Zu Rosch haSchana:
In
die Tiefen des Meeres
Du wirst in die Tiefen des
Meeres all ihre Sünden werfen (We-Taschlich). Du wirst Jakow Treue
erweisen, Huld dem Awraham, wie du geschworen unseren Vätern seit den
Tagen der Urzeit« (Micha 7.1 9-20).
Diese Verse stehen im Mittelpunkt
des
Taschlich-Gebetes, welches wir dieses Jahr am zweiten Tag Rosch
Haschana bei einem Fluss, See oder Brunnen sprechen. Normalerweise
findet Taschlich am ersten Tag Rosch Haschana statt, doch um die
Heiligkeit des Schabbat zu gewährleisten, ein Tragen von Machsorim in
der Öffentlichkeit zu vermeiden, wird dieser Minhag auf den zweiten Tag
verschoben. Rabbi Jakow Mollin, der Maharil (1365 bis 1427), ist der
Erste, der diesen Brauch der aschkenasischen Juden erwähnt. Er setzt ihn
in Verbindung mit der Akeda, der versuchten Opferung Jizchaks, die am
zweiten Tag Rosch Haschana Thema der Toralesung ist. Auf dem Weg zum
Berg Morija trat der Satan in Form eines reissenden Flusses Awraham
entgegen und versuchte seinen Weg zu beenden. Doch Awraham und Jizchak
liessen sich nicht beirren und überquerten trotz Lebensgefahr den Fluss
(Midrasch Tanchuma).
Unser Gebet soll an die
Verdienste der Stammväter erinnern und G’tt uns gegenüber gnädig
stimmen. Manche führen den Minhag auf das biblische Buch Nechemja
zurück, in dem wir lesen: «Da versammelte sich das ganze Volk wie ein
Mann auf dem Platz vor dem Wassertor ... am ersten Tag des siebten
Monats» = Rosch Haschana (8.1-2). Der Talmud überliefert, dass die
jüdischen Könige in biblischer Zeit an einer Quelle gesalbt und in ihr
Amt eingeführt wurden. Das ewig fliessende Wasser sollte den Wunsch für
eine lange Herrschaft symbolisieren (Horajot 12a). An Rosch Haschana
rufen wir G’tt zum König über die ganze Welt aus, vielleicht ebenfalls
ein Grund für Taschlich!
Rabbi Jeschajahu Horowitz
(1565–1630) führt in seinem Werk Schnei Luchot Habrit mehrere Gründe
dafür an, warum man das Gebet an einem Gewässer mit Fischen sprechen
soll. Wie die Fische im Netz, so kann sich der Mensch in seinen Sünden
verfangen. Doch hilft ihm G’tt, sich daraus durch Teschuwa wieder zu
befreien. Fische besitzen keine Augenlider, ihre Augen stehen zu jeder
Zeit weit offen, Symbol für die göttliche Haschgacha («Überwachung»),
deren wir uns immer bewusst sein sollen!
Umkehr aus Liebe
Rabbi Jechiel Michael, der Maggid
von Zloczow (gest. ca. 1786), stellt die Frage, warum G’tt die Sünden
nicht vollständig aus der Welt schafft, sondern sie lediglich im Meer
versenkt. Er beantwortet dies mit dem talmudischen Prinzip, dass bei
Teschuwa, die aus Furcht (vor Strafe) erfolgt, die vorsätzlich
begangenen Sünden (bemesid) in unabsichtlich begangene (beschogeg)
verwandelt werden. Kehrt der Mensch jedoch aus Liebe um, so werden aus
den vorsätzlich begangenen Sünden sogar verdienstliche Handlungen (Joma
86b)! Daher «versteckt» G’tt die Sünden in den Tiefen des Meeres, um sie
bei Teschuwa Me’ahawa, Rückkehr aus Liebe, wieder hervorzuholen und
umzuwandeln! Der Zahlenwert von «We-Taschlich» (766) entspricht der
Gimattrija von «Teschuwa Me’ahawa».
Auch der Abschluss der 10 Tage
der Rückkehr, Jom Kippur, steht unter dem Motto vom Wasser. ln der
Mischna (Joma 8.9) lesen wir: «Rabbi Akiwa sagte: Glücklich seid ihr
Israel. Vor wem reinigt ihr euch? Wer reinigt euch? Euer Vater im
Himmel! So steht geschrieben (Jecheskel 36.25): ‹Ich werde reines Wasser
über euch sprengen, und ihr werdet rein sein›. Und es steht geschrieben
(Jirmijahu 14.8): ‹G’tt ist Israels Mikwe›. So wie die Mikwe den
Unreinen reinigt, so reinigt G’tt Israel.» Neben dem reellen Tauchbad
gibt es auch eine geistige Mikwe, die Tora («ein Majim ela Tora»). Durch
die Beschäftigung mit ihr kann sich jeder Mensch reinigen, zu seinen
spirituellen Wurzeln zurückkehren. Auf einen weiteren Aspekt weist
Rabbiner Arjeh Kaplan, s.A., hin (Wasser von Eden, Verlag Moreschet
Awoth, Zürich, 1986): «Wie jedoch ausgeführt wurde, wird das Wort Mikwe
in diesem Zusammenhang eigentlich besser als ‹Hoffnung› übersetzt. In
welcher Beziehung steht dies zur Mikwe aus Wasser? Der Vers allein weist
auf diese Beziehung hin, da es heisst (Jirmija 17;13): ‹Gott (Ha-Schem)
ist Israels Hoffnung (Mikwe). Alle die dich verlassen, sollen beschämt
(aufgetrocknet) werden, … denn sie haben Gott verlassen, die Quelle
lebendigen Wassers.›
Weshalb braucht die hebräische
Sprache dasselbe Wort für Hoffnung wie für Mikwe? Aber was ist Hoffnung?
Sie stellt eigentlich unsere Gefühle zu einem Ereignis in der Zukunft
dar. Hoffen wir, dass ein zukünftiges Ereignis eintreten wird, so
befassen wir uns mit etwas, das sich jenseits der Zeitschranke befindet.
Wir sagen deshalb, dass unsere Hoffnung HaSchem ist – der Name, den wir
brauchen, wenn wir von Gott als jenseits der Zeit existierend sprechen.
«Zusammengesammelt»
Die Fähigkeit, die Bande der Zeit
zu übersteigen, ist anderseits die letzte Freiheit. Taucht daher ein
Mensch in die Mikwe, tritt er in einen Zustand, wo Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft ‹zusammengesammelt› sind, und ist also letztlich
frei. Er ist nicht länger durch Vergangenheit oder Zukunft gebunden,
sondern existiert in einer absoluten Gegenwart, dem einen Zeitmoment,
den der Mensch kontrolliert.»
Möge es uns allen vergönnt sein,
in diesen Tagen zu uns, zu unseren Mitmenschen und zu G’tt
zurückzufinden!
Schabbat Schalom, Schana Towa,
Ketiwa Wechatima Towa.
Zwi Braun
Israelitisches Wochenblatt
iw 2000 / TSh''S
Im Archiv:
[Weitere Artikel aus dem Israelitischen
Wochenblatt]
|