeinde
Frankfurt knüpft an eine lange Geschichte an
Jüdisches Leben seit 800 Jahren
«Es gibt Erfreuliches zu berichten»,
jubelte Vorstandsmitglied Michel Friedman im Sommer 1996 in der Zeitung der
Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. «Die jüdischen Gemeinden in der
Bundesrepublik Deutschland wachsen. Dies gilt auch und insbesondere für die
Jüdische Gemeinde Frankfurt, die seit jeher eine sehr junge Altersstruktur
hat.» Etwa 6700 Mitglieder stark ist gegenwärtig die Jüdische Gemeinde in
Frankfurt am Main. Damit ist sie nach Berlin die zweitgrösste Deutschlands.
VON ALEXIS CANEM
«Unser hauptsächlichstes Problem dabei, wie
auch in allen anderen Gemeinden Deutschlands, ist die Integration der aus der
ehemaligen Sowjetunion kommenden Juden», erklärt Ignatz Bubis, der nicht nur
Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland ist, sondern auch
Vorstandsvorsitzender der Frankfurter Gemeinde. Doch die enorme Vergrösserung
aller jüdischen Gemeinden in Deutschland innerhalb der letzten Jahre ist mit
einer ganzen Anzahl von Problemen verbunden. In der sozialistischen Welt war
ein normales jüdisches Leben kaum möglich, und so kommen zwar jüdische
Menschen nach Deutschland, deren Wissen vom Judentum jedoch in den meisten
Fällen recht gering ist. «Viel ist vergessen worden», sagt Alexander Sun, der
aus Odessa nach Frankfurt kam und nun mit Hilfe des Rabbinats verschiedene
Lernkurse über jüdische Geschichte, Religion und Tradition ins Leben rief. «Am
Anfang besuchten etwa 25 Interessierte einen Kurs, heute sind es über 150»,
erinnert er sich.
Sprache als Hindernis
Ein anderes Poroblem, das es zu
bewältigen gilt, ist die Sprachbarriere. Zu Beginn, als die ersten Zuwanderer
kamen, wurde beispielsweise in der Schule eine russische Klasse eingeführt.
«Das haben wir ganz schnell abgeschafft, weil dadurch Ghettos entstanden
sind», erinnert sich Ignatz Bubis. «Wir machen keine speziellen
Veranstaltungen für die Zuwanderer, sondern sie sollen an den allgemeinen
Veranstaltungen teilnehmen.» Sonderprogramme beziehen sich lediglich auf den
Sprachunterricht und verschiedene Schiur-Angebote, die helfen sollen, durch
Interesse an religiösen Grundlagen die eigene jüdische Identität neu zu
entdecken.
Aber auch die grosse Arbeitslosigkeit und
die Wohnungsnot ist ein weiteres Problem, vor dem die Jüdische Gemeinde steht.
«Die Stadt hilft uns bei der Wohnungsbeschaffung, damit die Neuankömmlinge
nicht in irgendwelchen Hotels oder Sammelunterkünften bleiben müssen», erzählt
Ignatz Bubis, «auch wurde uns extra Personal zur Verfügung für die Betreuung
gestellt.» Dies bestätigt auch Leo Latasch, Dezernent der Jüdischen Gemeinde
Frankfurt für Soziales und Sicherheit. Bei der Erteilung von
Berechtigungsscheinen für billige Sozialwohnungen wird geholfen, aber auch bei
der Arbeitssuche. Lobend erwähnt Leo Latasch auch die gute Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der Altenbetreuung. Als Sozialdezernent der Jüdischen Gemeinde
sitzt er gemeinsam mit städtischen Vertretern im Vorstand des Henry- und
Emma-Budge-Heimes, eines Alten- und Pflegeheimes, in dem je zur Hälfte Juden
und Nichtjuden untergebracht sind. Daneben betreut die Frankfurter Gemeinde
aber auch noch ein eigenes «Altenheim», das allein von jüdischen Senioren
bewohnt ist. Alte, aber auch kranke Menschen werden daneben auch von der Bikur
Cholim, einer Unterabteilung der Frankfurter Chewra Kadischa, betreut, die eng
mit dem Rabbinat, der Sozialabteilung und dem Jüdischen Frauenverein
zusammenarbeitet.
