Jüdisches Bewußtsein bis
1933 in Deutschland Bestandteil einer vielfältigen soziokulturellen Identität,
geriet durch die NS-Herrschaft zur Identitätsdiffusion. Insbesondere für
jüdische Schulkinder und Jugendliche wurde die Identitätentwicklung zu einem
Problem. Die damals "hautnah erfahrenen" Ablehnungen, Herabsetzungen,
Aggressionen seitens nichtjüdischer Lehrer, Schul- und Spielkameraden sowie
feindseliger Erwachsener etc., wirkten sich zwangläufig destruktiv aus und
äußerten sich in einer "Zersplitterung des Selbstbildes", einem "Verlust der
Mitte" und in einem "Gefühl der Verwirrung".
Dem suchten Eltern und
Lehrer entgegenzutreten und unternahmen alle Anstrengungen, den Heranwachsenden
die Entwicklung einer positiven, stabilen Identität zu möglichen. Trotz
vielfältiger Ausgrenzungen und Anfeindungen gelang ihnen der Aufbau einer von
den Schülern intellektuell und emotional akzeptierten kulturellen und sozialen
Gegenwelt zur nationalsozialistisch geprägten Kultur und Gesellschaft. Diese
Gegenwelt führte zur Rückbesinnung auf jüdische Lerninhalte und zum
Wiederaufleben der jüdischen Schule. Einst als konservativ-rückschrittlich
verworfen, erlebte sie nun eine unvorstellbare Aufwertung, indem sie nicht nur
eine selbstverständliche jüdische Atmosphäre vermittelte, sondern den bedrängten
jüdischen Kindern und Jugendlichen auch Geborgenheit gab.
Die zentralen Elemente
des Judentums: Judentumskunde, Hebräisch, jüdische Geschichte sowie Feste und
Gedenktage bildeten das Kernstück auf dem Weg zur Formung des neuen jüdischen
Bewußtseins als pädagogisch-didaktisches Postulat zur jüdischen Durchdringung
des Unterrichts. Als Tenor galt: "Die Schule soll von einem sich selbst
begreifenden jüdischen Geist durchdrungen sein. Das heranwachsende Kind soll
sich seines Judeseins in gesundem Bewußtsein sicher werden. Zur Erreichung
dieses Ziels ist das Jüdische in den Mittelpunkt aller dafür in Betracht
kommenden Unterrichtsfächer zu stellen."
Der innere Prozeß zur
Herausbildung einer stabilen jüdischen Identität, obgleich für assimilierte
Juden schwer oder gar unmöglich, begleitete den Weg zurück zum Judentum und
sicherte zugleich dessen Existenz.
Das "katastrophische Ende
jüdischen Lebens" in Deutschland, das gleichermaßen das Ende jüdischen Lernens
und jüdischer Erziehung bedeutete, offenbart die Bruchlinien jüdischer Existenz,
die die deutsche Geschichte durchziehen. Dieses Ende der "deutsch-jüdischen
Symbiose" - Worte Martin Bubers von 1937 - kennzeichnet den Bruch mit der
gemeinsamen Geschichte. Alle Chancen diese Bruchstellen und Risse zu heilen
schienen - zumindest unmittelbar nach der Schoah - vergebens.
Die Annahme, Deutschland
sei mit Blick auf die Judenheit für alle zukünftigen Generationen und Zeiten ein
tabuisiertes Land, hat sich nicht bewahrheitet.
Heute, fünfzig Jahre nach dem Wiederaufleben jüdischer Gemeinden gibt es neue
Ansätze jüdischen Lebens und jüdischen Lernens.
Im Blickpunkt stehen in diesem Zusammenhang die in den letzten Jahrzehnten
gegründeten jüdischen Elementarschulen in Frankfurt, München, Berlin und
Düsseldorf, wobei Berlin seit 1991 auch über eine sog. Oberschule mit Realschul-
und Gymnasialzweig verfügt.
Ungeachtet ihrer
marginalen Stellung innerhalb der deutschen "Schullandschaft" kann die jüdische
Gemeindeschule auf ihre Schlüsselrolle verweisen, wenn es darum geht, die
Bedeutsamkeit jüdischen Lernens in der Gegenwart herauszustellen.
Auf der Basis einer
nahezu 200 Jahre währenden jüdischen Schultradition ist das Interesse heutiger
jüdischer Schulen erneut auf eine schulische Lebenswelt mit einer spezifischen
jüdischen Atmosphäre gerichtet, die das Jüdische in den Mittelpunkt stellt. Die
jüdische Schule der Gegenwart beabsichtigt jedoch nicht den Aufbau einer
Gegenwelt, sondern sucht moderne Bildungsziele mit der jüdischen Tradition zu
verbinden. Ihr Schwerpunkt ist allerdings die Rückbesinnung, d,h. das Lernen
jüdischer Inhalte, Werte und Normen. Mit Hilfe der zentralen Elemente des
Judentums: Religions- und Torahkunde, Hebräisch, jüdische Geschichte
einschließlich der Feste, Feier- und Gedenktage will sie gleichermaßen
normativen Zaun und Schutz mit verläßlichen Bindungen und Orientierungen bieten,
letztendlich aber auch existenzsichernden Schonraum innerhalb einer
nichtjüdischen Gesellschaft.
Eine Arbeit von Dr.
Barbara Breidenbach
Lernen als Existenzform
Onlineversion 2000 (I. bis
IV.Teil)
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