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Es ist das Judentum, das
wie kein anderes Volk Möglichkeiten für eine lebenslange Lernmotivation und
-fähigkeit eröffnet hat, wobei die jüdische Kultur bislang als die einzige gilt,
in der zudem das Ideal des lebenslangen, autonomen Lernens in großem Umfang zur
Wirklichkeit wurde. Die jahrtausendalte spezifische Lernkultur der Juden besitzt
eine bemerkenswerte Vorrangstellung, da sie über ein vielseitig einsetzbares und
erprobtes Instrumentarium zur Problemlösung und Bewußtseinsbildung verfügt. D.h.
jüdisches Lernen - ob im engeren traditionellen oder im weiteren modernen
säkularen Sinne findet überall dort statt, wo es um Auseinandersetzung und
Zugehörigkeit zum Judentum geht.
Grundsätzlich darf davon
ausgegangen werden, daß das Lernen für den traditionell lebenden Juden keinerlei
Rechtfertigung bedarf: Schließlich bezeugen Tora und Talmud eine Mizwa, ein
göttliches Gebot: "[...] einschärfe sie deinen Söhnen, rede davon, wann du
sitzest in deinem Haus und wann du gehst auf den Weg, wann du dich legst und
wann du dich erhebst." (5. Mose 6,7; "[...] laß das Buch dieses Gesetzes nicht
von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, daß du hältst und
tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht" (Josua 1,8) (zit.
nach Buber/Rosenzweig 1930).
In der jüdischen
Tradition bedeutet Lernen für den Einzelnen nicht etwa eine zeitweilige
Beschäftigung, die vom übrigen Leben losgelöst ist, sondern einen quasi "Tag und
Nacht währenden Prozeß". Unter Mobilisierung aller personalen und
nicht-personalen Quellen bedarf es der aktiven Hinwendung zu den Lerninhalten
als Hauptdaseinszweck: "Beschränke dein Gewerbe, und widme dich dem Studium der
Tora" (Sprüche der Väter 4,12).
Samson Raphael Hirsch, der Begründer der Neuorthodoxie, hat in diesem
Zusammenhang darauf hingewiesen, daß es unter den Juden nur wenig "künstliche
Veranstaltungen" gegeben habe. Er forderte, man solle nicht Anstalten gründen,
sondern das Lernen lernen.
Das didaktische
Arrangement außerhalb der jüdischen Tradition ist im wesentlichen durch das
Lehrer-Schüler-Verhältnis bestimmt. Bücher, wie auch nicht-personale Medien
treten nur bei Bedarf hinzu. Hingegen heißt jüdisches Lernen vorzugsweise
"Buchlernen", es ist also durch das Schüler-Buch-Verhältnis bestimmt, und der
Lehrer tritt - als Kommentator, Helfer, Tutor - nach Bedarf hinzu. Mit Buch
ist Sefer ha sforim, das Buch der Bücher gemeint, wobei der Talmud und die
rabbinischen Schriften miteinbezogen sind, während die säkulare Bedeutung vom
Buch als Träger aller denkbaren sakralen und profanen Informationen ausgeht.
Jüdisches Lernen kann
folglich dem Kern nach als "Autodidaxie" betrachtet werden, denn es wird nur
zeitweise durch andere Lernende oder Lehrende unterbrochen. Diese
"Präsenzphasen" sind vorrangig von Dialog und Diskurs geprägt:
"Wenn du lehrst, lernst
du, [...] die Tora kann man nur gemeinsam studieren", sagen jüdische
Spruchweisheiten. Die Autorität des More (des Lehrers) bleibt zum einen
unbestritten, zum anderen vollzieht sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis der
jüdischen Tradition nicht in hierarchischer Abhängigkeit, sondern ist in einem
wechselseitigen, gemeinsamen Lernprozeß begründet.
Ursprünglich verfügte
jede jüdische Gemeinde über ein "Lehrhaus" - oft nur ein Zimmer, das vom Betsaal
getrennt war, häufig identisch mit der Jeschiwa (weiterführende Lernstätte, zu
der jeder Jude in unbegrenztem Zeitraum Zugang hatte) -, in dem sich die
erwachsenen Männer zum "Lernen" trafen. Hierbei wechselten individuelles Lesen
und Diskussionen ab; die vorherrschende Kommunikationsform war eine egalitäre,
bei der jeder die Chance hatte, zu Worte zu kommen und keine - auch keine
rabbinische - Autorität dominierte!
Obgleich die diskursive
Auseinandersetzung im traditionellen jüdischen Lernen als lern- und
denkförderlich gilt, richtet sich die Aufgabe primär an den Einzelnen und bedarf
nicht grundsätzlich des sozialen Bezugs einer Chederklasse (trad. jüdische
Elementareinrichtung) oder einer Jeschiwa.
Das Lernen selbst
bedeutet keineswegs ein klassen- oder schichtenspezifisches Privileg Einzelner,
sondern ist traditionsgemäß die Sache aller - zumindest aller Männer. Zudem
beschränkt es sich keineswegs nur auf Kindheit und Jugend, es erstreckt sich
über das ganze Leben. Niemand wird als zu alt erachtet, um seinen religiösen
Lernpflichten nachzukommen, denn es heißt: "Wer die Tora lernt, dem kann der
Todesengel nichts anhaben."
Eine Arbeit von Dr.
Barbara Breidenbach
Lernen als Existenzform
Onlineversion 2000
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