
iw 2000 / TSh''S
Vor fünf Jahren wurde gesagt, die
Lubawitscher
Chabad-Bewegung
würde ohne ihren geistigen Führer, Raw Menachem Schneerson szl.,
den «Rebbe» nicht überleben. Doch heute erstreckt sich Chabads
Reichweite, stärker denn je, über die ganze Welt.
Eine Erfolgsstory (Teil I).
Chabad:
Das mächtige
«Rebbe»-Vermächtnis
iw Nr. 36 vom 8. September 2000
Von Sue Fishkoff («Moment»)
Als sich am 7. November 1999 im
grossen Ballsaal des Hotels Marriott in Brooklyn die Lichter
verdunkelten, blieben zwei Dinge noch immer sichtbar: Ein Meer von
schwarzen Mänteln und Hüten an über 100 weiss gedeckten Tischen und eine
behelfsmässige Mechitza (Trennwand zwischen Männer und Frauen), die
Dutzende elegant gekleideter Frauen von ihren Gatten auf der anderen
Seite trennte.
Es handelte sich um das
Galabankett der jährlich stattfindenden internationalen Konferenz der
Chabad-Lubawitsch-Schluchim (Abgesandte; die Chabadniks benützen den
Ausdruck «Schluchim», die aschkenasische Aussprache von «Schlichim».
Ebenso sprechen sie von «Schlichus», womit sie den Dienst meinen, den
sie tun, und nicht von «Schlichut»), und mehr als 1300 Chabad-Schlichim
waren von ihren Aussenposten rund um die Welt angereist für ein
Wochenende des Studierens und des Feierns. Der Anwesenheitsappell,
Höhepunkt des Abends, begann. «Argentinien!». «Australien». «Österreich»
(Austria)! Rabbi Mosche Kotlarsky, Entwicklungsleiter der
Schlichim-Organisation von Chabad, verlas die Namen der 109 Länder in
der ganzen Welt, in denen die Bewegung Gesandte hat. Bei jedem Namen,
der verlesen wurde, sprangen ein, zwei oder manchmal ein Dutzend Männer
von ihren Sitzen auf und erhielten Applaus. «Panama, Paraguay, Peru,
Rumänien!» Der Applaus nahm zu, als die Schlichim ihren aus Israel
stammenden Kollegen beglückwünschten, der gerade in Bukarest das neueste
Chabad-Zentrum eröffnet hatte. Kotlarsky machte eine dramaturgische
Pause. Dann, rief er, mit erhobener Stimme: «Russland!» Etwa drei
Dutzend junge Männer – zirka die Hälfte der 52 vollamtlichen
Chabad-Emissäre in Russland (einem Land, das jüdische Erziehung während
70 Jahren verbot und unter sowjetischer Herrschaft gewohnheitsmässig
jüdische Aktivisten verhaftete und folterte, bis 1991 die Tore zur
religiösen Freiheit geöffnet wurden) sprangen unter donnerndem Applaus
und heiseren Hurrarufen aus ihren Sitzen. Im Raum entlud sich ein
spontaner Hora-Tanz mit Klatschen und Gesang und wildem, ausgelassenem
Tanzen, das nicht mehr enden wollte, eine riesige, schwungvolle
Kundgebung, eine politische Tagung ohne TV-Kameras. Pure Freude, pure
Leidenschaft.
Sieben Lubawitscher Rebbes
Dies ist Chabad-Lubawitsch, die
in Crown Heights, Brooklyn, beheimatete chassidische Bewegung, die ihre
Anfänge in den Wäldern des Polen des 18. Jahrhunderts hatte, wo der Baal
Schem Tov und seine Zaddikim (rechtschaffene Männer) ein Judentum
predigten, das mehr von individueller Gottesliebe als von rein
routinemässiger Befolgung der Religionsgesetze abhing. Viele Teile des
Chassidismus entwickelten sich während des nächsten Jahrhunderts, wobei
jeder rund um den «Hof» eines jeweiligen Rebbe oder Zaddik herum wuchs,
der seine Lehren an seine Nachfolger weitergab. Der Hof von
Chabad-Lubawitsch entstand aus den Schriften des Rabbi Schneur Zalman
von Liadi heraus, der 1796 den «Tanya» veröffentlichte, das Buch, das
von Chabadniks noch immer als das Werk verehrt wird, das den Schlüssel
zum jüdischen spirituellen Bewusstsein enthält. «Chabad» ist ein aus
Anfangsbuchstaben zusammengesetztes Wort, abgeleitet aus den hebräischen
Wörtern für Weisheit (chochma), Intelligenz (bina) und Glauben (da‘at);
Lubawitsch ist der Name der Stadt in Weissrussland wo die Bewegung ihren
Anfang nahm. Es hat seit Schneur Zalman sieben Lubawitscher Rebbes
gegeben, jeder ist durch seinen Vorgänger auserkoren worden. Menachem
Mendel Schneerson wurde 1950 zum siebten Lubawitcher Rebbe ausgerufen.