Es ist schon vorgekommen, dass jemand,
der eigentlich nur auf Durchreise war, plötzlich ins Krankenhaus eingeliefert
wurde und sich sprachlich nicht verständlich machen konnte. «Wir vom
Frauenverein haben als erstes gemeinsam mit der Bikur Cholim eine Liste
angefertigt, aus der ersichtlich ist, wer welche Sprache spricht», erzählt
Noemi Staszewski. «So können wir gezielt Besucher hinschicken, zum Beispiel
jemanden, der Polnisch oder Jiddisch spricht, oder Rumänisch, Ungarisch,
Hebräisch oder andere Sprachen.»
Auf freiwilliger Basis organisiert der Jüdische
Frauenverein Veranstaltungen, um die unterschiedlichen Generationen
zusammenzubringen. Zu Pessach backen die Frauen mit den Kindern Hamantaschen,
die sie anschliessend alten Menschen schenken. Oder sie planen zusammen mit
dem Seniorenclub eine gemeinsame Chanukkafeier. «Genau das ist es, was ich
unter Gemeindearbeit verstehe», sagt Noemi Staszewski, die betont, dass der
Frauenverein vor allem «anregen will, selber aktiv zu werden».
Fokus jüdischen Lebens
Viele Aktivitäten finden im
Gemeindezentrum statt, das im November 1986, einem Tag vor dem Gedenktag an
die Opfer des Novemberpogroms, eingeweiht wurde. Seit achthundert Jahren ist
jüdisches Leben in der Mainstadt nachweisbar, das Antisemiten in drei grossen
Pogromen vergeblich zu vernichten suchten. Nach der Schoa existiert seit 1946
bereits wieder eine jüdische Gemeinde, zuerst im DP-Lager, später in ganz
Frankfurt. Veranstaltungen fanden an den unterschiedlichsten Orten statt. Ein
richtiges Gemeindeleben war jedoch nicht möglich. Das änderte sich erst,
seitdem das Gemeindezentrum gebaut wurde, in dem nun einerseits Tradition
bewahrt, andererseits auch Neues geschieht. Ein koscheres Restaurant ist hier
ebenso zu finden, wie das Jugend-, Sport- und Altenzentrum. Heute ist es ein
beliebter Treffpunkt für jung und alt, man trifft sich, um miteinander zu
plaudern oder einfach Domino zu spielen. Auch ist im Gemeindezentrum die
Schule untergebracht, die jedoch inzwischen viel zu klein wurde. Gegenwärtig
wird nach einem Platz für eine neue Schule gesucht, bei der die Stadt
behilflich ist. Überregional bekannt wurde das Gemeindezentrum jedoch vor
allem durch zahlreiche kulturelle Veranstaltungen. Regelmässig finden
Literaturforen statt, die auch von Nichtjuden gern besucht werden. «Es gibt
kein besseres Instrument als Kultur- und Kulturveranstaltungen, um persönliche
Begegnungen zu ermöglichen», erklärt Michel Friedman, Dezernent der Jüdischen
Gemeinde für Kultur, Jugend und Presse. Seine Hauptaufgabe sieht er vor allem
in der Schaffung einer «jüdischen Identität, die sich neben Religion vor allem
auch durch Kultur definiert».
Für und gegen Judentum als Kultur
Hier prallen zwei Meinungen innerhalb der
Frankfurter Jüdischen Gemeinde aufeinander. «Was wir praktizieren, sind
Wiederbelebungsversuche des Judentums mit Mitteln von Wissenschaft und Kultur,
die beide zum Religionsersatz geworden sind, aber indem wir es erforschen und
goutieren, statt es zu leben, tragen wir in bester Absicht unseren Teil zu
dessen, vielleicht etwas verlängerter, Auflösung bei», erklärt Salomon Korn,
Dezernent für Kultus, Friedhof, Altenzentrum, Verwaltung und Personal. Ganz
anders sieht Friedman dagegen den Stellenwert kultureller Veranstaltungen und
die Lernangebote der jüdischen Volkshochschule. «Die kulturelle Vielfalt, die
geschichtliche und religionsphilosophische Dichte führt dazu, dass die
Menschen ganz individuell ihren Zugang zum Judentum finden können.» Diese
Auseinandersetzung und die Diskussion darüber ist auch eine Form der neuen
Bewusstseinsbildung. «Identität lässt sich nur schaffen durch Erfahrung in
Vielfalt», so der Kulturdezernent, «gleichzeitig gibt es kein besseres
Instrument als Kultur und Kulturveranstaltungen, bis hin zur
Erwachsenenbildung, um persönliche Begegnungen zu ermöglichen.» Ein Höhepunkt
aller kulturellen Veranstaltungen war im September der Auftritt der New York
Epstein Brothers, die auf ihrer Deutschlandtournee auch in der Mainstadt
gastierten.
