Von Schlomoh Gysin
München, in der dunkelsten Zeit seiner Existenz,
«Hauptstadt der Bewegung», beherbergt heute in seinen Toren zwei
scheinbar unermüdliche Idealisten, die sich mit einer deutschsprachigen
Website im Internet um jüdische Belange bemühen. Eva Ehrlich und David
Gall betreiben im Süden der bayerischen Landeshauptstadt seit einigen
Jahren den umfangreichsten Internetdienst Europas in Sachen Jüdischkeit.
Idealistisch waren und sind die Motive der beiden
Herausgeber von «haGalil onLine». Anstoß für den Einstieg ins Internet
war eine traurige Zäsur in der jungen Geschichte des Staates Israel –
die Ermordung Yitzchak Rabins am 4. November 1995. Was sich anschließend
an kreativer Kraft entwickelte, war eine «private kleine
Friedensinitiative», die sich in den vergangenen fünf Jahren mit jetzt
monatlich annähernd 120.000 Besuchern zu einer einflussreichen Adresse
im deutschsprachigen Internet gemausert hat.
Um diese Zahl etwas zugänglicher zu machen, lohnt sich
ein Vergleich. Die renommierte Wochenzeitung «Die Zeit» registriert auf
ihrer Website monatlich etwa 400.000 Besucher, während bei der
Tageszeitung «Frankfurter Rundschau» etwa 90.000 Interessenten
reinschauen.
Die hebräische Zeitschrift «Mussaf Israel» beschrieb
«haGalil onLine» als ein «offenes Buch», bei dem man die Seiten per
Mausklick aufschlägt. Lässt man sich auf das Surfen bei «haGalil onLine»
ein, kann dieser Eindruck nur bestätigt werden.
Ein reichhaltiges Angebot, so lebendig wie das Judentum in Deutschland -
was nach der Absicht der Herausgeber nicht allein zu beweisen war,
sondern auch zu behaupten ist: zu beweisen unter anderem den
amerikanischen Juden, die sich eingedenk der Schoah nur schwer
vorstellen können, wie man als Jude in Deutschland leben kann; zu
behaupten im Austausch untereinander und im Gespräch mit jenen, die
nicht in Gemeinden organisiert sind, aber auch gegenüber einem Staat,
einer Industrie, Bürokratie und Gesellschaft, die nicht zuletzt wegen
ihrer Schuldkomplexe auf Jüdisches vor allem mit Beklommenheit reagiert,
so Gall gegenüber «Mussaf Israel». Tatsächlich erleben Eva und David bei
der Akquisition von Werbeflächen für ihr aufwendiges Internetmagazin
immer wieder erstaunt zögernde Kunden und die Frage «Juden – gibt es
hier so was noch?».
Keine Fördermittel
für «jüdischen» Online-Dienst
Vor zwei Jahren stand das Experiment «haGalil» kurz
vor dem wirtschaftlichen Aus. Die Herausgeber bemühten sich um
Fördergelder, sei es bei öffentlichen und privaten Stiftungen, aber auch
bei jüdischen Institutionen. Sie reichten unzählige Gesuche um
Fördermittel ein und erhielten durchs Band weg nur «warme Worte» und
ablehnende Bescheide, sofern die Angeschriebenen überhaupt geantwortet
haben. Ein Förderverein soll inzwischen helfen, den Dienst durch private
Spenden am Leben zu erhalten. Aber haGalil hat aus der Not eine Tugend
gemacht und bietet seine Dienste im Bereich Webdesign an, um «haGalil
onLine» über Wasser zu halten.
Die Nachfrage bestätigt hingegen die Notwendigkeit
dieses facettenreichen Online-Dienstes. Ruft man die Startseite von
«haGalil» auf, öffnet sich einem auf rund 10.000 Seiten beinahe
unerschöpflich Wissenswertes zum Stichwort «Judentum».
