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Avi Primor
»...mit
Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn
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IId.Teil
Annäherungen
Dennoch, jede neue Erfahrung will verarbeitet
sein, bevor sie sich wie ein Mosaikstein zu älteren fügt. Bis dahin hatte
ich eine Menge über Deutschland gelernt, in vieler Hinsicht aber erschien es
mir nach wie vor fremd und unverständlich, wenig anziehend, ja eigentlich
störend und abweisend. Es mußten noch viele Jahre vergehen, bis aus den
Mosaiksteinen ein halbwegs geschlossenes und in seinen Farbwerten
abgestuftes Bild entstand.
Die Nachkriegszeit bescherte Israel besonders
schwierige Probleme. Im Vordergrund standen der Widerstand gegen England und
der Kampf um die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit. Allein der
Untergrundkrieg, der die britischen Mandatsträger zwingen sollte, die
Überlebenden der Konzentrationslager aus Europa ins Land zu lassen, und die
diplomatischen Bemühungen bei den Vereinten Nationen, das Mandat zu beenden,
erforderten enorme Anstrengungen, zumal es starke Kräfte gab, die den neu zu
schaffenden Staat Israel bereits im Keime ersticken wollten. Der Gedanke an
Deutschland spielte dabei trotz aller Schrecken, die von ihm ausgegangen
waren, mehr eine untergeordnete Rolle. Zumindest emotional standen uns
Fragen, die mit unserer Zukunft zu tun hatten, entschieden näher.
Dabei waren zweifellos auch
Verdrängungsmechanismen im Spiel. Es ging nicht nur darum, Deutschland zu
ignorieren. Die Mehrzahl der Israelis wollte auch, ohne die Ursachen recht
zu begreifen, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg aus dem Gedächtnis
tilgen. Und die Deutschen selbst? Ihnen mußte im Rückblick die NS-Zeit
zumindest als unangenehm erscheinen. Viele sahen sie indessen als eine trotz
allem glorreiche Periode ihrer jüngeren Geschichte an, von der in diesem
Sinne zu reden im Moment nur nicht als salonfähig galt. Für uns war die
Erinnerung einfach nur schmerzlich, allzu schmerzlich. Um Geist und Körper
zu schonen, mußte man den Schmerz verdrängen. Ich kenne eine Frau, deren
Mutter Auschwitz überlebt, ihrer Tochter aber bis zu deren achtzehntem
Lebensjahr so gut wie nichts von ihren furchtbaren Erlebnissen berichtet
hat. Sie besaß nicht die Kraft, sich an die Greuel zu erinnern, bemühte sich
nur, ihre Gedanken unablässig mit anderem zu beschäftigen.
Für Menschen wie mich, die nie persönlich
unter den Nazis gelitten haben, bedeutete die NS-Zeit – über alles damals
Geschehene hinaus – eine derart tiefe Demütigung, daß man sie, um sein
Gleichgewicht zu wahren, verdrängen mußte. Das gelang nicht immer. Der
Eichmann-Prozeß in Jerusalem etwa riß noch nicht vernarbte Wunden auf, bei
jedem aber waren die Folgen andere. So erinnere ich mich, daß ich, völlig
hypnotisiert, bis zum Schluß keinen der Prozeßberichte ausließ, obwohl ich
mir jeden Tag aufs neue schwor, den Verlauf der Verhandlungen nicht weiter
zu verfolgen. Sobald er aber vorbei war, wollte ich vom Prozeß nichts mehr
hören – ich verdrängte ihn und alles, was dazu geführt hatte.
Zu welchen eigentümlich irrationalen, der
Kontrolle von Vernunft und Verstand entzogenen Brüchen es kommen konnte,
wenn man sich der Techniken des Verdrängens bediente, zeigt eine Episode, in
der ich selbst im Mittelpunkt stand – zweifellos ist sie mir deshalb in so
peinlicher, noch heute unangenehmer Erinnerung. Anfang der siebziger Jahre
war ich bei einem Freund, Jean François Kahn, einem bekannten Pariser
Journalisten, zum Abendessen geladen. Unter den Gästen war auch Simone
Signoret, die berühmte Schauspielerin. Sie war gerade von einer Reise nach
Osteuropa zurückgekehrt und berichtete leidenschaftlich erregt von
ehemaligen Konzentrationslagern, die sie dort besichtigt hatte. Mir schien
das alles unerträglich, und um aus der ewigen Teufelsspirale der
Holocaust-Geschichten auszubrechen, fiel mir nichts Dümmeres ein als zu
erzählen, auch ich sei soeben von einer Reise zurück, nämlich aus Los
Angeles, total überwältigt von der dortigen Hauptattraktion, dem schönen,
berühmten Disneyland. Was die Anwesenden in diesem Moment dachten, spiegelte
sich in den Gesichtern, es wurde kein Wort mehr gesprochen. Allein der
Hausherr rettete dann den Abend, indem er rasch ein anderes Thema anschnitt.
