Israel und die Palästinenser
Rolf Tophoven
Aufstieg der PLO
Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen
der Jahre 1947 und 1948 begann ein Massenexodus der Palästina-Araber in die
umliegenden arabischen Staaten. Die meisten Flüchtlinge nahm Jordanien auf,
wo man versuchte, zumindest einen Teil von ihnen zu integrieren. In den
anderen arabischen Aufnahmeländern verblieben die Flüchtlinge in den
Auffanglagern; Integrationsversuche gab es nicht. Die genaue Anzahl der
1947/48 Geflüchteten ist nicht bekannt. Die verschiedenen Quellenangaben
schwanken zwischen 600.000 und einer Million.
Unter Arabern und Israelis
gibt es kaum ein Thema, das so heiß umstritten ist wie die Diskussion über
die Gründe der Flüchtlingsbewegung. Die arabische Seite behauptet, man habe
sich vom "zionistischen Terror" bedroht gefühlt. So ermordeten zum Beispiel
im April 1948 Mitglieder der rechtsmilitanten jüdischen
Untergrundorganisation "Irgun" (Ezel) im Dorf Deir Yassin bei Jerusalem über
250 Araber. Israels Regierung "bedauerte" die Vorgänge und distanzierte sich
offiziell von den Tätern. Andererseits weisen die Israelis auf die auch von
arabischer Seite massiv gegen die Juden geführten Terrorakte hin. Ferner, so
behaupten die Araber, seien sie von den Israelis systematisch aus Palästina
vertrieben worden. Israel dagegen bestreitet entschieden jede Vertreibung
und gibt den arabischen Anrainerstaaten die Schuld an der Massenflucht. Die
arabische Propaganda habe die Palästinenser zur vorübergehenden Evakuierung
der Kampfgebiete aufgefordert und auch eine baldige Rückkehr nach einem
schnellen Sieg versprochen. Seit den Tagen der Staatsgründung und der damit
verbundenen militärischen Konfrontation zwischen Arabern und Israelis ist
das Flüchtlingsproblem im Nahen Osten akut und hat alle Bemühungen um eine
Lösung des Konflikts schwer belastet. Darüber hinaus führt die Existenz der
Palästinaflüchtlinge immer wieder zu der Frage nach den Möglichkeiten ihrer
Integration in die arabischen Staaten. Diese taten jedoch wenig, die Not der
Flüchtlinge zu lindern. Oft sah man sich auch aus wirtschaftlichen Gründen
dazu nicht in der Lage. Gleichwohl hätten Möglichkeiten bestanden, mit
finanzieller Unterstützung der reichen arabischen Erdölländer die
Flüchtlinge zu integrieren. Dazu sagte im April 1957 der irakische
Außenminister Fadel Gamali: "Der Irak allein ist fähig, alle arabischen
Flüchtlinge zu absorbieren." Doch die Weigerung der arabischen Staaten, die
Flüchtlinge einzugliedern, war und ist primär ein politischer Faktor. Mit
der Zeit wurden die Flüchtlinge wie eine "politische Manövriermasse"
behandelt, mehr oder weniger hilflose Figuren auf dem Schachbrett des
arabischisraelischen Machtkampfes. Außerdem konnte kein arabischer Patriot
es wagen, einer Neuansiedlung der Flüchtlinge zuzustimmen, weil dies einem
Aufgeben des arabischen Anspruchs auf Palästina gleichzusetzen gewesen wäre.
