Fünfzehn Jahre scheinen keine lange Zeitspanne zu sein -
jedenfalls nicht historisch oder soziologisch oder auch
geistesgeschichtlich gesehen. Sie erscheinen uns nur dann besonders
lange, wenn es sich um Jahre des eigenen Lebens handelt. Beide, Autor
und Leser, werden, wenn sie sich umschauen, feststellen, daß sie keine
Kinder mehr sind. Oder daß ihre Kinder erwachsen geworden sind. Oder daß
sie Kinder gehabt haben. Oder daß ihre Kinder Bnej Mizvah geworden sind.
Oder sich verheiratet haben. Ich betrachte meine Handschrift und
erkenne, daß ich ein anderer geworden bin. Vor fünfzehn Jahren konnte
ich noch ein lesbares Alphabet schreiben, heute aber bin ich bereit für
einige unlesbare Wörter. Auf die eigene Lebenszeit bezogen können
fünfzehn Jahre eine unerhört große Zeitspanne sein. Unser Blick auf das,
was wirklich kostbar im Leben ist, klärt sich. Und manchmal wurden, oft
zu unserer eigenen Verwunderung, Dinge, die wir für trivial gehalten
hatten, wichtig, und andere, von deren Wichtigkeit wir überzeugt waren,
erwiesen sich als trivial. So etwas geschieht.
Ich schrieb das BUCH DER BUCHSTABEN in der Hoffnung,
es könne als Leitfaden für jüdisches geistiges Bewußtsein dienen. Und
weil ich diese Hoffnung noch immer hege, bin ich glücklich, daß eine
zweite Ausgabe erscheint. Doch die Wahrheit ist, daß dieses Buch als
Scherz begann, den ich unbedachterweise mit mir selbst gemacht habe.
Ich hatte die Rabbinerschule gerade erst einige Jahre
hinter mir, als mir etwas widerfuhr, was ich schon immer als große Ehre
betrachtete. Eine Gruppe Hochschulabsolventen aus der Gegend von Boston,
mit denen ich mich kürzlich angefreundet hatte, beschloß, ein Kompendium
von Informationen herauszugeben, das eine neue Generation von Juden in
die jüdische Praxis zurückführen sollte. Sie nannten ihre Anthologie
''THE JEWISH CATALOGUE''. Die Idee war großartig, und einige
hunderttausend Juden fanden das offenbar auch, denn sie kauften das
Buch. Danach erschienen noch zwei weitere Bände des 'Catalogue' und
wurden zu einem Wendepunkt in der Geschichte jüdischer Publikationen in
Amerika. Der JEWISH CATALOGUE wurde zum wichtigsten Leitfaden für ein
New-Age-Judentum, die Havurah-Bewegung, und für die maßvolle jüdische
Erneuerung, die in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts
stattfand.
Die Herausgeber hatten sich dazu entschlossen, am
Schluß des ersten CATALOGUE eine Liste von 'Lehrern' anzubieten, an die
sich potentielle Studenten für weitere Studien wenden könnten. Zu meiner
großen Freude wurde ich aufgefordert, meinen Namen mit einem Thema
anzubieten, das zu erläutern ich mich kompetent fühlte. Doch zu meinem
Bedauern waren die wenigen Themen, die ich hätte unterrichten können,
bereits von einigen der besten Lehrer der Welt angeführt. Verärgert und
reichlich ernüchtert erkannte ich, daß ich, gemessen an solchen
Gelehrten und Rabbinern, wenig oder gar nichts lehren konnte. Deshalb
schrieb ich in die Rubrik 'Thema der Unterweisung' - als Scherz -, ich
sei ziemlich sicher, daß ich eines der elementarsten Themen lehren
könne, nämlich 'die Buchstaben des hebräischen Alphabets'.
Dies war nur der erste Scherz. Der zweite war, daß die
Herausgeber ihn offenbar gar nicht für einen Scherz hielten und meinen
Namen als Lehrer der Buchstaben des hebräischen Alphabets publizierten.
Und da die Leser des CATALOGUE ebenfalls nicht wußten, daß es sich um
einen Scherz handelte, erhielt ich aus dem ganzen Land Anrufe
potentieller Studenten, die sich erkundigten, was ich über das Alphabet
wisse. Sie wollten nicht hebräisch lesen lernen, sondern etwas über das
Geheimnis der Buchstaben erfahren. Erst begann ich ein wenig
herumzulesen, und bald führte das zu ernsthafteren Studien, und
schließlich entdeckte ich eine vielschichtige, alte und geheimnisvolle
Tradition. Das Ergebnis war dann, natürlich, 'THE BOOK of LETTERS: A
mystical Alef-bait.'
