I C H B I N
M E I N E S B R U D E R S H Ü T E R !
Auf diesem Gemälde sind keine
wirklichen Straßen zu sehen. Hier stehen keine Häuser mehr.
Man sieht nur einige Ruinen und Mauerreste, beschriftet mit den Namen von
Straßen, die es früher gegeben hat. Das polnische Wort ''ulica" (gesprochen
''ulitza") bedeutet ''Straße". Überall in Warschau, auch im jüdischen
Viertel, standen hohe Häuser mit großen Balkonen. Auf den Straßen ging es
meist sehr lebhaft zu.
Die Polen waren stolz auf ihre Hauptstadt Warschau, die
eine Million Einwohner hatte. Ein Drittel davon waren Juden, die hier seit
vielen Jahrhunderten ansässig waren.
Nach der Besetzung Warschaus begannen die Nazis ihrem
Plan gemäß mit der Ausrottung der Juden. Zuallererst wurde die gesamte
jüdische Bevölkerung registriert. Dann wurden auf Anordnung der deutschen
Behörden alle Juden in ein Sperrgebiet im jüdischen Viertel verbracht.
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1940 erging der Befehl, eine hohe, dicke Mauer um
die Straßen zu ziehen, wo die Juden bestimmungsgemäß wohnen mußten. Diese
Mauer ist als die ''Warschauer Ghettomauer" bekannt. Die Juden mußten sich
von der Mauer einschließen lassen und waren gezwungen, auch noch für die
Baukosten aufzukommen. Die Nazis beabsichtigten, die Juden vom Rest der Welt
hermetisch abzuriegeln, sie zu demütigen, auszuhungern, und dann jeden
einzelnen Mann, jede Frau und jedes Kind in Vernichtungslager zu
deportieren. Dieses System wurde in jeder polnischen Stadt angewandt, wo
Juden in größerer Zahl lebten.
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Nach
der Errichtung des Warschauer Ghettos wurden dort, wo vor dem Krieg
80.000 Menschen gelebt hatten, über 500.000 Juden zusammengepfercht. |
1942 begannen die
Massendeportationen der Ghettobewohner in die Vernichtungslager. Über ein
Jahr lang fuhren fast täglich ganze Viehwaggonzüge mit Männern, Frauen und
Kindern von einer eigens angelegten Bahnstation nach Treblinka, in das
berüchtigte Vernichtungslager.
Im April 1943 beschlossen die
Deutschen, das Warschauer Ghetto aufzulösen. Ihrem Plan zufolge sollten die
50.000 dort noch verbliebenen Juden in zwei bis drei Tagen deportiert
werden. Die Durchführung des Plans oblag dem deutschen General Jürgen
Stroop. Da revoltierten junge Juden gegen die Deutschen. Dieses Ereignis ist
als der ''Aufstand im Warschauer Ghetto" in die Geschichte eingegangen.
Die heldenmütigen jüdischen Rebellen
kämpften fünf Wochen lang gegen die überlegenen deutschen Einheiten. Zur
Vergeltung zerstörte General Stroop das gesamte Ghetto durch Feuer, Dynamit
und Gas. Am 16.Mai 1943 meldete er seinem Vorgesetzten, in Warschau gebe es
keine jüdischen Wohnbezirke mehr. Genauso knapp vermerkte er es im Tagebuch
seiner militärischen Aktionen, allerdings ergänzt mit Fotografien der
Warschauer Ruinen und gefangengenommener aufständischer Juden. Dieses
Tagebuch ist als ''General Stroops Report" bekannt.
Damit
meine Gemälde der historischen Wahrheit entsprechen, habe ich
vieles, was darauf zu sehen ist, nach Fotografien gemalt, die von
deutschen Soldaten gemacht wurden. Zu vielen Darstellungen haben
mich die Aufnahmen in General Stroops Report angeregt. Den Anstoß zu
Straßen des Warschauer Ghettos 1943 bildete eine dieser
deutschen Fotografien, die mich besonders erschütterte, als ich sie
zum erstenmal sah: Sie zeigt Ruinen und Schuttberge dort, wo einst
eine Straße gewesen war. Vorn, auf einem Haufen von Mauerresten,
sieht man auf einem Bruchstück die Inschrift ''Ulica Karmelicka"
(gesprochen ''ulitza karmelitzka").
Diese Straße war mir besonders ans Herz gewachsen. Meine Großeltern hatten
dort gewohnt, auch viele meiner zahlreichen Verwandten und Freunde. Sie war
eine der vornehmeren Straßen Warschaus gewesen, mit schönen Läden, Kinos,
Synagogen und jüdischen Einrichtungen.
Die Fotografie zeigt, was mit der Ulica Karmelicka
geschehen ist. Zugleich gibt sie eine Vorstellung davon, was mit der Straße
geschehen war, wo ich gewohnt hatte, mit der Ulica Muranowska, und mit den
vielen anderen Warschauer Straßen, wo meine Vorfahren jahrhundertelang
gelebt hatten.
All die Straßennamen sind verschwunden, zusammen mit
den Häusern. Ich habe sie in meine Bilder aufgenommen, damit sie in unserer
Erinnerung fortbestehen. Ihre Namen waren mit Leben und Geschichte der
jüdischen Bevölkerung Warschaus eng verknüpft. Wenn Menschen, die früher in
Warschau gelebt hatten, meine Bilder zum erstenmal sehen, suchen so manche
davon nach der Straße, wo sie einst gewohnt haben.
 
STRASSEN DES WARSCHAUER GHETTOS
Jürgen Stroop,
SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Leiter der Vernichtung des
Warschauer Ghettos, * 26. September 1895 in Detmold, hingerichtet 6. März
1952 in Warschau.
Bilder aus dem
Stroop-Bericht
ICH BIN MEINES BRUDERS HÜTER
Der Holocaust mit den Augen eines Malers gesehen
v. Israel Bernbaum.
My Brother's Keeper
Deutsch v. Alexandra Baumrucker1995,
Deutscher Jugendliteratur Preis,
Jugendsachbuch
3. Auflage 1995, alle Rechte vorbehalten,
© 1989 by Roman Kovar Verlag - München |