Das Elend in den Flüchtlingsquartieren sollte aller Welt ständig das an den
Palästinensern begangene Unrecht vor Augen halten, zumal verschiedene
UNResolutionen, besonders die vom 11. Dezember 1948, das Recht auf Rückkehr
oder Wiedergutmachung bekräftigten. So heißt es dort: "Jenen arabischen
Flüchtlingen aus Palästina, die heimzukehren wünschen und mit ihren Nachbarn
in Frieden leben wollen, soll die Erlaubnis dazu gegeben werden, denjenigen,
die nicht heimkehren wollen, soll eine Entschädigung für den erlittenen
Vermögensverlust oder Vermögensschaden gewährt werden. "
Die Anliegen der Palästinenser gerieten nach
1948 bald in Vergessenheit. Ihr Schicksal wurde aus der Politik der
arabischen Staaten oft verdrängt. Erst die 1964 in Kairo gegründete
Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) machte sich zum Verfechter
palästinensischer Interessen. Ihre Stunde kam nach dem SechsTageKrieg von
1967. Im SechsTageKrieg zwischen Israel und sei nen arabischen
Nachbarstaaten (Ägypten, Syrien, Jordanien) besetzten israelische Truppen
die SinaiHalbinsel, den Gazastreifen, das Westjordanland, OstJerusalem und
die syrischen Golanhöhen. Durch die verheerende Niederlage der arabischen
Armeen wurde die Mehrzahl der Palästinaflüchtlinge ihrer schon 20 Jahre
andauernden Illusion beraubt, sie bräuchten in ihren Lagern nur abzuwarten,
bis ihre arabischen Brüder Palästina zurückerobern würden. Statt der immer
wieder versprochenen Lösung des Palästinaproblems brachte der Krieg neues
Flüchtlingselend und Besetzung statt Befreiung. Der JuniKrieg 1967 zerstörte
die Träume der Palästinenser von arabischer Einheit. Der frühere jordanische
Außenminister Yamal Tukan, einer der führenden Palästinenser in
Westjordanien, zog das Fazit: "Der JuniKrieg brachte für uns einen
wesentlichen Impuls. Die palästinensische Persönlichkeit entstand nach dem
Krieg." So bewirkte die Niederlage der arabischen Staaten eine tiefe Zäsur
im politischen Bewußtsein der Palästinenser, was schließlich zu einer
Emanzipation von den arabischen Staaten führte, da man sich von ihnen im
Stich gelassen fühlte. Yassir Arafat, der Führer der PLO, erklärte: "Unsere
Massen erlauben nur den Kommandos, die zu den Waffen gegriffen und ihr Leben
riskiert haben, in ihrem Namen zu sprechen." Der Zusammenbruch der
arabischen Staaten bewirkte die Schaffung einer bewaffneten Kerntruppe des
palästinensischen Widerstandes, die ihr Anliegen unter anderen Vorzeichen
vertreten sollte.
Zwischen Terror und Diplomatie
Während die arabische Welt noch vom Schock der
Niederlage gelähmt war, unternahmen die palästinensischen Fedayin (die
Opferbereiten) bereits kurz nach Kriegsende erste, wenn auch nur spärliche
militärische Initiativen gegen Israel. Als bedeutendste unter den
verschiedenen PLOGruppen trat die Fatah in Erscheinung. Der Name Fatah,
zuerst 1959 aufgetaucht, setzt sich aus den rückwärts gelesenen
Anfangsbuchstaben der arabischen Bezeichnung "Harakat al Tahrir al
Falaschtin ", was "Bewegung zur Befreiung Palästinas" heißt, zusammen. Die
Wurzelkonsonanten HTF ergeben also das Wort FTH, was "Eröffnung eines
ungläubigen Landes für den Islam" bedeutet. Die Fatah ist die weitaus größte
Gruppierung unter dem Dach der PLO und gilt als Hausmacht des PLOChefs
Arafat. Das Ziel der Fatah war, als "Sachwalter der arabischen Ehre" das
schwer angeschlagene Selbstbewußtsein der Araber wiederherzustellen und
Israel zu bezwingen. Die Palästinenser wollten nach 1967 nicht länger nur
ein Kalkül in der Rechnung Nassers und anderer arabischer Herrscher sein.
Der Kampf der PLO gegen Israel war von Beginn an durch kompromißlose
Ablehnung des jüdischen Staates gekennzeichnet, durch Terroraktionen
innerhalb und außerhalb des Nahen Ostens, durch Konflikte mit den arabischen
Gastländern sowie durch Bruderzwist in den eigenen Reihen. Grundlage für die
Aktivitäten der PLO schuf die Palästinensische Nationalcharta (1968), auch
Palästinensisches Manifest genannt. Dieses Manifest forderte für die PLO
Palästina in den Grenzen des früheren britischen Mandatsgebietes und sprach
dem jüdischen Staat jedes Existenzrecht ab. Mit den aktuellen
Friedensgesprächen zwischen Israel und der PLO sind diese Passagen der
Charta inzwischen de facto überholt. Unter der Dachorganisation der PLO
formierten sich Dutzende von Gruppen und Gruppierungen. Der unmittelbar nach
Israels Sieg im SechsTageKrieg von 1967 in den besetzten Gebieten als
"Volksbefreiungskrieg" nach dem Muster einer klassischen Guerilla angelegte
Kampf gegen Israels Armee brach bereits nach kurzer Zeit zusammen. Die
Fedayin sahen sich gezwungen, in die Nachbarländer auszuweichen, um von dort
aus ihre Aktivitäten nach Israel und in die besetzten Gebiete
hineinzutragen. Durch ihr Auftreten, vor allem in Jordanien und im Libanon,
wo sie sich zu einem Staat im Staate entwickelten, forderten die PLOVerbände
ihre arabischen Gastgeber heraus. Im "Schwarzen September" 1970 ließ
Jordaniens König Hussein die PLOKader blutig zerschlagen und vertreiben.