Die LETTERS und der
JEWISH CATALOGUE sollten im Zusammenhang gesehen werden, denn The BOOK
of LETTERS war, wie sein populärerer und bedeutenderer Cousin, ebenfalls
ein Wagnis in der Bewegung für eine geistige Erneuerung im
amerikanischen Judentum. Anders als frühere Bücher über jüdische
religiöse Erfahrung war das mystische Alefbet ein Buch spiritueller
Begegnung, und als solches eine grundlegende Quelle. Es war eines der
ersten eines neuen Genre von Büchern, die davon ausgehen, daß die
mystische Dimension im Judentum nicht der Vergangenheit angehört,
sondern eine Möglichkeit der Gegenwart ist. Und, wie alle Variationen
jüdischen Mystizismus, bezieht es sich sehr stark auf klassische
literarische Tradition.
Indem sich das Buch
im Layout einer Talmudseite mit verschiedenen Textblöcken angleicht und
auch von hinten nach vorn gelesen wird, schließt es an alte Traditionen
an und sucht, graphisch und physisch, die Kommunikation mit einer sich
neu herausbildenden jüdisch-literarischen Leserschaft. (Tatsächlich
verlangte ein Käufer des Buches einen Preisnachlaß, weil er glaubte, das
Buch sei falsch gebunden.) Ursprünglich wollte ich das Buch normal
drucken lassen, doch das Layout war so unorthodox (oder vielleicht
sollte ich sagen orthodox), daß ich mich gezwungen fühlte, schriftliche
Aufzeichnungen zu erarbeiten, die dem Verleger bei der Herstellung der
Druckvorlage helfen sollten. Meinem Verleger gefielen meine
handschriftlichen Seiten so gut, daß er mich davon überzeugte, daß das
Buch handgeschrieben authentischer wirken würde. So kam es, daß ich das
Schriftzeichnen lernte.
Offenbar erlebten
auch die Leser das Buch als eine bereichernde Erfahrung. Briefe und
Anrufe, die ich in all den Jahren bekam, und Kommentare, die ich höre,
wenn ich in anderen Gemeinden lese, haben mir bestätigt, daß die LETTERS
für viele ein Durchgang zu anderen Dimensionen ihrer eigenen
spirituellen Suche waren. Natürlich brachten sie bei diesem Prozeß ihre
eigenen, persönlichen Erfahrungen ein und entdeckten Wege, dieses Buch
zu benutzen, von denen ich nicht geträumt hatte und die ihrerseits das
Buch für mich wichtiger gemacht haben. Ich glaube, daß heutige Leser
ebenfalls ihre eigene Suche bereichert finden können, und daher habe ich
am Ende dieser neuen Ausgabe einige der grundsätzlichen Wege aufgezeigt,
in der andere dieses Buch verwendet haben.
Meine Erinnerung wäre nicht vollständig ohne Erwähnung von Marie
Cantlon, meiner Lektorin bei Harper & Row, und ihrer Assistentin Cathy
Netter, die das Buch auf seinem gefährlichen Weg bis zur
Veröffentlichung begleitet haben. Sie waren 'die hebräischen Hebammen',
und ich bin beiden zu tiefem Dank verpflichtet. Es ist für mich eine
große Ehre, daß Stuart Matlings eine Neuausgabe des BOOK of LETTERS als
ersten Titel für seinen neuen Verlag 'Jewish Lights Publishing'
ausgewöhlt hat. Er ist ein Mann mit großer spiritueller Einsicht und
kreativer Energie. In den Vereinigten Staaten gibt es nur mehr wenige
Verleger, die es noch als ihre Hauptaufgabe ansehen, wichtige und schöne
Bücher zu machen. Schließlich möchte ich meiner Frau Karen danken, die
mich - trotz vieler Gegenbeweise - noch immer für einen religiösen
Menschen hält.
Fünfzehn Jahre sind
seit dem ersten Erscheinen des BOOK of LETTERS vergangen. In dieser Zeit
habe ich keinen neuen Buchstaben gelernt. Aber ich habe von einer
Überlieferung erfahren, die in einem kabbalistischen Text aus dem 13.
Jahrhundert erwähnt wird, 'SEFER HaT'MUNAH'. Diese Überlieferung sagt,
daß ein Buchstabe unseres heutigen hebräischen Alphabets fehle und daß
dieser Buchstabe erst in der Zukunft entdeckt werden würde. Der anonyme
Autor erklärt, daß jeder Defekt im uns umgebenden Universum auf
geheimnisvolle Weise mit diesem fehlenden Buchstaben zusammenhönge - ein
unvorstellbarer Konsonant, dessen Klang ungeahnte Wörter und Welten
ermöglichen und Unterdrückung in Liebe verwandeln würde.
Sie werden bereits
bemerkt haben, daß auf jeder Seite des schwarzen, ledernen Schel-rosch,
der bei den Morgengebeten an der Stirn getragen wird, ein Schin steht.
Wenn Sie genauer hinschauen, werden Sie feststellen, daß eines von ihnen
(das auf der linken Seite) statt drei Zacken vier aufweist. Manche
vermuten, daß dies der fehlende Buchstaben sein könnte, dessen Name und
Ausgesprochenwerden auf ein anderes Universum warten muß. Doch trotzdem
tragen wir ihn jeden Morgen direkt zwischen unseren Augen!
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