Das Zitat des jüdischen Intellektuellen Hans Erler:
«Wenn das ehemals große deutsche Judentum noch heute einen Sinn für die
deutsche Umwelt hat, so vielleicht den, dass darüber nachgedacht wird,
ob nicht auch heutige Deutsche das benötigen, was die besten dieser
Ermordeten oder Vertriebenen einte: Ein kritisches Bewusstsein und der
Wille zu Solidarität und Menschlichkeit», heute vielleicht aktueller
denn je, ist sicher so etwas wie ein Motto bei «haGalil».
Man ist denn auch gut beraten, sich für seinen ersten
Besuch in der jüdischen «Cyberwelt» etwas Zeit zu lassen. Ein Mausklick
führt zu den neuesten Nachrichtenmeldungen, die immer aktuell
aufgeschaltet werden. Spätestens beim Blick auf die Auswahl der
Meldungen erkennt man, dass David der Entwicklungen im Nahen Osten
oberste Priorität einräumt. Als Bürger des Staates Israel ist ihm die
Vermittlung der engen Verbundenheit zwischen jüdischem Staat und Golah
nicht nur Anliegen sondern auch Verpflichtung.
Auf Entdeckungsreise
in der «Cyberwelt»
Viele der aktuellen Meldungen werden von einem Team
freier Mitarbeiter verfasst, man findet hier aber auch eine Auswahl aus
den großen Tages- und Wochenzeitungen. Videos und Radioübertragungen
runden dabei die aktuelle Berichterstattung ab.
Nebst gesamteuropäischen Themen sind spezielle
Länderseiten für sämtliche deutschsprachigen Staaten und der
Tschechischen Republik eingerichtet worden. Am Beispiel Schweiz lässt
sich die Vielfalt dieses Informationsmediums am besten illustrieren.
Nebst Informationen und Verweisen auf einige Dutzend «Schweizerseiten»,
erfährt der Interessierte hier – wie übrigens auf allen «haGalil»-Seiten
– viel fundiertes Wissen über das Judentum des betreffenden Landes. Aber
auch Jiddisch/Iwrit, Sprachkurse und Büchertipps, spezielle Seiten zu
Reisen in Israel, koscheres Leben, Musik, Diskussionsforen,
Kinderseiten, religiöse Betrachtungen, kurz, die Vielfalt jüdischer
Existenz eben – locken zur spannenden Entdeckungsreise. Eine
umfangreiche Rubrik erinnert uns eindrucksvoll an die Opfer der Schoah.
Man kann bei «haGalil» aber nicht nur lesen, sondern
auch aktiv mitgestalten und teilnehmen. Eine Informationsbörse in
Chatform vermittelt Zimmer in Israel, bietet Iwritkurse an, offeriert
ein lange gesuchtes Buch und hie und da soll auch schon ein «Schidduch»
zustande gekommen sein, Mazel Tov! Dank «haGalil» gelangte die
«Jeckische Gemeinde» von Buenos Aires in Argentinien zu einer Fracht
«Seforim». Viel wertvoller noch ist aber das Gefühl von «Hier gehöre ich
dazu, wir sind gar nicht so wenige», wenn man bei «haGalil» zu «Hause»
ist. Das liegt sicher daran, dass wirklich für alle etwas geboten wird.
Das erfahren die Macher auch hinter den Kulissen, wo sie täglich
Dutzende von Anfragen von am Judentum interessierten Mitmenschen
beantworten. Damit leistet «haGalil onLine» einen wichtigen Beitrag als
Vermittler zur Kontaktaufnahme. Man versucht innerjüdisch eine
Kommunikationsebene anzubieten, eine Möglichkeit zur Entdeckung des
Verbindenden, in der Hoffnung der wachsenden Sprachlosigkeit zwischen
den verschiedenen Anschauungen entgegenzuwirken. Die breite Fächerung
des Inhalts trägt auf jeden Fall der Vielfalt des Judentums Rechnung.
