iw 2000 / TSh''S
«Marokko ist auf
Toleranz gegründet»
Die Blitzvisite des amtierenden
israelischen Aussenministers Schlomo Ben-Ami (selbst marokkanischer
Abstammung) hat ein neues Licht auf die Beziehungen der beiden Länder
geworfen. Bestandesaufnahme ein Jahr nach Regierungsantritts Mohammed
VI.
Von Mourrad Kusserow
Während die Israel-Visite einer
Gruppe algerischer Journalisten – anfangs Juli 2000 – im Herzen des
Maghreb einen Sturm der Entrüstung – «Verrat an der arabischen Sache, an
Libanesen und Palästinensern» – auslöste, obwohl die algerischen
Presseleute nicht ohne Rückendeckung ihres Staatspräsidenten, Abdelaziz
Bouteflika, den Staat der Juden bereisten, empfängt König Mohammed VI.
am laufenden Band Gruppen marokkanischer Juden aus der Diaspora und aus
Israel, die dem alaouitischen Herrscher ihre Loyalität zu ihrer
angestammten Heimat, dem «Land am Atlas», bekunden, sowie israelische
Politiker, wie Ende Juni 2000 Israels Minister für Telekommunikation,
Benjamin Ben Eliezer, der gleichzeitig auch das Amt des
stellvertretenden Ministerpräsidenten bekleidet oder noch kürzlicher,
nämlich letzte Woche, den aus Marokko stammenden Aussenminister Schlomo
Ben-Ami. Marokkanisch-israelische Normalität!
Königliche Briefmarke
Der israelische
Telekommunikations-Minister überbrachte im Frühsommer dem marokkanischen
König eine Gedenkbriefmarke, die die israelische Post aus Anlass des
Ablebens von König Hassan II. vor etwas mehr als einem Jahr, am 23. Juli
1999, herausgebracht hatte. Der Gast aus Israel versicherte, dass sein
Land das Andenken an den «grossen Verstorbenen», der ein «Mann des
Friedens und des Ausgleichs zwischen Arabern und Juden, zwischen
Israelis und Palästinensern» war, bewahren will. Dazu gehört auch das
Vorhaben, dass künftig Strassen, Plätze und öffentliche Bauwerke in
Israel den Namen «König Hassan II.» tragen werden.
Nationalkomitee gegründet
Ausserdem haben marokkanische
Juden in Marokko, in Israel und in der Diaspora ein «Nationales Komitee
zum Gedächtnis König Hassan II.» gegründet. Das Komitee hat ein Buch
eröffnet, in dem jeder Spender – eine soziale Einrichtung soll mit dem
«Geld» in Marokko finanziert werden – eingetragen wird. Später wird
dieses «Buch zum Gedächtnis König Hassan II.» im königlichen Palast in
Rabat ausgelegt, wo es «in alle Ewigkeit» aufbewahrt wird.
Vor diesem Hintergrund ist es
eine Herzensangelegenheit, eine Bilanz der einjährigen Regentschaft
König Mohammed Vl. zu ziehen, der den traditionsreichen Fussstapfen
seiner Sultansvorgänger folgt. Dazu gehören vor allem sein Grossvater,
König Mohammed V., der über 400 000 Juden vor der Schoa rettete und sein
Vater, König Hassan II., der den Friedensprozess zwischen Arabern und
Israelis in Gang setzte und dem Dialog der abrahamschen Religionen –
Judentum, Christentum und Islam – das Wort redete.
Das ferne Marokko mit all seinem
geheimnisvollen Zauber des Orients und Afrikas ist uns in den letzten
Jahren immer näher gerückt – vor allem aber seit dem plötzlichen Ableben
König Hassan II. im Juli 1999, sowie dem Amtsantritt seines Sohnes,
König Mohammed VI., nur wenig später. Nicht nur die marokkanische
Kandidatur für die Austragung der Fussball-WM für 2006, die Weltrekorde
marokkanischer Leichtathleten sowie die zähen Verhandlungen zwischen
Brüssel und Rabat um ein neues Fischereiabkommen sorgen dafür, dass das
«Land am Atlas» immer wieder in die Schlagzeilen der Weltpresse gerät,
sondern auch die innen- und aussenpolitischen Aktivitäten des
37-jährigen Monarchen, der sich entschlossen zeigt, sein Land zu
modernisieren.
In Afrika schätzt man
mittlerweile einen Einsatz für einen Süd-Süd-Dialog: Vermittlung im
«Zwist» zwischen Mauretanien und Senegal, Schuldenerlass Marokkos für
«afrikanische Bruderstaaten» sowie Bemühungen um eine Wiederbelebung der
Union des Arabischen Maghreb (UMA). Grosse Beachtung findet sein
Engagement für eine «neue afrikanische Moral», das heisst, er forderte –
zusammen mit Malis Staatspräsidenten ein Ende der Bürger- und
Bruderkriege in Afrika, wo Hunger, Armut, Krankheit, Kriege und Diktatur
zum Alltag gehören.