Auch im Libanon kam es zu offenen Kämpfen zwischen PLOEinheiten und
christlichen Milizen, die vom syrischen Militär unterstützt wurden, bevor
die PLOKommandos 1982 von der israelischen Armee auch aus dem Libanon
vertrieben wurden. In der wechselvollen Geschichte der PLO kam es bis 1974
zu keinerlei Einschwenken auf eine politische Schiene oder gar
Verhandlungslinie. Nach wie vor lehnte die Organisation eine Anerkennung der
UNOResolutionen 242 und 338 ab, in denen das Existenzrecht aller Staaten,
auch Israels, in der Nahostregion festgeschrieben wurde. Dennoch verbuchte
die PLO 1974 einen spektakulären Erfolg. Am 13. November 1974 sprach PLOChef
Yassir Arafat vor der UNOVollversammlung in New York. Der Auftritt vor dem
Weltforum sollte der Weltöffentlichkeit signalisieren, daß die Palästinenser
fortan auf zwei Ebenen kämpften: In der einen Hand den Ölzweig, in der
anderen die Pistole des Freiheitskämpfers, wie es Arafat in New York
formulierte. Beobachter der Nahostszene glauben, seit 1974 ein Einlenken der
PLO zu einer realistischeren Politik, was das Existenzrecht Israels betraf,
hin zu erkennen. Der palästinensische Nationalrat faßte erstmals offiziell
eine Art Teilstaatlösung für Palästina ins Auge. Dieses Einlenken und der
Auftritt Arafats vor der UNO, machten die PLO auf dem internationalen
diplomatischen Parkett salonfähig. Die UN gewährten der PLO einen
Beobachterstatus. Infolge dieser Entwicklung erlaubten mehr als 100 Staaten
der PLO die Einrichtung offizieller Vertretungen in ihren Hauptstädten.
Zugleich führte das politische Taktieren Arafats aber auch zu scharfer
Kritik durch radikale, von Syrien unterstützte Palästinensergruppen. Sie
warfen dem PLOFührer vor, den Weg des bewaffneten Kampfes gegen den
zionistischen Feind verlassen zu haben. Unter Führung der "Volksfront für
die Befreiung Palästinas" (PFLP) von Georges Habbash bildeten die
ArafatGegner in Damaskus die sogenannte "Ablehnungsfront ". Darüber hinaus
gründete ein ehemaliger ArafatVertrauter mit dem Kriegsnamen Abu Nidal eine
eigene circa 900 Mann starke Terrorgruppe, die seither weltweit über 100
Terroraktionen verübte und auch gemäßigte Palästinenser ermordete. Die
Friedensinitiative des ägyptischen Präsidenten Anwar al Sadat stieß bei der
PLO auf krasse Ablehnung, trotz des eindeutigen Engagements Sadats für das
palästinensische Volk. Seit Mitte der achtziger Jahre waren auch aus
palästinensischen Kreisen in den von Israel besetzten Gebieten gemäßigtere
Töne im Hinblick auf eine Friedenslösung zu hören. Dies hatte unter anderem
mit den Folgen der israelischen LibanonInvasion im Sommer 1982 zu tun. Nach
dem von Israel erzwungenen Abzug aus Beirut konnte der PLOChef nach kurzer
Zeit mit seinen Kommandos in den Libanon zurückkehren. Bald darauf brachen
1983 im nordlibanesischen Tripoli heftige Kämpfe zwischen Arafattreuen
Einheiten und den von Syrien unterstützten Rebellen in den Reihen der PLO
aus. Das syrische Regime wollte mit Hilfe der Opposition gegen Arafat seinen
Einfluß auf die PLO weiter ausdehnen. Nachdem die radikalen, von Syrien
unterstützten Kräfte Arafat und seine Anhänger in Tripoli eingeschlossen
hatten, mußte der PLOChef erneut gedemütigt das Land verlassen. Die
Opposition innerhalb der PLO schien ihren extremen Kurs gegenüber dem
diplomatischen Taktierer Arafat durchgesetzt zu haben. Allen Erwartungen zum
Trotz konnte Arafat in den folgenden Jahren seine Führungsrolle behaupten
und den Kern der "alten" PLOOrganisation zusammenhalten. Dennoch kam Arafat
im Dezember 1987 erneut unter Zugzwang.