Und wem das immer noch nicht genügt, der kann sich immer noch der
«haGalil» internen Suchmaschine bedienen, die einem das Auffinden von
weiterführenden Informationskanälen erleichtert. Abbildungen,
Audiodateien zu Gebeten und der jüdische Festkalender ergänzen die
virtuelle «haGalil»-Menükarte – das Dessert sozusagen.
Materialschlacht
gegen Nazis
Ein spezielles Augenmerk verdienen die
Diskussionsforen, die in den letzten Monaten für viel Aufregung gesorgt
haben. Die offenen Foren, in ihnen werden Fragen zum Judentum in all
seinen Aspekten teilweise kontrovers diskutiert, sind in jüngster Zeit
immer häufiger von Rechtsextremisten regelrecht «zugemüllt» worden.
Unter großem materiellem und zeitlichem Aufwand gelang es immer wieder
Einzelnen oder abgesprochenen Gruppen, Hass und Zwietracht unter die
Diskutanten zu streuen. Übelste Beleidigungen, Verleumdungen und
Beschimpfungen sind im Archiv nachzulesen. Fanatischer Hass führte
schließlich dazu, dass man sich genötigt sah, das Konzept der «Offenen
Foren» gänzlich aufzugeben.
Die Schließung der «Offenen Foren» führte zu einer
ungeheuren Flut von Beleidigungen, direkt an die Herausgeber adressiert.
Inzwischen haben sich die Hetzer neue Wirkungsfelder gesucht. Sie
dominieren seit neuestem viele der Foren deutscher Tageszeitungen, wo
sie auf wesentlich geringeren Widerstand als in den Foren von «haGalil»
stoßen. In den neuen Foren bei «haGalil» kann man sich jetzt mittels
vorher beantragtem Passwort wieder an Diskussionen beteiligen. Bisher
erhielten an die 3000 Personen ein Passwort. David Gall versichert aber,
dass fast dreiviertel der Anträge auf Passwort abgelehnt werden, weil
befürchtet werden muss, dass sich dahinter Rechtsextremisten verbergen.
Häufigkeit von Schlüsselbegriffen
entscheidend
Der Kampf gegen die zunehmende rechte Verwilderung des
Internets ist ein erklärtes Ziel von «haGalil». Eva Ehrlich erklärt das
so: «Bis vor wenigen Jahren landete ein Schüler, der zum Thema
«Judentum» im Internet Informationen sammelte, mit großer
Wahrscheinlichkeit auf einer revisionistischen bzw. rechtsextremen
Webseite, denn Suchmaschinen listen die gesuchten Internetseiten nach
Häufigkeit des gesuchten Begriffes». Zudem werden Schlüsselbegriffe, wie
beispielsweise: Juden, Tora, Schabath, aber auch Hitler, Himmler, etc.
miteinander «verknüpft».
Naziseiten
nehmen weiter zu
Auf einen kurzen Nenner gebracht heißt dies, dass die
Häufigkeit des gesuchten Begriffes mit der Rangliste der Aufzählung
zusammenhängt. Die Anzahl entsprechend relevant eingestufter Seiten,
kombiniert mit diesen Begriffen, lässt eine Webseite in der Rangliste
nach oben schnellen. David kann sich ein leises Lächeln nicht
verkneifen, wenn er sich darüber freut, wenn diese Naziseiten im
Cyberspace langsam nach unten rutschen: «Die Anzahl der Naziseiten nimmt
zwar immer weiter zu, unvoreingenommene Jugendliche bekommen diese
Seiten aber nicht mehr so oft zu Gesicht, da ihnen die Suchmaschinen
bevorzugt die Seiten von «haGalil» anbieten». «haGalil onLine» hat hier
ein
Konzept entwickelt, welches gegen die immer bedrohlichere
Besetzung des neuen Mediums durch deutschsprachige Rechtsradikale
tatsächlich Wirkung zeigt.
Offizielle Stellen hingegen hoffen auf europa- oder
weltweite Gesetzes-Initiativen. Deren Ausarbeitung wird Jahre dauern,
wenn es überhaupt jemals zu solch einer weltweiten Regelung kommen wird.