Neben denen, die ihre Erinnerungen mehr oder
minder erfolgreich verdrängten, und anderen, die unentwegt, wie unter einem
starken inneren Zwang, von ihren Holocaust-Erfahrungen sprechen mußten, gab
es bei uns nach dem Krieg Menschen, die an nichts anderes als an Rache
dachten. Der Gedanke, an Deutschland Vergeltung üben zu müssen, ließ sie
nicht los, tatsächlich aber kam es nur einmal zu einem ernsten Versuch, mit
gezielten Aktionen die Untaten der Nazis zu rächen. Das israelische
Fernsehen berichtete darüber im Rahmen der Sondersendungen anläßlich des
fünfzigsten Jahrestags des Kriegsendes. Einige der ehemaligen Akteure, die
dabei zu Wort kamen, erinnerten sich, wie sie sich 1945 mit jungen
KZ-Überlebenden und vormaligen Partisanen, sämtlich Juden, zu einer
sechzigköpfigen Gruppe zusammenschlossen. Ihr Ziel sahen sie in der
Erfüllung jener Forderung, die Juden vor ihrer Ermordung an Orten ihrer Qual
hinterlassen hatten, vielfach mit Blut geschrieben: Rache.
Der Anführer der Gruppe, die sich »Rächer«
nannte, war ein ehemaliger Untergrundkämpfer, der Dichter Abba Kovner. Ihm
und seinen Gefährten ging es ausschließlich um die Tötung von Deutschen,
»weil das ganze deutsche Volk hinter Hitler stand und mit ihm begeistert die
Verbrechen gegen die Juden verübt hat«. Entsprechend sah einer der Pläne die
Vergiftung von Trinkwasservorräten in zwei deutschen Städten vor. Das
Vorhaben scheiterte an der Aufmerksamkeit jüdischer Behörden in Palästina,
der künftigen israelischen Regierung, die Verdacht schöpfte, als die
»Rächer« sich anschickten, größere Giftmengen zu besorgen.
Auch ein zweiter Giftanschlag der Gruppe
führte zu keinem Erfolg, jedenfalls nicht zum erhofften. Er galt
SS-Gefangenen in einem amerikanischen Lager in Nürnberg. Die »Rächer« hatten
herausgefunden, daß das Brot, mit dem die Gefangenen verpflegt wurden, nicht
aus einer amerikanischen Heeresbäckerei stammte, sondern in einem deutschen
Betrieb hergestellt wurde. Als Arbeiter getarnt, gelang es einigen der
jungen Männer, Gift – diesmal aus eigener Produktion – in die Brotfabrik zu
schmuggeln und damit eine gesamte, für das Gefangenenlager bestimmte
Tageslieferung zu bestreichen. Eine gewisse Wirkung ließ sich nicht
verkennen: Fünfzehntausend SS-Leute »litten« einen Tag lang unter mehr oder
minder heftigen Leibschmerzen. Damit war auch diese Aktion der »Rächer«
beendet.
Die Juden in Palästina verfolgten die
Unternehmungen der Gruppe, soweit sie bekannt wurden, mit Sympathie, nahmen
sie aber nicht sonderlich ernst. Wie bald sie in Vergessenheit gerieten,
zeigt die personale Konstellation des ersten Militär-Geheimtreffens zwischen
Israelis und Deutschen. Es ging um Möglichkeiten einer Zusammenarbeit im
Rüstungsbereich. Hauptverhandlungspartner dieser Konferenz, die im Dezember
1957 in Bayern stattfand, waren Shimon Peres und Franz Josef Strauß. Peres
wurde außer von Asher Ben Natan, der mir von den »Rächern« erzählt hatte,
von General Chaim Laskov begleitet. Laskov, damals noch Stellvertreter des
Oberbefehlshabers der israelischen Streitkräfte Moshe Dayan – im
darauffolgenden Jahr trat er dessen Nachfolge an –, hatte 1945 bei den
»Rächern« eine maßgebliche Rolle gespielt. Jetzt saß er ohne erkennbare
Hemmungen mit seinen Generälen im Haus des deutschen Verteidigungsministers,
um Möglichkeiten einer Kooperation zu erkunden ...