Intifada
Am 8. Dezember 1987 kam es am
EresCheckpoint, der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen, zu einem
Verkehrsunfall. Hier kontrollierte die israelische Armee den Zu und Ausgang
in den Gazastreifen. An diesem Tag stieß ein israelischer Lastkraftwagen mit
mehreren arabischen Autos aus dem Gazastreifen zusammen. Vier Arbeiter, die
auf dem Weg nach Hause waren, wurden
17 getötet und sieben Personen schwer verletzt. Am Tag
zuvor war in Gaza ein israelischer Geschäftsmann auf offener Straße
erstochen worden. Viele Palästinenser sahen in dem Vorfall am EresCheckpoint
einen Racheakt der Israelis. Die Opfer des Unfalls wurden zu Märtyrern,
gefallen im Kampf um Palästina. Als tausende Palästinenser im
JebalyaFlüchtlingslager – dem größten mit 60 000 Einwohnern – am selben
Abend von den Begräbnissen zurückkehrten, griffen sie spontan einen
israelischen Militärposten im Lager mit Steinen an. Am nächsten Tag
breiteten sich schwere Unruhen in GazaStadt und bald auch im ganzen
Gazastreifen aus. Von dort sprang der Funke des Aufruhrs auch auf das
Westjordanland über. Die sogenannte "Intifada" (arab.: abschütteln; gemeint
ist die israelische Besatzung) hatte begonnen. Anlaß war ein Verkehrsunfall,
die wahren Ursachen für den Ausbruch der Gewalt lagen jedoch tiefer. Der
Aufstand richtete sich gegen die damals schon zwanzig Jahre dauernde
israelische Besatzung. Er sollte aber auch ein Signal für die arabischen
Staaten und die PLO sein. Anfangs gewannen die Steine werfenden
palästinensischen Jugendlichen, die gegen die schwer bewaffneten
israelischen Truppen vorgingen, durch medienträchtige Aktionen und ein
weltweites Interesse viele Sympathien. Israel stand vor der
Weltöffentlichkeit am Pranger. Die Sympathien gehörten dem palästinensischen
"David ", der den israelischen "Goliath" mit der Steinschleuder angriff. Ein
hartes Vorgehen der Armee Israels schürte zusätzlich das Feuer der Kritik,
nicht nur in der Weltpresse, sondern auch in Israel selber. Mit zunehmender
Dauer der Intifada entwickelte sie eine Eigendynamik. Auch immer mehr
Palästinenser wurden von Palästinensern getötet. "Kollaboration mit Israel"
lautete das Urteil der palästinensischen Exekutionskommandos. Verantwortlich
für diese Welle der Gewalt waren islamischfundamentalistische
Organisationen, die sich, abseits von der PLO, in den langen Jahren der
israelischen Besatzung des Gazastreifens gebildet hatten.
"Islamischer Heiliger Krieg" und "Hamas"
Im Schatten der
Moscheen von Gaza, von der Besatzungsmacht weitgehend unbehelligt,
formierten sich Gruppen wie der "Islamische Heilige Krieg" und die "Hamas
"Bewegung (Islamischer Widerstand). Die israelischen Behörden hatten in
diesen Gruppen ein Gegengewicht zur PLO gesehen und daher zunächst nicht auf
die viel fanatischeren islamischen Extremisten reagiert. Bei Ausbruch der
Intifada standen nun der Islamische Heilige Krieg und Hamas an der Spitze
der Aufständischen und bestimmten anfangs die Entwicklung, obwohl Gruppen
der FatahFalken auch bald zu großem Einfluß kamen. Die PLOFührung Yassir
Arafats sprang aber erst relativ spät auf den bereits "rollenden Zug" der
Intifada. Zwar gelang es der PLO dann doch, die Kontrolle über die Aktionen
des Aufstandes zu erringen. Dies galt vor allem für das Westjordanland. Im
Gazastreifen dagegen beherrschen nach wie vor die radikalen Kräfte der Hamas
die Szene. Ihnen gehören dort auch die weitaus größten Sympathien der
Bevölkerung, was vor allem mit der sozialen und wirtschaftlich desolaten
Situation im Gazastreifen zusammenhängt. Die HamasOrganisation wußte dies
geschickt auszunutzen. Ihre Kommandos bauten soziale Zentren auf, in denen
die Jugendlichen schulische Ausbildung und ökonomische Hilfe erfuhren.
Zugleich wurden sie in ihrem Haß auf Israel bestärkt und von den Geistlichen
im Sinne eines "Heiligen Krieges" indoktriniert. Da zudem die Hamas über
üppige finanzielle Quellen verfügt, konnte sie ihren Anhängern ein breites
soziales Netz knüpfen, gegen das die Chancen der PLO eindeutig abfielen. Im
Westjordanland sind dagegen die Anhänger der PLO noch in der Mehrzahl. Die
Intifada aber brachte nicht den erhofften politischen Durchbruch. Israelis
und Palästinenser verfingen sich immer mehr in dem Dickicht von Gewalt und
Gegengewalt. Die zunehmende Sympathie für die radikalen islamischen Kräfte
in Gaza und im Westjordanland zwangen mit der Zeit die etablierte PLOFührung
um Arafat, nun ihrerseits die Initiative zu ergreifen und das politische
Feld nicht den Islamisten allein zu überlassen.