Wo sind die Jungen?
Grossen Wert wird jetzt auch auf die
Jugendarbeit gelegt. Auffallend bei der letzten Gemeindewahl vor zwei Jahren
war eine geringe Wahlbeteiligung der Generation unter 30 Jahren. Gerade bei
jungen Menschen ist die Gefahr des Abdriftens in die Assimilierung besonders
gross. «Von zehn jüdischen Kindern», warnt Gemeinderabbiner Klein, «bleiben
nur knapp drei Kinder beim jüdischen Volk.» Um die gilt es sich nun zu
kümmern, als «eines der wichtigsten Dinge». Neben Religionsunterricht und Bar-
und Bat-Mitzwas-Clubs haben die Jugendlichen auch die Möglichkeit, ihre
Freizeit im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde zu verbringen. «Was wir in
der Arbeitsmethodik umsetzen», so Friedman, «ist die früheste Erziehung von
Verantwortung und Selbstverantwortung.» Deswegen gibt es in Frankfurt nur
einen hauptamtlichen Jugendamtsleiter. Die gesamte sonstige
Jugendbetreuungsarbeit geschieht von Jugendlichen für Jugendliche in
Eigenregie. Dass dieses Prinzip funktioniert, zeigte Anfang Juni eine grosse
Solidaritätsveranstaltung für vermisste israelische Soldaten, die ohne die
Aktivität der Jugendlichen nicht realisiert worden wäre. «Wir müssen ein
Gemeinschaftsgefühl entwickeln, und dieses muss inhaltlich bleiben», so der
Jugenddezernent. Gleichzeitig hilft das Organisieren wie auch die Mitarbeit
von Veranstaltungen zu stärkeren Identifizierung mit der Gemeinde. Eine andere
Form der Kommunikationsvertiefung ist die Herausgabe der Gemeindezeitung, die
sechsmal im Jahr erscheint und erläutert, was die Gemeinde bewegt und was in
ihr geschieht. Daneben sind auch Themen zu finden, die sich vor allem an die
nichtjüdische Öffentlichkeit richten. Sämtliche Stadtverordnete erhalten diese
Publikation ebenfalls regelmässig wie Vertreter der Kirchen. Doch so gut das
allgemeine politische Klima gegenwärtig ist, das Zusammenleben von Juden und
Nichtjuden ist dennoch auch in Frankfurt noch lange nicht normal. Immer noch
ist jüdisches Leben bedroht, wie vor wenigen Jahren ein Bombenanschlag auf das
Gemeindezentrum erneut zeigte. Zum Glück wurde niemand verletzt, und es gab
nur Sachschaden. Doch immer noch müssen interne Sicherheitskräfte
Schulausflüge wie Veranstaltungen beschützen und jüdische Einrichtungen von
der Polizei bewacht werden. «Leider sind solche Massnahmen immer noch
erforderlich», so Sicherheitsdezernent Leo Latasch, «die Gefahr von rechts
wächst auch in Deutschland immer mehr.»
Mehrmals im Jahr finden von der ZWSt (Zentrale
Wohlfahrtsstelle) organisierte Erfahrungsaustausche mit Vertretern
europäischer Gemeinden statt. Doch direkte Kontakte von Gemeinde zu Gemeinde
sind selten. Einstimmig plädieren alle Dezernenten der Frankfurter Jüdischen
Gemeinde hier für eine Verbesserung. Vor allem mit Gemeinden in
deutschsprachigen Ländern wie Österreich oder der Schweiz wäre eine engere
Verbindung «nicht nur wünschenswert, sondern auch grundsätzlich eine
Bereicherung».