Im Bewußtsein der jüdischen Bevölkerung
Palästinas hat das Holocaust-Thema in der Nachkriegszeit einen dominierenden
Platz eingenommen, auch wenn es in der Öffentlichkeit nicht ständig im
Vordergrund stand. Es gab Herausforderungen, deren Lösung uns, wie gesagt,
dringlicher, auch hoffnungsträchtiger erschien. Die Würfel über unsere
Zukunft sind damals gefallen. Wir bereiteten uns auf die Staatsgründung vor,
wir mußten uns militärisch verteidigen, und die Aufnahme der Flüchtlinge,
meist Überlebende der Konzentrationslager, aber auch Juden aus arabischen
Ländern, war uns nicht nur eine moralische Pflicht, sie wurde mehr und mehr
zu einer Aufgabe von historischer Größe. Deutschland glaubte man neben allem
verdrängen zu können.
Was erwarteten wir von diesem Land
eigentlich? Wer der Frage nachging, der fühlte sich nicht selten an das
historische Beispiel Spaniens erinnert. Die Geschichte der dort einst
ansässigen Juden, ihre reiche Kultur, ihr hohes öffentliches Ansehen und die
Tatsache, daß sie im Mittelalter in den Augen anderer jüdischer
Gemeinschaften in Europa, aber auch in der islamischen Welt eine Elite
darstellten, vorbildhaft und mit vermeintlich dauerhafter Präsenz – all dies
hat sich unserem Volk ebenso tief eingeprägt wie das Wissen um das
plötzliche Ende jener Hochblüte jüdischen Lebens und jüdischer Geistigkeit.
Aus heutiger historischer Sicht könnte man sagen, daß die 1492 aus Spanien
vertriebenen Juden bis zu dem Tag, da sie ihre Heimat verlassen mußten,
offenbar die Gefahren des christlichen Fanatismus, die Macht der Inquisition
und das Potential an Grausamkeit unterschätzt haben, Instrumente, welche die
Spanier später auch auf ihren Eroberungszügen in Mittel- und Südamerika
einsetzten.
Der Bann, den die spanischen Juden gegen das
Land aussprachen, das sie rücksichtslos vertrieb, ihr Schwur, nie mehr
Kontakte mit Spanien oder Spaniern zu unterhalten, hielt offiziell genau
fünfhundert Jahre. Während des Zweiten Weltkriegs, in der Franco-Ära, fanden
hier zwar jüdische Flüchtlinge gelegentlich Asyl, wenn auch nicht immer
unter besten Umständen. Zur Aufhebung des Banns kam es jedoch erst 1992, als
sich der israelische Staatspräsident Chaim Herzog und König Juan Carlos von
Spanien zur längst überfälligen Aussöhnung trafen.
Erstaunlich ist dennoch die Treue, welche die
Juden spanischer Herkunft über alle Jahrhunderte hin in ihren neuen
Gastländern zur Kultur und Sprache Spaniens bewahrt haben. Noch heute, wenn
Nachkommen die Heimat ihrer Vorväter besuchen, bewundern die Einheimischen
die selten gewordene klassische Reinheit ihres Spanisch. Mich erinnert das
ein wenig
an meine Mutter. Sie, die von Deutschland nichts wissen wollte, konnte und
mochte nicht von der Sprache ihrer Kindheit lassen.