Anerkennung der UNOResolutionen
Erste Signale für eine friedliche
Entschärfung des israelischpalästinensischen Konflikts brachte das Jahr
1988. Erstmals hatten die USA und die PLO wieder offizielle Gespräche
miteinander aufgenommen. Am 16. Dezember 1988 erkannte die PLO die
UNOResolutionen Nr. 242 und 338 offiziell an. Einen Tag zuvor hatte Arafat
in Tunis bereits den Staat Palästina proklamiert. Aber wichtiger als dieses
Ereignis war für die westliche Diplomatie, vor allem für Israels Schutz
macht USA, die Anerkennung der UNOBeschlüsse. Sie war die unabdingbare
Voraussetzung für einen Dialog mit der PLO, denn die Resolutionen enthalten
die Anerkennung des Existenzrechts Israels in gesicherten Grenzen. Außerdem
erkannte PLOChef Yassir Arafat auf einer Pressekonferenz in Genf den Staat
Israel verbal an und erklärte öffentlich, künftig auf die Anwendung des
Terrors zu verzichten. Israel dagegen lehnte die Initiative Arafats ab und
verwies deutlich auf die nach wie vor gegen Israel verübten Terroranschläge.
Eine Mehrzahl der israelischen Bevölkerung stand damals dem Wandel der PLO
skeptisch gegenüber. Zu tief saß das Mißtrauen gegenüber einem neu zu
errichtenden – palästinensischen – Staat zwischen Jordanien und dem
israelischen Kernland. Andererseits stellte auch die israelische Regierung
der Friedenskampagne der PLO aus dem Jahre 1988 eine eigene
Friedensinitiative gegenüber. Auf Druck der Arbeitspartei in der 1988
erneuerten großen Koalition offerierte im Frühjahr des Jahres 1989 der
damalige Premierminister Jitzchak Schamir den Palästinensern in den
besetzten Gebieten freie Wahlen und beschränkte Autonomie. Von einem
unabhängigen Palästinenserstaat war bei dieser Friedensofferte Shamirs nicht
die Rede. Erst recht war nicht die Rede von der PLO als
Verhandlungspartnerin. Die Weigerung Israels, direkt mit der PLO als
Interessenvertreter der Palästinenser zu verhandeln, war lange Zeit das
größte Hindernis für israelischpalästinensische Gespräche. Das Mißtrauen
gegenüber der PLO saß zu tief. Israelische Skepsis
Dies wurde in Israel noch gesteigert, als sich viele Palästinenser, vor
allem aber ihre Führung, während des Golfkrieges rückhaltlos auf die Seite
des irakischen Aggressors Saddam Hussein stellten. Für viele Palästinenser
war die Golfkrise mit der Emanzipation der
18 Araber und damit ihren eigenen Forderungen nach
einem Staat Palästina verknüpft. Saddam Hussein seinerseits sah in den
Palästinensern und ihrer Interessenvertretung, der PLO, nur ein Instrument
für seine eigenen politischen Ziele. Er versuchte unter anderem, die
palästinensische Bevölkerung in der arabischen Welt gegen ihre Gastländer
aufzuwiegeln. Der Schwenk der PLO und ihres Führers Yassir Arafat ins Lager
Saddam Husseins führte in Israel auch bei den gesprächsbereiten
Friedensgruppen zu einem Vertrauensverlust der PLO. Der bis dahin ablehnende
Kurs der Regierung in Jerusalem wurde erneut bestätigt. Aber nicht nur in
Israel, auch in den meisten arabischen Ländern verlor die PLO während und
nach Ende des Golfkrieges an Sympathien. Dies äußerte sich für die PLO
schmerzlich in der zunächst eingestellten finanziellen Unterstützung aus den
reichen arabischen Ölländern am Golf. Nach der Niederlage Saddam Husseins
und der Befreiung Kuwaits glaubte die westliche Diplomatie, allen voran die
USA, die Vorgänge am Golf würden auch die politische Topographie des
gesamten Nahen und Mittleren Ostens verändern. Um nach Ende der
Kampfhandlungen endlich Bewegung in die ungelöste PalästinenserProblematik
zu bringen und den "Gordischen Knoten" zu durchschlagen, initiierten der
amerikanische Außenminister James Baker und sein sowjetischer Amtskollege
Alexander Bessmertnych eine eifrige Reisetätigkeit in der Region. Zwar blieb
auch hierbei der spektakuläre diplomatische Durchbruch im Hinblick auf eine
Lösung des israelischarabischpalästinensischen Konflikts zunächst aus.
Dennoch gelang es den Großmächten und in erster Linie der "Pendeldiplomatie"
Bakers, einstige Rivalen im Nahen Osten zu einer angesichts der sich in der
Region auftürmenden Problemfelder schon "sensationell" zu nennenden
internatio nalen Friedenskonferenz im Oktober 1991 in Madrid einzuladen.
