
iw 2000 / TSh''S
Ein Besuch in der Jüdischen
Gemeinde Schwerin:
Die Zukunft
hat eine lange Vergangenheit
Von Steffi Bollag
Die jüdischen Gemeinden in
Mecklenburg-Vorpommern,
aufgeteilt auf drei Körperschaften – Rostock, Schwerin und Wismar –
insgesamt rund 1.000 Personen stark, haben mit religiösem Unwissen,
Geldmangel und nichtjüdischen Angehörigen zu kämpfen.
Wenn man das schmale, schlecht
erhaltene Haus am Grossen Moor 12 in Schwerin betritt, hat man eher das
Gefühl, in einer Amtsstube, als in einer jüdischen Gemeinde gelandet zu
sein: Laute Geschäftigkeit, abgestandene Luft und Menschen vor einem
Schalter, die ausschliesslich Russisch sprechen.
Auch sämtliche Anschläge an der
Pinnwand, abgesehen von den Informationen des ZWSt (Zentrale
Wohlfahrtsstelle in Deutschland), sind in russischer Sprache verfasst.
Und bei aller recht armseliger Enge erfüllt es doch mit spontaner
Freude, dass aus der 1984 eingerichteten Gedenkstätte, nachdem auch das
allerletzte Minjan zu Beginn der 70er Jahre ausgestorben war, wieder ein
lebendiges Gemeindehaus geworden ist.
«Bubis hat uns
regelmässig besucht»
1324 gab es die ersten Juden in
Schwerin, 1773 wurde eine Synagoge eingeweiht, 1840 wurde ein gewisser
Samuel Holdheim Landesrabbiner, 1938 gab es im Raume Mecklenburg bereits
nur noch ca. 460 Juden, nachdem es 1925 im damaligen Pommern insgesamt
7761 waren, im selben Jahr ist die Israelitische Gemeinschaft e.V. zu
Schwerin gegründet worden, und am 10. Juli 1942 fand die erste
Deportation Schweriner Juden statt. Sie wurden «nach dem Osten
evakuiert», jüdisches Leben hatte aufgehört zu existieren. Erst mit der
politischen Wende nach 1989 und der Zuwanderung nach Deutschland aus
Russland wurde die jüdische Gemeinde wieder neu belebt und aus ihrer
traurigen Situation gerissen.
Der heutige Vorsitzende des
Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern,
Valery Bunimov, hat diese Position seit nun gut vier Jahren inne, und
seit sechs Jahren ist er im Vorstand. Zum vereinbarten Termin kommt er
abgehetzt und sichtlich erschöpft.
Viele nur an
Kulturellem interessiert
Dass die Arbeit, die er und die
andern fünf Vorstandsmitglieder verrichten, keine leichte ist, sieht man
ihm an. «Wollen würden wir eine jüdische, religiöse Gemeinde, haben tun
wir eine Gespaltenheit zwischen Religiösem und Sozialem. Viele
interessieren sich ausschliesslich für die kulturellen Aspekte des
Judentums», sagt auch Vorstandsmitglied Chana Rott in ausgezeichnetem
Deutsch. Das liegt auch an den familiären Zusammensetzungen: Wer kommt
und die entsprechende Bescheinigung aus Frankfurt mitbringt, gilt als
jüdisch und wird Mitglied. Das gilt jedoch höchst selten für die
Ehepartner und damit auch nicht für deren Kinder. Von den kolportierten
Zahlen, dass bis zu 62 Prozent der Immigranten überhaupt nicht jüdisch
seien, und sich die Papiere unrechtmässig gekauft hätten, gar nicht zu
reden. «Somit können die Kinder auch nicht an den von der ZWSD
organisierten Camps teilnehmen, sie werden nicht akzeptiert, da agiert
die Lauder Foundation zum Glück anders», so Vorstandsmitglied Rott. Es
scheint also nicht einfach, die in der 1999 formulierten Satzung
«Unterstützung und Pflege jüdischer Traditionen und die Erziehung der
Mitglieder im Geiste des Judentums» zu verwirklichen.
Sukka hat nur
«symbolischen Charakter»
In den verschachtelten Räumen der
zwei nahe stehenden Gebäude, die an das ehemalige Knaben- Lehrhaus und
dem damit verbundenen Vorhaus zur ehemaligen Synagoge am Schlachtermarkt
3–5 angrenzen, stört man dann auch nirgends einen Schiur, man trifft auf
keinen Rabbiner oder Lehrer. Ein Plastikzelt als Sukka im Rohbau steht
im Garten, «mit rein symbolischem Charakter». Bis zum 28. Juni dieses
Jahres war selbst das Beerdigen verstorbener Gemeindemitglieder eine
schier unlösbare Aufgabe, bis nach Kanada wurden Tote überführt.
«Alles Probleme des Geldes und
historischer Altlasten» seufzt Bunimov. «Für die drei Körperschaften
erhalten wir durch den 1996 dank dem verstorbenen
Zentralrats-Vorsitzenden Ignatz Bubis abgeschlossenen Staatsvertrag mit
dem Landesverband, 480.000 Mark im Jahr. Die Menschen, meist
Sozialhilfeempfänger, zahlen keinen Beitrag, und wenn, beträgt er eine
symbolische Mark pro Monat.» Nur rund zehn Prozent haben sich beruflich
bisher etablieren können. Minjan in dem kleinen Synagogenraum ist zwar
quantitativ nie ein Problem, ob die Menschen wissen, was gebetet wird,
ist aber eine andere Frage. Denn Rabbiner vor Ort gibt es keinen, nur
Vertreter von Chabad Lubavitch aus Kiel und Berlin stehen gelegentlich
zur Verfügung.
Vom Religionslehrer hat man sich
aus nicht geklärten Gründen getrennt, und seitdem auch niemanden wieder
eingestellt, obwohl das Kultusministerium signalisiert hat, die Kosten
zu übernehmen, wenn der Lehrer den Bildungsauftrag auch in den
öffentlichen Schulen wahrnehmen würde. Warum dies nie in Anspruch
genommen wurde, ist ebenfalls unklar. Ca. 30 Kinder werden von zwei
russischen Frauen nach bestem Wissen und Gewissen zwei- bis dreimal pro
Woche unterrichtet, und die hohen Feiertage bestritt dieses Jahr ein
junger Israeli, frisch von der Jeschiwa (Talmudhochschule).
Vieles für die
Älteren geboten
Im kulturellen und erst recht im
sozialen Bereich jedoch boomt die Gemeinde: Schachklub, Seniorenclub,
Fussballclub, Bibliothek und vieles mehr. Im Raum, wo gerade der
Seniorennachmittag tagt, «Nachrichten aus der deutschen Presse» ist das
Thema, sitzen gut 30 ältere Herrschaften dicht gedrängt und lauschen
aufmerksam einem Herrn, der Nachrichten aus dem politischen Geschehen
vorliest, übersetzt und interpretiert.
Ein bescheidenes, aber
ansprechend angerichtetes Zvieri steht bereit. Im sozialen Sektor, ein
Stockwerk höher, wäre die einzig angestellte Sozialarbeiterin ohne
freiwillige Hilfe völlig aufgeschmissen: Briefe lesen und übersetzen,
Antworten formulieren, Strukturen erklären, dolmetschend zum Arzt oder
zu Behörden begleiten (ca. 40 Prozent der Schweriner Gemeindemitglieder
sind über 60 Jahre alt, es gibt keine Uni, die Jungen ziehen weiter),
Hilfestellung bei wichtigen Entscheidungen leisten und so weiter und so
fort.
(wird fortgesetzt)
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