Es lag nach dem Krieg nahe, an Spanien und an
den Bann als Vorbild für unsere künftigen Beziehungen zu den Deutschen zu
denken. Was hatten die Spanier uns angetan? Gewiß, sie hatten zahllose
Angehörige unseres Volkes entwürdigt und vertrieben, sie jedoch nicht
ermordet. Selbst die Vertreibung ließ sich umgehen, wenn die Betroffenen
sich zum Christentum bekehrten. Bedeutete dies nicht, daß der damalige
Antisemitismus in Spanien sich nicht einmal nachträglich rassistisch
begründen ließ, da man doch mit der Taufe, sofern man sie vollziehen ließ,
weiterhin als Spanier akzeptiert und entsprechend behandelt wurde? Mit dem
Holocaust jedenfalls war das alles unvergleichbar.
Tatsächlich haben die Nazis den in
Deutschland bis dahin völlig integrierten Juden keinen Ausweg aus ihrem
Schicksal gelassen, auch nicht den ultrapatriotisch gesinnten. Ein Jude,
mochte er noch so an eine Symbiose zwischen Deutschen und Juden glauben,
mochte er Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und womöglich Träger des
Eisernen Kreuzes sein oder Familienmitglieder als Kriegsopfer verloren haben
– die Zahl der jüdischen Gefallenen lag proportional höher als die der
übrigenBevölkerung –, er konnte, weil er als Jude geboren war, dennoch nicht
der Verfolgung entgehen, an deren Ende die physische Vernichtung stand.
Im Jahr 1933 lebten in Deutschland etwa
495000 Juden. Nach den Rassentheorien der Nazis lag die Zahl jedoch weit
höher: Juden waren für sie auch solche christlichen Glaubens und ihre
Nachkommen. Die sogenannten Deutschen Christen, eine Bewegung innerhalb der
evangelischen Kirche, strebten schon zu Beginn der Nazi-Herrschaft die
Ausscheidung aller »jüdischen Elemente« an und untersagten ihren Pfarrern
das gemeinsame Gebet mit getauften Juden – eine Maßnahme, der dann die
Bekennende Kirche massiv entgegentrat.
Eine damals viel erzählte Geschichte spielt
auf die antijüdischen Tendenzen innerhalb der Kirche an, speziell auf deren
Haltung gegenüber den Judenchristen: Am Anfang des Sonntagsgottesdienstes
wendet sich der Pfarrer vom Altar aus an seine Gemeinde mit den Worten: »Ich
bitte alle Christen jüdischer Abkunft, die Kirche zu verlassen.« Als sich
niemand aus den Bänken erhebt, wiederholt er die Bitte erst ein-, dann ein
zweites Mal. Als die Gemeinde immer noch reglos verharrt, verlangt er, nun
mit besonders strengem Nachdruck, alle Christen jüdischer Abkunft hätten
sich sofort aus der Kirche zu entfernen. Da hört er ein Geräusch hinter
sich, blickt sich um und sieht, wie Jesus vom Kruzifix herabsteigt und
langsam den Kirchenraum verläßt. »Danke«, sagt der Pfarrer, »und nun wollen
wir mit dem Gottesdienst beginnen.«
Im mittelalterlichen Spanien konnte sich
derlei natürlich nicht ereignen. Aber wenn es richtig gewesen war, fragte
man sich, einen Bann gegen Spanien zu verhängen, wäre da ein gleiches
Vorgehen gegen Deutschland mit ähnlichen Konsequenzen nicht das
allermindeste, was in Anbetracht der Nazi-Verbrechen geboten schien?
Tatsächlich aber haben wir nach dem Krieg nichts gegen die Deutschen
unternommen. Im Unterschied etwa zu den Russen, Polen und Tschechen waren
wir nicht an der Vertreibung von Deutschen beteiligt, wir enteigneten sie
nicht und beschlagnahmten kein deutsches Eigentum. Wir beteiligten uns auch
nicht an Prozessen gegen Nazi-Verbrecher, ausgenommen solchen, in denen die
Angeklagten Juden waren, die mit den Nazis kollaboriert hatten. Bis zum
Eichmann-Prozeß 1961 haben wir auch keine direkten Verfahren gegen Nazis,
die sich schuldig gemacht hatten, eingeleitet; niemand von ihnen wurde
aufgrund seiner Taten zu Haftstrafen verurteilt oder gar hingerichtet. Man
sollte uns, so die weitverbreitete Meinung, mit diesem Land und diesem Volk
in Ruhe lassen. Kurz, wir waren die Deutschen leid, wollten einfach nichts
von ihnen wissen.
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Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin
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