Weil Chabad, wie alle chassidischen Bewegungen, stets viel von seiner
Stärke vom herrschenden Rebbe bezogen hat, wurde vorausgesagt, Chabad
würde zusammenbrechen, als Schneerson im Juni 1994 kinderlos starb.
Schneerson oder «der Rebbe», wie er im Allgemeinen eher genannt wird,
war während 44 Jahren Herz und Seele von Chabad gewesen, geistiger
Führer ebenso wie intellektueller und organisatorischer Mittelpunkt.
Unter seiner Führung wurde aus einer geschlossenen Gemeinschaft von
osteuropäisch orientierten Chassidim eine in der Öffentlichkeit
stehende, weltweit tätige Bewegung, die im US-Kongress ebenso bekannt
ist wie in Crown Heights. Im Januar 1994, als angesichts des im Sterben
liegenden 91-jährigen Rebbe über die Nachfolge spekuliert wurde und
Gerüchte über Machtkämpfe kursierten, beschloss die Chabad-Führung, dass
Schneerson der letzte Rebbe sein würde. Sie gaben keine offizielle
Begründung dafür, was bei einigen Lubawitschern eine fast verzweifelte
Erwartung auslöste, dass der Rebbe der Messias wäre. Dadurch, dass die
meisten Führer der Bewegung dies, zumindest öffentlich, bestritten,
drohte der messianische Eifer die Bewegung auseinanderzureissen.
Infrastruktur
um fast 30 Prozent vergrössert
Aber es geschah nicht. Heute,
mehr als fünf Jahre später, ist Chabad stärker, grösser, reicher und
beliebter als je. Es ist fast, als hätte die Bewegung nach Schneersons
Tod ihrem kollektiven Arm einen Adrenalinstoss versetzt, nur um zu
beweisen, der jüdischen Welt und sich selbst, dass sein Vermächtnis ihn
überleben würde. «All die ‚...ologen‘ dachten, wir würden nach
Kalifornien eilen und von einem Felsen springen, als der Rebbe starb,
oder wir würden unsere Bärte abrasieren», sagt Rabbi Yosef Langer, der
das beliebte Chabad-Zentrum von Los Angeles seit bald 25 Jahren führt.
«Aber sie verstehen die Beziehung eines Chassid zu seinem Rebbe nicht.»
Laut dem
Lubawitsch-Welt-Hauptquartier in Crown Heights hat sich die
Infrastruktur der Bewegung seit dem Tod des Rebbe um fast 30 Prozent
vergrössert. Etwas mehr als 3700 Gesandten-Ehepaare arbeiten in mehr als
100 Ländern, wobei sie von fast 50 000 Berufsleuten aus der ganzen
Organisation unterstützt werden.
Etwa 400 Schlichim «gingen hinaus» oder traten ihre Posten in den
letzten fünf Jahren an. Mehr als 511 neue Chabad-Institutionen sind
errichtet worden, darin inbegriffen 406 neue Einrichtungen, die ohne
Vorgabe, aus dem Nichts, gekauft oder eingerichtet wurden, was die
Gesamtzahl an Institutionen weltweit – Seminare, Tagesschulen,
Ferienlagerplätze und so weiter – auf fast 2600 ansteigen liess.
Offizielle in Brooklyn behaupten, fast eine Million Kinder rund um den
Globus hätten im vergangenen Jahr an Chabad-Aktivitäten teilgenommen.