Zwölf Monate Regierungszeit haben
ausgereicht, um die Fundamente für eine «neue Ära» zu legen. Im ganzen
Land spricht und schreibt man über den «neuen König» und das «neue
Regime». Der junge Monarch hat klar gemacht, dass Freiheit,
Gerechtigkeit und Wohlstand ganz oben auf seiner Prioritätenliste
stehen. Der neue Wind hat bereits sichtbare Veränderungen gebracht,
überrascht hat vor allem das Tempo, das der König dabei vorgelegt hat.
Alle offenen Fragen im
Zusammenhang mit Verstössen gegen die Menschenrechte wurden
unbürokratisch und in aller Offenheit geregelt: sämtlichen politischen
Exilanten wurde gestattet, in ihre Heimat zurückzukehren – vor allem dem
ehemaligen Regimegegner Fqih Basri und dem Juden Abraham Serfaty. Der
Hausarrest für den Islamisten Scheich Yazine, vom Ausland immer wieder
gefordert, wurde aufgehoben; bis dahin war der «marokkanische
Gottesmann» nur wenigen Marokkanern ein Begriff. Ebenso wird mit
Befriedigung registriert, dass die Erfassung und materielle
Entschädigung aller Regimeopfer – rund 1300 Fälle – zügig in die Wege
geleitet wurde. Dass Marokko tatsächlich neue Weg eingeschlagen hat,
lässt sich nicht nur an der uneingeschränkten Pressefreiheit erkennen,
sondern auch daran, dass König Mohammed VI. – ein Vergleich mit dem
Preussenkönig Friedrich der Grosse drängt sich auf – sich als Diener
seines Landes sieht: «... es ist Zeit, dass der Staatsapparat dem Volk
dient und nicht umgekehrt.»
Einen Wendepunkt in Marokkos
Innenpolitik bildete zweifelsohne die Entlassung des Innenministers
Driss Basri, der 25 Jahre lang König Hassan II. und seinem Land treu
gedient hat. Mit seiner Abdankung wurde auch das «ancien regime» zu
Grabe getragen, dem niemand nachtrauert. Die Masse der Marokkaner
bestreitet nicht, dass sich Driss Basri um sein Land verdient gemacht
hat, denn er hat, wenn auch mit starker Hand, den inneren Frieden des
Landes gesichert. Vor allem aber hat er mit viel diplomatischem Geschick
die «Sahara-Akte» verwaltet. Wenn heute bereits 20 Länder – unter ihnen
vor allem die asiatische Grossmacht Indien – die diplomatische
Anerkennung der Polisario-Republik zurückgezogen haben, dann geht das
vor allem auch auf Driss Basris Konto.
König Mohammed VI. nimmt kein
Blatt vor den Mund, wenn er auf das Thema marokkanische Sahara
angesprochen wird. Im amerikanischen Time-Magazin – bis zu diesem
Gespräch hatte er keine Interviews gegeben – heisst es: «Es gibt ein
Problem zwischen Marokko und Algerien. Es gibt kein Problem zwischen
Marokko und der Arabischen Demokratischen Republik Sahara... Das ist
Algeriens Problem... Ich bewundere Präsident Abdeluziz Bouteflika sehr,
der eine heikle Situation geerbt hat. Es ist Marokkos Pflicht, ihm seine
Aufgabe zu erleichtern.»
Neues Marokko existiert
Das neue Marokko existiert, und
jeder objektive Beobachter stellt fest, dass König Mohammed VI. mit
seinem Amt bereits «gewachsen» ist. Für ihn sind die Tage «letzter
feudaler Strukturen» gezählt, und, im Unterschied zu früheren Zeiten,
als die Regierenden dem Volk keine «politische Reife» zugestehen
wollten, hat Sidi Mohammed klargestellt: «Die Marokkaner sind reifer
geworden.» Und wenn der Monarch im selben Atemzug erklärt, dass er über
keinen Zauberstab verfügt, um die grossen Probleme des Landes wie
Arbeitslosigkeit, Armut in Folge von Trockenheit und Landflucht, sowie
Analphabetentum von heute auf morgen zu lösen, so tut das seiner
Popularität keinen Abbruch – seine Vision von Demokratie findet breite
Zustimmung.
Er macht keinen Hehl daraus, dass
ein westeuropäisches Demokratiemodell – er habe, so sagte er bei anderer
Gelegenheit, grossen Respekt vor den Ländern, in denen eine
hochentwickelte Demokratie praktiziert wird – für Marokko unakzeptabel
sei. Gegenüber TIME sagte er: «Der Versuch, ein westliches
Demokratiemodell auf ein Land des Maghreb, des Nahen Ostens oder der
Golfregion anzuwenden, wäre ein Fehler. Wir sind nicht Deutschland,
Schweden oder Spanien... Ich glaube jedoch, dass jedes Land seine
eigenen bestimmten Kennzeichen von Demokratie haben muss.»