Damit hatte Ministerpräsident Schamir seinen langjährigen, hartnäckigen
Widerstand gegen jede Form von auch nur indirekten Gesprächen mit den
Palästinensern aufgegeben.
Friedensprozeß
Nach monatelangen Vermittlungsbemühungen von
USAußenminister James Baker begann am 30. Oktober 1991 in Madrid die
NahostFriedenskonferenz unter amerikanischer und sowjetischer
Schirmherrschaft. Erstmals saßen Syrer, Jordanier, Libanesen und
Palästinenser (im Rahmen einer jordanisch palästinensischen Delegation)
gemeinsam mit Israelis an einem Tisch. Anfangs war der Friedensprozeß durch
eine Konferenzpolitik der kleinen Schritte geprägt, greifbare Ergebnisse
wurden nicht erzielt. Stattdessen biß man sich in Verfahrensfragen und
protokollarischen Details fest. Trotzdem bewegten sich die Parteien
aufeinander zu. Auch gegenüber der PLO, die nach den Forderungen Israels vor
Konferenzbeginn nicht mit am Verhandlungstisch sitzen durfte, hatte sich
Israels Politik zumindest entkrampft. So wurde in Jerusalem das Gesetz
aufgehoben, das Kontakte von Israelis zur PLO unter Strafe stellte.
Insgeheim gab es schon zahlreiche Kontakte von KnessetAbgeordneten mit
Arafat und anderen PLOVertretern. Auch die Terroranschläge
islamischfundamentalistischer Gruppen wie "Islamischer Heiliger Krieg" und
"Hamas" in den von Israel besetzten Gebieten und im israelischen Kernland
selbst konnten die Gesprächsbereitschaft zwischen Israel, seinen arabischen
Nachbarn und den Palästinensern nicht unterbinden. Die israelische
Delegation bei der Eröffnungssitzung in Madrid wurde vom damaligen Mi
nisterpräsidenten Jitzchak Schamir geleitet, der für seine unnachgiebige
Haltung bekannt war. Bei den Wahlen 1992 erlitten Schamir und seine
LikudPartei eine Niederlage. Neuer Ministerpräsident wurde Jitzchak Rabin
von der Arbeitspartei, der bereits während des Wahlkampfes
Friedensverhandlungen als einzige Lösungsmöglichkeit des Nahostkonflikts
bezeichnet und größere Flexibilität in den Gesprächen angekündigt hatte. So
ordnete er unmittelbar nach Regierungsübernahme einen Baustop für neu zu
errichtende Siedlungen in den besetzten Gebieten an. Nur bereits im Bau
befindliche Projekte durften noch vollendet, bereits bestehende Siedlungen
können erweitert werden. Damit hatte Rabin eine der wichtigsten und
empfindlichsten Fragen der israelischen Innenpolitik aufgegriffen, die seit
1967 immer wieder zu scharfen Polarisierungen geführt hatte. Dabei ging es
nicht nur um die politische Zukunft der palästinensischen Bevölkerung in den
besetzten Gebieten, sondern auch um die Sicherheit Israels und das Schicksal
der 120 000 jüdischen Siedler in 144 Siedlungen. Ein erheblicher Teil von
ihnen war auf der Basis von niedrigen Mieten und hohen Sozialleistungen in
das Westjordanland und den Gazastreifen gezogen, um jeglichen territorialen
Kompromiß oder eine eventuelle Rückgabe dieser Gebiete zu erschweren. Für
viele Siedler ist das Gebiet am Jordan, das biblische Judäa und Samaria,
Teil eines Großisrael, wie es in der Bibel verheißen wurde. Diese Position
nehmen nicht nur die Anhänger militanter nationalistischer Organisationen,
wie Kach und Kahane Chai ein, sondern auch viele Mitglieder der
nationalreligiösen Partei und auch Anhänger des Likud, denen die meisten
Siedler angehören. Während die Vertreter der LikudRegierungen die
ideologischen Gründe mit sicherheitspolitischen Aspekten verbanden und so
einen unnachgiebigen Kurs hinsichtlich der israelischen Oberhoheit über die
besetzten Gebiete verfochten, nimmt die Arbeitspartei eine differenzierte
Haltung ein. Sie ist zwar für die Räumung der Gebiete und für die
Selbstverwaltung der Palästinenser, betont aber zugleich die strikte Wahrung
der Sicherheitsinteressen Israels. Weder zahlreiche Raketenangriffe der
proiranischen Terrorgruppe Hisbollah vom Süden des Libanon auf israelische
Städte und Dörfer noch massive Vergeltungsschläge der Israelis auf
HisbollahStellungen behinderten die Friedensgespräche nachhaltig. Dies war