David denkt nicht, dass es bei der momentanen Dynamik der Entwicklung
ausreicht, auf solche Einigungen zu warten. «Wenn ich solche Vorschläge
höre, habe ich nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen in Europa
begriffen haben, worum es geht.
«haGalil» wirkt
wie eine Mauer
Der Begriff InterNet kommt vom Wort international,
d.h. die ganze Welt betreffend. Hetzer werden also immer irgendwo eine
Möglichkeit finden, von wo aus sie ihre Botschaft senden können. Was zum
Beispiel, wenn Server (d.h. Computer die Internetangebote senden) mit
antijüdischen Parolen in Libyen stehen? Meiner Meinung nach ist die
effektivste, zugegebenermaßen sehr aufwendige Möglichkeit: die
Entgegnung mit positiven Inhalten. Dies ist unsere Arbeit, wenn nun die
entsprechenden Behörden wenigstens das bereits gültige Gesetz anwenden
würden, dann stünden wir heute vielleicht nicht so erschrocken vor den
Resultaten aus Lüge, Hass, Hetze und Gewalt». Der Online-Dienst wirkt
heute wie eine Mauer, an der die Nazis nur schwer vorbei kommen, wenn
sie ihre Propaganda an unwissende Jugendliche weitergeben wollen.
Hass entlädt sich
auf die Verantwortlichen
Dass David und Eva
durch ihre Arbeit Stress mit der Naziszene haben ist nicht
verwunderlich. In vielen Publikationen der neuen Rechten wird gegen
die Herausgeber von «haGalil onLine» gewettert. Einmal werden sie
als «kleine Bankrotteure», dann wieder als «Großindustrielle der
Holocaust-Industrie» verunglimpft, um nur die harmloseren Beispiele
zu nennen. Außerdem erreichen die beiden tagtäglich E-Mails, in
denen teilweise nicht wiederzugebende Drohungen und Verwünschungen
ausgestoßen werden. |
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Der ganze Hass dieser nicht nur anonymen, dumpfen
Masse entlädt sich ungeschützt über die zwei mutigen und fantasievollen
Menschen.
In einschlägigen Kreisen hat es sich herumgesprochen,
dass einige
engagierte Anwälte, aus dem «haGalil»-Unterstützerkreis
antisemitische Hetze unermüdlich bearbeiten. Viele der Anzeigen, selbst
gegen namentlich bekannte Übeltäter, verstauben leider in den Amtsstuben
der deutschen Strafverfolgungsbehörden.
Aufgeben kommt für die beiden und ihr Team
aber nicht in Frage, weil es doch auch die vielen positiven Erfahrungen
gibt, aus denen man Kraft schöpfen kann. Es sind die «kleinen» Simches,
welche Evas Augen leuchten lassen. Da sind ehemalige Freunde, die sich
wiedergefunden haben, die Frau die ihre lang gesuchte Stiefschwester
wieder in die Arme schließen durfte, oder etwa Andrea und Itaj, die Kinder
der beiden, die immer neue Ideen für «haGalil» bereit haben und stolz auf
ihr Judentum sind.
«…es geht
um die reelle Welt»
«Es geht letztlich nicht um die virtuelle Welt, es
geht um die reelle Welt», resümiert David Gall. Die «Süddeutsche
Zeitung» brachte es auf den Punkt: «Eva Ehrlich und David Gall betreiben
keine Gedenkstätte und kein Museum und erst recht kein Reservat für
jüdische Nostalgiker. Vielmehr geht es um ein Stück lebendiger
deutsch-jüdischer Gegenwart, und es ist zu hoffen, dass es «haGalil»
nicht ergeht wie der Klezmer-Musik, die erst geliebt wurde, als es sie
nicht mehr gab.» «haGalil onLine» ist im Internet zu finden unter:
http://www.hagalil.com.
Weitere Schwerpunkte im iw Nr. 31 vom 4. August 2000
- Im Brennpunkt:
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- Israel:
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- Basel: Rabbinerwahl:
Der neue Kandidat
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