Chabads Investitionen in seine Infrastruktur in den letzten paar Jahren
waren höchst erstaunlich: Ein Gebäude für vier Millionen Dollar in Boca
Raton, eine Stiftung in Buenos Aires für 14 Millionen Dollar, ein
jüdisches Gemeindezentrum in Moskau für 7 Millionen Dollar, ein 1,5
Millionen Dollar teurer Synagogenkomplex in Krasnoyarsk in Sibirien und
eine Mädchenschule für 15 Millionen Dollar in Paris. Praktisch das
gesamte Geld für die Projekte in Boca Raton und Buenos Aires wurde in
den lokalen jüdischen Gemeinschaften gesammelt; das Geld für die
russischen Projekte kam hauptsächlich von Spendern von ausserhalb der
früheren Sowjetunion, aber auch dieses wurde durch Chabad-Schlichim an
der Front gesammelt.
Die Kleidung
aus dem 18. Jahrhundert täuscht
Und man lasse sich durch die
Kleidung aus dem 18. Jahrhundert nicht täuschen. Lubawitscher haben
vielleicht keine TV-Geräte in ihren Wohnungen (ausser um Videos zu
Lernzwecken anzuschauen), aber sie haben rasch die moderne Technologie
genutzt, insbesondere das Internet. Chabad war die erste jüdische
Organisation mit einer eigenen Website, chabadonline.com, die alles
anbietet, von Anweisungen, wie Feiertage zu begehen sind, bis zu
detaillierten Antworten auf talmudische Fragen. Der «Lubavitch News
Service» (LNS) versendet per E-Mail wöchentlich kostenlose Artikel –
worin die Chabad-Aktivitäten in der ganzen Welt hervorgehoben werden.
Letzten Sommer ging www.chabadon line.com online, ein Computer-Netzwerk,
das jeden Chabad-Schaliach auf der ganzen Welt mit einem Webzine
verbindet, das wöchentlich aktualisiert wird. Dies erlaubt jedem Rabbi,
seinen eigenen Veranstaltungsplan hinzuzufügen, so dass ein Jude überall
herausfinden kann, welche Aktivitäten an einem bestimmten Ort angeboten
werden. Passover.net und Chanukah99.com, ein und drei Jahre alt, sind
möglicherweise die umfassendsten Websites, die den beiden Feiertagen
gewidmet sind, und Kehotonline.com, das im November lanciert wurde,
bietet Chabad-Publikationen zum Kauf an. «Wir haben noch viel grössere
Pläne in Arbeit», sagt LNS-Direktor Zalman Shmotkin, der die meisten
dieser Projekte aus dem Hauptquartier der Bewegung beaufsichtigt. Schon
heute, sagt er, werde chabadonline.com mehr als eine Million Mal pro
Woche angeklickt.
Chabad’s Expansion allein in der
früheren Sowjetunion ist phänomenal. 1994, als der Rebbe starb,
arbeitete Lubawitch in acht Städten, vorwiegend in Russland. Heute haben
sie 150 vollamtliche Gesandten-Ehepaare in 55 Städten in Russland, der
Ukraine, Moldawien, den baltischen Staaten und Zentralasien, mit 7400
Kindern, die in ihren religiösen Schulen lernen. Chabad ist die
treibende Kraft in der neugegründeten Federation of Jewish Communities
of the Commonwealth of Independent States (CIS), die 82 jüdische
Gemeinden erstmals in einem organisatorischen Rahmen zusammengebracht
hat. Nur die Reformbewegung kommt Chabad bezüglich Ausdehnung in der
früheren Sowjetunion nahe; ihr erster Schub kam spät, 1997, und sie hat
nun mehr als 80 Gemeinden, aber nur drei vollamtliche Rabbiner. Die
konservative Gemeinde muss in Russland noch Anstrengungen unternehmen,
während die Orthodoxen sich de facto mehr oder weniger Chabad gebeugt
haben.
Niemand weiss genau, wie gross
Chabad, gemessen an der Anzahl vollumfänglich zur Bewegung gehörender
Lubawitcher, wirklich ist. Es gibt keine Mitgliederliste, keine
offizielle Zählung. Aber Zahlen, sagt Samuel Heilman, Professor für
Soziologie und jüdische Studien an der City University von New York,
erzählen nicht die ganze Geschichte. «Ihr Einfluss kann nicht an der
Anzahl Männer mit schwarzen Hüten gemessen werden, die sie haben. Der
Einfluss von Chabad bemisst sich an der Anzahl Juden, auf die sie je
einen Einfluss gehabt haben. Das ist es, was sie bedeutsam macht.»