um so bemerkenswerter, als die israelische Armee tagelang Städte und Dörfer
im Süden des Libanon angriff, was einen Flüchtlingsstrom von zahlreichen
Menschen nach Beirut auslöste. Ziel der israelischen Operation war es, die
libanesische Zivilbevölkerung von den Kämpfern der Hisbollah zu trennen und
Syrien, das die Rolle einer Schutzmacht der libanesischen Regierung
beansprucht, zur Entwaffnung der Hisbollah Kommandos im Südlibanon zu
zwingen; nur dank syrischer Hilfe kann sich die Hisbollah im Süden des
Libanon frei entfalten. Da Syrien von Israel Nachgiebigkeit und die Rückgabe
der Golanhöhen erwartet, hielt sich die syrische Armee bei den Angriffen der
israelischen Streitkräfte zurück und willigte schließlich in die Kontrolle
der "Partei Gottes" ein. Der Friedensprozeß stellte sich in seinen Abläufen
und Zielvorstellungen bis zum spektakulären Grundsatzabkommen zwischen
Israel und der PLO wie folgt dar: Eine vorläufige und beschränkte
Selbstverwaltung der Palästinenser in Teilen des israelisch besetzten
Westjordanlandes und im Gazastreifen für eine Übergangsperiode von fünf
Jahren. Zu Beginn des dritten Jahres sollten Verhandlungen über den
endgültigen Status der Gebiete beginnen. Neben der Lösung der
Palästinenserfrage strebt Israel Friedensverträge mit seinen arabischen
Nachbarstaaten Syrien, Libanon und Jordanien an. Als Verhandlungs und
Einigungsprinzip galt und gilt: Land gegen Frieden. Danach soll Israel einen
großen Teil der besetzten oder kontrollierten Gebiete räumen und dafür eine
friedliche Existenz von seinen Nachbarn garantiert bekommen.
Verhandlungsgrundlagen waren und sind die UNSicherheitsratsresolutionen 242
und 338 aus den Jahren 1967 und 1973, die von Israel den Rückzug aus den
besetzten Gebieten fordern und gleichzeitig das Existenzrecht jeglichen
Staates des Nahen Ostens "in Frieden innerhalb sicherer und anerkannter
Grenzen" garantieren. Die USA und Rußland sind die Garanten des Friedens. In
bisherigen Verhandlungen ging es zwischen Israel und den Palästinensern,
Syrien, dem Libanon und Jordanien immer um eine Lösung des
israelischpalästinensischen Konflikts und auch um Friedensgespräche zwischen
Israel und seinen Nachbarn. Dabei behandeln seit Madrid fünf Arbeitsgruppen
regionale Themen, wie Flüchtlingsfragen, Rüstungskontrolle,
Wasserressourcen, Umweltschutz und die Möglichkeit wirtschaftlicher
Zusammenarbeit. Hierbei beteiligen sich Syrien und der Libanon nicht, machen
aber eine zukünftige Mitwirkung von Fortschritten bei den Verhandlungen
abhängig.
Streit um Jerusalem
Eine der größten Hürden bei den Verhandlungen
zwischen Israelis und Palästinensern wird auch langfristig der Streit um die
Stadt Jerusalem sein. Von den Juden wird das ungeteilte Jerusalem als "ewige
Hauptstadt" Israels angesehen. Dies hat historische Gründe: Seit König David
die Stadt vor etwa 3000 Jahren zur Hauptstadt seines Königreiches machte,
gilt Jerusalem als historisches, geistiges, religiöses und nationales
Zentrum des jüdischen Volkes. Die Altstadt Jerusalems besteht aus einem
jüdischen, einem arabischen, einem armenischen und einem christlichen
Viertel. Seit etwa 1875 stellen die Juden die Mehrheit der Einwohner. Neue
Bauten außerhalb der Stadt mauern entstanden. Diese bildeten später den Kern
des modernen Jerusalems. Beim Waffenstillstandsabkommen nach dem ersten
israelisch arabischen Krieg wurde die Stadt 1949 zweigeteilt. Die Altstadt
mit der heiligsten Stätte des Judentums, der sogenannten Klagemauer
(westliche Stützmauer des Salomonischen Tempels), kam unter jordanische
Verwaltung. 19 Jahre lang trennten Stacheldraht und Betonbarrieren Alt und
NeuJerusalem voneinander. Den Juden war der Besuch der Klagemauer verwehrt.
Mit der Eroberung der Altstadt von Jerusalem im SechsTageKrieg endete für
die Juden dieser als schmerzlich empfundene Zustand. Seither ist Jerusalem
wiedervereinigt und soll nach dem Willen fast aller Israelis nie mehr
geteilt werden. Aber auch die Palästinenser beanspruchen die Stadt.
