Bitte um Frieden - und
jage ihm nach!
Vorbehaltlose Liebe oder bodenloser Hass?
Ahawath Jisrael o
Sin'ath cHinam?
Wir sehen heute
uebergross das Trennende, die 'unueberbrueckbaren Gegensaetze' der
Positionen. Ehrliche und ehrenhafte Motive, Weisheit und wertvolle Erfahrung
hat niemals der Andersdenkende. Er wird zum Versager, zum Dummkopf, zum
Phantasten, zum Traeumer, zum Trinker, zum Luegner, zum
Verraeter...gestempelt.
Fanatismus fuehrt zum Hass und dieser wird moerderisch.
Wir sehen und bemuehen uns nicht zu verstehen. Wir schliessen uns Richtungen
an, die sich hauptsaechlich in ihren Abgrenzungen definieren. Wir werden
blind und gleichgueltig.
Solche Entwicklungen sind ueberall auf der Welt sichtbar - am
schmerzlichsten sollten wir sie aber bei uns selbst erkennen. Das juedische
Volk ist in Israel tief gespalten, und auch in Deutschland ist von
"liebender Akzeptanz" untereinander nicht zu reden. Auch hier herrschen
Abgrenzung und Statuswahrung. Dies in einer verschwindend kleinen Gruppe -
nur 50 Jahre nachdem es einem Wunder und einem grossen Glueck gleichkam 'ehad
m'Jisrael - ehad m'Bnej Amkhah' zu treffen.
Die groesste Katastrophe der juedischen Geschichte vor der Shoah, die
Zerstoerung des zweiten Tempels, der Tod von ueber einer Million Menschen in
J'hudah und die Vernichtung der damaligen juedischen Staatlichkeit, wurde
von den Weisen und Thorahkundigen im Lande Israel auf 'Sin'ath Hinam'
(grundlosen Hass) und Mangel an 'Ahawath Jisrael' (annehmende Liebe aller in
Israel) zurueckgefuehrt.
Die Propheten, die die Katastrophe lange schon vorhersahen und vorhersagten,
haben fast nie mangelndes Ausfuehren der Rituale, Geiz beim Tempelopfer oder
Unpuenktlichkeit beim Gebet angeklagt. Was sie einzuklagen versuchten, waren
das verständnisvolle fuereinander Einstehen, die Erfuellung der sozialen
Verantwortlichkeit, das auch unaufgeforderte aufeinander Zugehen, die
vorbehaltlose und annehmende Zuwendung zum Naechsten - zu allen unseren
Naechsten. Gemeint haben Sie damit insbesondere die wenig Beachteten und
Einsamen, die Hilflosen und Beduerftigen, die Machtlosen und Diffamierten:
die Witwe, die Waise und den Fremden, der in Deinen Toren.
Was sie am meisten verurteilt haben, waren Oberflaechlichkeit und von
unserer menschlichen Verantwortung ablenkende Ausschweifung: Das Hochachten
von Statussymbolen vor dem Menschen, die Liebe zum Schein vor dem Sein. Die
Hinwendung zu materialistischen Werten, zur falschen Verehrung (Awodah
Sarah), zum Goetzendienst.
Goetzen sind Bilder, die unsere Freiheit bei der Vergegenwaertigung des
G'ttlichen einschraenken, die uns unterdruecken und mit ihrer vermeintlichen
Macht erschlagen. Sie verlagern die G'ttlichkeit aus uns selbst heraus und
materialisieren sie in Statuen. Die Statue wird zum Symbol der Macht. Die
G'ttlichkeit erstarrt und stirbt. Sie wird nicht mehr von uns gelebt. Die
Menschlichkeit - als die Ebenbildlichkeit G'ttes - verlaesst die Welt.
Das daraus folgende, seit langer Zeit ueber der Welt schwebende 'donnernde
Schweigen G'ttes', wird denn auch oft zum Anlass genommen, an der Existenz
G'ttes ueberhaupt zu zweifeln. G'tt ist tot, heisst es dann, denn wie
koennte er all' den Schrecken um uns zulassen?
Von dieser Frage aus gelangen wir direkt zum Kernpunkt der juedischen
Weltbetrachtung: Der Mensch ist frei, er ist sogar zur Freiheit
verpflichtet. Aus dieser Freiheit folgt die Verantwortung des Menschen -
fuer sich und fuer alle seine Taten. Jeder einzelne von uns ist ein
Vertreter G'ttes auf Erden, denn ''...nur um ein ganz weniges geringer als
G'tt selbst hat er den Menschen erschaffen'' (Tehilim) ...
Aus diesen Worten spricht die ungeheuere Achtung G'ttes vor der Würde des
Menschen.
Aus diesen Worten spricht auch der Anspruch G'ttes an uns: Wir sind es, die
der Welt ein g'ttliches -und damit menschliches- Antlitz geben muessen. Wenn
nicht wir, wer dann?
[Zurück]
[4.November 1995]
|