Tatsächlich ist die Durchdringung
von Chabad-Lubawitsch in der jüdischen Welt so vollständig, dass die
Verantwortlichen in Brooklyn selbstsicher verkünden, ihre
Feiertagsprogramme erreichten zehn Millionen Juden im Jahr, drei Viertel
der jüdischen Weltbevölkerung. Velvel Green, Professor der Ben-Gurion
Universität und Autor des Buches «Life on Mars», scherzte nur zur
Hälfte, als er letzten November sagte: «Früher oder später werden wir
einen Astronauten auf den Mars bringen, und er wird dort einen
Lubawitscher Schaliach treffen.»
Geld und beachtliche
Infrastruktur
Was ist der Schlüssel zum Erfolg
der Bewegung? Sie haben Geld, sicher, und viel davon wird durch
nichtorthodoxe Juden gespendet. Sie haben eine beachtliche
internationale Infrastruktur. Aber in erster Linie war der Grund für die
fortgesetzte Vitalität und das phänomenale Wachstum von Chabad in jenem
Ballsaal im Brooklyn Mariott Hotel: Die Schlichim. Tausende von
gescheiten, idealistischen jungen Männern und Frauen voller
Begeisterung, Energie und Ahawat Israel (Liebe zum jüdischen Volk) –
eigentlich Kinder, wenig über zwanzigjährig, die komfortable Heime und
ihre Familie verlassen und nach Fairbanks oder Salzburg oder Hongkong
oder Chabarovsk ziehen, wo sie ihr Leben der Aufgabe widmen,
Chabad-Zentren zu betreiben, die sie normalerweise selber, von Grund
auf, aufbauen. Und sie tun es, sagen sie, weil es der Rebbe so will.
«Wir führen die Revolution des Rebbe fort», sagt eine Lubawitch-Frau
anfangs zwanzig, die kürzlich mit ihrem Gatten von Brooklyn in eine
Stadt im russischen Fernen Osten gezogen ist. Diese Revolution begann
1950, unmittelbar nachdem Schneerson bei Chabad das Ruder übernommen
hatte, als er ein Schaliach-Paar von Brooklyn nach Marokko sandte, womit
er die «Outreach»-Kampagne begann, für die Chabad heute so bekannt ist.
Heute verlassen jede Woche zwei oder drei Ehepaare Brooklyn nach fernen
Destinationen, bereit, Tora zu lehren und die Botschaft des Rebbe zu
verbreiten, dass jeder Jude ein wertvoller Teil des gesamten jüdischen
Volkes sei.
In jeder Stadt:
McDonald’s und – Chabad
«Chabad hat die grösste Armee von
Leuten in der jüdischen Welt, die bereit sind, an der Schwelle zur Armut
zu leben», sagt Arthur Hertzberg, Professor an der New York University,
bekannter Historiker und Autor des Buches «The Zionist Idea». Hertzberg
war nicht von je her ein Freund von Chabad. Als vor sechs Jahren um den
sterbenden Rebbe die messianische Bewegung aufzukommen begann, sagte
Hertzberg in der «New York Times», Chabad habe «die ganze Aura von
Sabbatai Zevi (des bekannten falschen Messias des 17. Jahrhunderts).»
Seine persönlichen Begegnungen mit Schlichim von Chabad hätten seine
Ansichten verändert, sagt er. Hertzbergs Tochter, frühere Präsidentin
einer konservativen Gemeinde in Fresno, Kalifornien, schickt ihre Kinder
in die dortige Chabad-Schule, eine Tatsache, die Hertzberg mit Stolz
erwähnt.
«Diese 3500 Leute sind die
heiligste Gruppe in der heutigen jüdischen Welt», erklärt er. «Wo immer
ich in den letzten Jahren hingehe, stosse ich auf eines dieser jungen
Paare, die enorm viel
arbeiten. Sie leben von nichts
und sie bleiben dabei. Ich kann ihrer Theologie widersprechen; aber ich
kann sie nur bewundern.»
