Avi
Primor:
»...mit Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn
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I. Teil - b:
Deutschland – ein weisser Fleck
Uns als Angehörige einer Minderheit zu
begreifen, kam uns nicht in den Sinn. Daß wir Feinde hatten – anfangs, in
der Zeit meiner Kindheit, die Engländer, später die Araber, stellte uns
Ländern und Völkern gleich, die ebenfalls um ihre Selbstbestimmung kämpften.
Was unsere Freiheitsbestrebungen angeht, so hatten sie mit Antisemitismus
und dessen Abwehr so gut wie nichts zu tun, um so gründlicher aber hat man
uns in der Schule über die Judenverfolgungen und ihre Ursachen aufgeklärt.
Ganz der Aufsicht unserer von der Kolonialmacht unabhängigen autonomen
Behörden unterstellt, erfolgte der Unterricht in hebräischer Sprache und
gemäß den Richtlinien des allgemeinen Erziehungs- und Bildungsprogramms, in
dem die Vermittlung der jüdischen Geschichte natürlich einen der
Hauptschwerpunkte bildete. Ich erinnere mich, wie ich mir erste
welthistorische Kenntnisse durch das Erlernen der Geschichte des jüdischen
Volkes aneignete, sie gewissermaßen nebenbei und fast zwangsläufig erwarb.
Die Darstellung der Lage jüdischer Gemeinschaften im Europa zur Zeit der
Kreuzzüge etwa kam ohne erklärende Hinweise auf Entstehung und Bedeutung
dieser Unternehmungen nicht aus. Und wer verstehen wollte, was mit den
polnischen und ukrainischen Juden im 17. Jahrhundert geschah, kam nicht
umhin, in die Geschichte der Polenherrschaft in der Ukraine und des
ukrainischen Widerstands einzudringen. Im Mittelpunkt des
Grundschulunterrichts aber stand die Geschichte der Juden.
Von diesen dreitausend Jahren handelte die
Rede, die der israelische Staatspräsident Ezer Weizman am 16. Januar 1996
vor dem Deutschen Bundestag hielt. Wegen ihres eher literarischen als
politischen Stils öffentlich allgemein als außergewöhnlich gewürdigt,
beeindruckte sie vor allem durch die enge Verbundenheit des Präsidenten mit
der Geschichte seines Volkes, die in bewegten, anrührenden Worten zum
Ausdruck kam.
»Ich bin nicht mehr ein Jude«, sagte Weizman,
»der in der Welt umherwandert, der von Staat zu Staat ziehende Emigrant, der
von Exil zu Exil getriebene Flüchtling. Doch jeder einzelne Jude in jeder
Generation muß sich selbst so verstehen, als ob er dort gewesen wäre – dort
bei den Generationen, den Stätten und den Ereignissen, die lange vor seiner
Zeit liegen. Daher bin ich immer auf der Wanderschaft, aber nicht mehr auf
den abgelegenen Wegen der Welt. Jetzt wandere ich durch die Weite der
Zeiten, ziehe von Generation zu Generation, laufe auf den Pfaden der
Erinnerung.«
Weizman beschwor die Geschichte nicht als
Chronist, sondern als ein Zeuge, der unmittelbar an ihr Anteil hatte: »Die
Erinnerung verkürzt die Distanzen. Zweihundert Generationen sind seit den
historischen Anfängen meines Volkes vergangen, und sie erscheinen mir wie
wenige Tage. Erst zweihundert Generationen sind vergangen, seit ein Mensch
namens Abraham aufstand, um sein Land und seine Heimat zu verlassen und in
ein Land zu ziehen, das heute mein Land ist. Erst zweihundert Generationen
sind seit dem Zeitpunkt vergangen, als Abraham die Machpelah-Höhle in der
Stadt Hebron kaufte, bis zu den schweren Konflikten, die sich dort in meiner
Generation abspielen. Erst hundertfünfzig Generationen sind seit der
Feuersäule des Auszugs aus Ägypten bis zu den Rauchsäulen der Shoah
vergangen. Und ich, geboren aus den Nachkommen Abrahams im Lande Abrahams,
war überall mit dabei.«
»Ich war«, fuhr der Präsident fort, »ein
Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berg Sinai, und zusammen mit
Josua und Elijah überschritt ich den Jordan. Mit König David zog ich in
Jerusalem ein, und mit Zedekiah wurde ich von dort ins Exil geführt. Ich
habe Jerusalem an den Wassern von Babel nicht vergessen, und als der Herr
Zion heimführte, war ich unter den Träumenden, die Jerusalems Mauern
errichteten. Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien
vertrieben worden. Ich wurde auf den Scheiterhaufen in Magenza, in Mainz,
geschleppt und habe die Thora im Jemen studiert. Ich habe meine Familie in
Kischinew verloren und bin in Treblinka verbrannt worden. Ich habe im
Warschauer Aufstand gekämpft und bin nach Eretz Israel gegangen, in mein
Land, aus dem ich ins Exil geführt wurde, aus dem ich komme und in das ich
zurückkehren werde.«
So ungewöhnlich eindringlich und poetisch
diese Rede allenthalben wirkte, so angemessen und konsequent, ja so
selbstverständlich in ihrem inhaltlichen Kern wollte sie mir erscheinen. Das
tiefe, um nicht zu sagen intime Verhältnis der heutigen Israelis zu den
Jahrtausenden jüdischer Geschichte, wie es sich ungebrochen in Weizmans
Worten äußerte, ist uns, den in Israel Geborenen, schon in der Schule
eingeprägt worden. Im Zusammenhang damit machte man uns auch mit dem
Phänomen des Antisemitismus vertraut, im alltäglichen Leben jedoch spielte
all das, was sich mit diesem Begriff verbindet, keine, jedenfalls keine
gefühlsmäßige Rolle. Dem Antisemitismus sind wir ganz einfach nie begegnet.
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Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin
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