Europa und Islam
Ein deutliches Zeichen, dass das
«ancien regime» endgültig vorüber ist, dürfte auch das Verhältnis des
Königs, der den Kolonialismus, das heisst die Zeit des 40-jährigen
französisch-spanischen Protektorats nur vom Hörensagen kennt, zu Europa
sein. Mit dem alten Verhältnis zwischen «colonisateur» und «colonisé»
kann die «neue Generation», der König Mohammed Vl. angehört, nichts
anfangen. Er redet deshalb einer neuen «geistigen Einstellung» das Wort:
«Alles, was wir fordern, ist, dass Europa uns wie einen wirklichen
Partner behandelt.» Dazu gehört, dass man im Westen aufhört, in jedem
arabisch-islamischen Land, ob in Nordafrika oder im Nahen Osten, einen
Hort islamischer Eiferer zu sehen. In Europa ist es üblich, den Islam
für alle terroristischen Exzesse verantwortlich zu machen.
Die Haltung von König Mohammed
Vl. zum Integrismus, wie der Terrorismus, der im Namen des Islam
auftritt, in Nordafrika bezeichnet wird, ist klar. Er ist nicht nur
weltlicher Herrscher – Sultan –, sondern auch geistiger Führer – Amir
al-Muminin (Fürst der Gläubigen) – und somit Beschützer aller Gläubigen
– Muslime, Juden und Christen – in Marokko. Er hat deutlich gemacht,
dass Marokko sich nicht gegen den lslam stellt, sondern Unwissenheit,
Rückständigkeit, soziale Ungerechtigkeit und Gewalt bekämpft, die
Hauptursachen
aller terroristischen Bewegungen.
Im bereits mehrfach zitierten Interview lesen wir: «Wir müssen Gewalt
und Unwissenheit bekämpfen. Es ist wahr, dass wir, wenn wir ausgehen,
Frauen mit Schleier und Männer mit Bärten sehen. Das war immer so in
Marokko. Marokko ist auf Toleranz gegründet»
König Mohammed VI., sorgfältig
von seinem Vater auf den «Beruf des Königs» vorbereitet, ist weit davon
entfernt, das Werk König Hassan II. zu demontieren. Reformen und neue
Methoden ja, aber keine Revolution. Evolution heisst das Stichwort. Sidi
Mohammed hat seinen eigenen Stil – König Hassan II. hatte einmal gesagt:
«Mein Sohn ist nicht wie ich, und ich bin nicht wie Sidi Mohammed.» Bei
seinen Reisen kreuz und quer durch das Land verzichtet er bewusst auf
ein grosses Protokoll und auf pompöse Empfänge. Nur eine kleine Gruppe
von Presseleuten und Fachberatern begleitet ihn und, was im Lande
besonders positiv registriert wird, er sucht spontan die Nähe der
Menschen; seine besondere Aufmerksamkeit gilt den sozialen Randgruppen
wie Waisen, Strassenkindern und Behinderten. Mohammed VI. ist im
wahrsten Sinne des Wortes ein «König zum Anfassen.» Er wird nicht müde,
darauf hinzuweisen, dass es nicht fair sei, in seiner Person «die
einzige Hoffnung der Marokkaner» zu sehen.
Vor einem Jahr hat Sidi Mohammed
den Alaoultischen Thron bestiegen und die Bilanz seiner Amtszeit kann
sich sehen lassen: Er hat wichtige Entwicklungsvorhaben –
Trinkwasserversorgung und Elektrifizierung auf dem Lande, Strassen- und
Autobahnbau, neue Schulen und sozialen Wohnungsbau – auf den Weg
gebracht. Seine zahlreichen Reisen in alle Landesteile haben eine
Aufbruchstimmung ausgelöst, die das «Land am Atlas» dringend brauchte.
Positiv schlägt dabei zu Buche, dass es dem jungen Monarchen gelungen
ist, neue Akzente bei der Modernisierung des Landes zu setzen und das
Entwicklungstempo zu beschleunigen.
Keine Änderungen
Für die im Königreich Marokko
verbliebenen rund 7000 Juden hat sich nichts verändert. Ihr Beitrag zur
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung des Landes wird
geschätzt. Das erkennt man auch daran, dass der königliche Finanz- und
Wirtschaftsberater André Azoulay, der bereits viele Jahre König Hassan
II. gedient hat, vom jungen Monarchen in seinem hohen Amt bestätigt
wurde.
Mohammed Vl. hat in wenigen
Wochen seinen eigenen Regierungsstil gefunden und, was nicht übersehen
werden darf, er scheut sich nicht, den sozialen so wie den innen- und
aussenpolitischen Problemen mit Realismus ins Auge zu blicken. Er, der
von seinem Bruder, Moulay Raschid, und seinen drei
Schwester-Prinzessinnen aktiv bei der Modernisierung von Staat und
Gesellschaft unterstützt wird, lehnt jede Art von Personenkult ab, und
das Time-Magazin titelte anlässlich der königlichen USA-Visite in der
zweiten Junihälfte treffend: «Der unerschrockene König Mohammed VI.
rüttelt Marokko auf…»
Weitere Schwerpunkte im iw Nr.
37,
vom 15. September 2000/15. Elul 5760
- Brennpunkt: New Yorker
Verteilplan für Schoa-Gelder
- Israel: Psoriasis: Totes Meer
billiger als die Schweiz
- Österreich: «Drei Weise»:
Persilsc hein für Wien
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