Posten für den Rest
des Lebens
Der vielleicht erstaunlichste
Aspekt von Chabads Schaliach-System ist, dass Gesandte nicht für zwei
oder drei Jahre «angestellt» werden, wie dies bei der Jewish Agency oder
dem amerikanischen State Department oder sonst einem diplomatischen Job
der Fall ist. Chabad-Schlichim nehmen ihre Posten für den Rest ihres
Lebens ein. Sie verlassen Brooklyn mit einem Einfach-Ticket und ungefähr
einem Jahressalär. Danach wird von ihnen erwartet, dass sie finanziell
selber ihren Weg machen – indem sie für Chabad-Aktivitäten wie
Tagesschulen und privaten Unterricht Geld verlangen, indem sie Gönner
auftreiben und verwandte Stellen in der lokalen Gemeinde annehmen. Das
Lubawitch-Hauptquartier in Brooklyn wird sie mit Büchern und anderem
Quellenmaterial versorgen, aber nach diesem ersten Jahr sind sie
ziemlich auf sich allein gestellt, finanziell und organisatorisch.
«Chabad ist nun eine Marke», sagt
Professor Heilman. «Wie es in jeder Stadt einen McDonald’s gibt, gibt es
auch in jeder Stadt ein Chabad-Haus. Ich nenne es die McDonaldisierung
des Chassidismus. Und genau wie es keinen Original-McDonald’s mehr gibt,
gibt es auch nicht mehr länger ein wirkliches Chabad-Hauptquartier.
Jeder Aussenposten unterhält sich selbst. Der Schwerpunkt ist von Crown
Heights weggezogen.» Schlichim von Chabad sind natürlich keine
Gefangenen. Wenn es mit einem Schaliach-Paar nicht klappt, wird es
zurückgerufen. Aber dass jemand das Feld vollständig räumt, ist so
selten, dass keiner der für diesen Artikel Interviewten sich daran
erinnern konnte, dass es sich je ereignet hätte. «Sie gehen nicht mit
dem Gedanken: ‘Wir wollen es ein oder zwei Jahre lang versuchen’, sie
gehen im Wissen, dass dies der Ort ist, wo sie ihr Leben verbringen
werden», sagt Shmotkin. «Womit? Mit einem Dollar und einem Traum.» Das
genau ist es, was Leah und Avrohom Berkovitz haben werden, wenn sie am
Ende des Sommers Brooklyn für ihr neues Leben in Richtung Russland
verlassen. Avrohom, 23, und Leah, 20, haben letzten Herbst geheiratet.
Ihr erstes Kind wurde vor ein paar Monaten geboren. Avrohom wurde zum
Exekutivleiter der Föderation der jüdischen Gemeinden der früheren
Sowjetunion bestimmt. Leah wird Leiterin der Chabad-Tagesschule werden,
die gegenwärtig 250 Schüler hat. Innert fünf Jahren, sagt sie
vertrauensvoll voraus, werde die Schule mehr als 800 Kinder aufweisen.
Beide haben enorme Verantwortung übernommen in einem Alter, in dem die
meisten amerikanischen Juden noch ihr Studium beenden. Das beunruhigt
sie nicht. «Jung zu sein ist ein Vorteil», argumentiert Avrohom. «Es
bedeutet, dass wir mehr Zeit haben, um die Arbeit zu machen.» Die Kinder
in Russland grossziehen. Wie das für ein Chabad-Paar typisch ist, wurde
das erste Treffen der Berkovitz arrangiert. Sie heirateten nach kurzem
Werben, während dessen sie ihre Verpflichtung zum Leben eines Emissärs
bestätigten. (Bei Chabad wird ein junger Mann, der Schaliach werden
will, nur eine Frau heiraten, die ähnliche Ziele hat). Leah, die in
Kiryat Malachi in Israel aufgewachsen ist, stammt aus einer
Schaliach-Familie; Avrohoms Vater war ein ba’al teshuva, Sohn säkular
ausgerichteter Eltern, und ist nun Chabad-Schaliach in Detroit. Beide
sind mit dem Schaliach-Ideal aufgewachsen, aber das macht es für Leah
auch nicht viel einfacher, darüber nachzudenken, dass sie ihre Kinder in
Russland grossziehen wird. «Ich ziehe nicht wegen der Landschaft
dorthin, das ist sicher», lacht sie. «Wenn ich den Leuten erzähle, dass
wir nach Moskau ziehen, schauen sie mich an, als ob ich verrückt wäre.
Aber es gibt dort so viel Arbeit zu leisten, das Potenzial ist so gross,
es wäre Verschwendung, irgend etwas anderes mit meinem Leben anzufangen.
Es wird gut sein, im ezrat HaShem (mit Gottes Hilfe), da bin ich mir
sicher.» Die jungen Chabad-Schlichim ziehen nicht unvorbereitet in die
Welt. Sie alle haben einen bedeutenden Teil ihrer Teenagerjahre als
Betreuer in einem Camp oder als Tagesschullehrer verbracht, oft in
fremden Ländern, um herauszufinden, ob diese Art von Arbeit zu ihnen
passt. Die meisten jungen Männer, «Bocherim», die in Chabad-Seminarien
studieren, verbringen ihre Sommer- und Winterferien damit, zu zweit auf
einen Chabad-Rundgang zu gehen, unterwegs bei Schlichim-Familien zu
bleiben und in lokalen Gemeinden Überzeugungsarbeit zu leisten. Nach
Jahren der Arbeit in «Mitzvah Tanks» (grosse Fahrzeuge, die durch die
Strassen fahren und aus denen verkündet wird, um welche Zeit Schabbat
beginnt) und improvisierter Tora-Lektionen an weit entfernten Orten hat
ein junger Chabadnik eine recht gute Vorstellung darüber, ob er oder sie
bereit ist, das ganze weitere Leben ähnlicher Arbeit zu widmen.
Leah Berkowitz verbrachte den
Sommer 1998 in Nikolayev in der Ukraine und unterrichtete
russischsprachige Kinder in einer Chabad-Schule. Und Avrohom hat während
Jahren internationale Arbeit für Chabad geleistet – zwei Jahre in
Argentinien und ein Jahr in Uruguay. Er hat auch drei Jahre lang den
Sommer damit verbracht, in Dutzende von Städten zu reisen, wobei er
einen Sederabend in Nepal gestaltete und während der Hohen Feiertage bei
entlegenen Gemeinschaften in Alaska Vorträge hielt. Als ihm letzten
November die Stelle in Moskau angeboten wurde, unternahmen er und Leah
zwei kurze Reisen dorthin, um es zu prüfen, dann beschlossen sie zu
gehen. Für immer.
Wie andere Schlichim, die für
ausländische Posten bestimmt worden sind, hat Avrohom intensiv Russisch
gelernt. Leah spricht die Sprache bereits. «Ich hatte die Wahl
dazwischen, in New York zu leben und hin und zurück zu reisen oder
dorthin zu ziehen. Leah und ich beschlossen, dass wir würden an die
Front gehen müssen, wo unsere Kinder mit den Kindern aufwachsen würden,
mit denen wir arbeiten. Ich muss die Bedürfnisse der Menschen verstehen
und ihre Sprache sprechen. Ich will es fühlen, leben, durch die kalten
Strassen gehen. Ich will Teil der russischen jüdischen Gemeinschaft sein
– dies wird mein Leben sein.» Was motiviert einen jungen Chabadnik, das
Leben eines Glaubensboten zu wählen, weit entfernt von zu Hause, und
eine Botschaft zu verbreiten, die nicht immer auf offene Ohren stösst?
Jeder Schaliach wird sagen, dass
er oder sie dem Ruf des Rebbe gehorche. «Das Vermächtnis des Rebbe,
seine Inspiration sind fühl- und greifbar», sagt Rabbi Yehuda Krinsky,
der langjährige persönliche Sekretär des Rebbe und – als Leiter des
Lubawitch-Welthauptquartiers in Crown Height – der Mann, der am
häufigsten als administratives Oberhaupt von Chabad betrachtet wird.
Aber es sei mehr als das, sagt Shmotkin. «Der Rebbe beeinflusste die
Leute dahingehend, eine persönliche Verantwortung für jeden Juden auf
der ganzen Welt zu empfinden», erklärt er. «Ja, ein Chassid will seinen
Rebbe zufriedenstellen. Aber eine junge Person, die aufsteht und geht?
Es ist unmöglich, diese Leidenschaft nur mit blindem Glauben an den
Anführer zu erklären. Es geht viel tiefer.» Übersetzung: Jonathan
Bodenheimer
(wird fortgesetzt)
iw Nr. 36 vom 8. September 2000
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