OstJerusalem, wo heute etwa 160 000 Palästinenser fast ein Drittel der
Bevölkerung Jerusalems leben, soll Hauptstadt und Regierungssitz des von
ihnen im Westjordanland und im Gazastreifen angestrebten Staates "Palästina"
werden. In der Altstadt Jerusalems liegen nämlich heilige Stätten der
Moslems: der Felsendom (OmarMoschee) und die AlAksaMoschee, das nach Mekka
und Medina dritthöchste Heiligtum des Islam. Die palästinensische Führung
weiß, daß jeder Palästinenser, der auf Jerusalem als Hauptstadt verzichtete,
nicht nur für den Islam zentrale Heiligtümer aufgeben, sondern auch sein
Leben gefährden würde.
Chronologie der Entwicklung des modernen Israel
- 1882 bis 1903
Erste Einwanderungswelle (Alija) als Reaktion auf ihre Unterdrückung in
Osteuropa kommen etwa 30 000 Juden nach Palästina.
- 1896
Theodor Herzl veröffentlicht "Der Judenstaat ".
- 29. bis 31. August 1897
Erster Zionistenkongreß in Basel, der die Schaffung einer gesicherten
Heimstätte für das jüdische Volk in dem damals unter osmanischer Herrschaft
stehenden Palästina fordert.
- 2. November 1917
Die Britische Regierung sichert den politischen Zionisten ihre
Unterstützung bei der Schaffung einer "jüdischen Heimstätte" in Palästina zu
(BalfourDeklaration).
- 24. April 1920
Konferenz der Alliierten in San Remo überträgt Großbritannien das Mandat
für Palästina.
- Dezember 1920
Dritter Palästinensischer Nationalkongreß, der in Haifa stattfindet,
verlangt für Palästina eine einheimische Regierung.
- 1932 bis 1938
Im Zuge der fünften Alija kommen als Reaktion auf Verfolgung in Europa
mehr als 250 000 jüdische Einwanderer nach Palästina.
- 1936 bis 1939
Widerstand der Palästinenser gegen die britische Mandatspolitik und die
zionisti sche Kolonisation erreicht einen Höhepunkt.
- 29. November 1947
UNVollversammlung beschließt mit der Resolution 181/II die Teilung
Palästinas und die Gründung eines jüdischen und eines
arabischpalästinensischen Staates sowie die Internationalisierung des
Gebietes von Jerusalem.
- 14. Mai 1948
Proklamation des Staates Israel.
- 14./15. Mai 1948
Arabische Armeen beginnen mit einem Angriff auf Israel den ersten
arabischisraelischen Krieg (Unabhängigkeitskrieg).
- 11. Dezember 1948
UNResolution mit Bekräftigung des Rechts auf Rückkehr oder
Wiedergutmachung für Palästinenser.
- 29. Oktober bis 5. November 1956
SuezKrise.
- 1958/59
Palästinenser, darunter Yassir Arafat, gründen in Kuwait die Bewegung zur
Befreiung Palästinas, Fatah.
- 28. Mai bis 2. Juni 1964
Tagung des Ersten Palästinensischen Nationalkongresses, Gründung der
Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).
- 5. bis 10. Juni 1967
SechsTageKrieg.
- 1970
In Jordanien entbrennen zwischen Jordaniern und Palästinensern
bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen, die mit einer Niederlage der
Palästinenser enden (Schwarzer September).
- 6. bis 26. Oktober 1973
JomKippurKrieg.
- 13. November 1974
Erstmals Rede Yassir Arafats vor UNOVollversammlung.
- 5. bis 17. September 1978
In Camp David zwischen Jimmy Carter, Anwar al Sadat und Menachem Begin
getätigte Verhandlungen sehen unter anderem für die Palästinenser in den
israelisch besetzten Gebieten eine Autonomie vor.
- 26. März 1979
Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten.
- 6. Juni 1982
Israelische Truppen dringen in den Libanon ein, um dort die Palästinenser
zu bekämpfen.
- 21. August bis 4. September 1982
13 000 palästinensische Kämpfer ziehen, nachdem sie Wochen hindurch dort
eingekesselt waren, aus Westbeirut ab.
- 8. Dezember 1987
In den israelisch besetzten Gebieten beginnen Palästinenser, vor allem
Jugendliche, eine Rebellion gegen das Besatzungsregime (Intifada).
- 15. Dezember 1988
Die PLO proklamiert auf dem XIX. Nationalkongreß den Staat Palästina bei
Anerkennung der Existenz Israels.
- 30. Oktober 1991
In Madrid beginnt unter der Schirmherrschaft der USA und der Sowjetunion
eine Nahostkonferenz, an der alle am Konflikt beteiligten Parteien
teilnehmen (14 palästinensische Vertreter als Teil der jordanischen
Delegation).
- 13. September 1993
Vertreter der PLO und Israels unterzeichnen in Washington eine gemeinsame
Prinzipienerklärung, die unter anderem für die Palästinenser im Gazastreifen
und im JerichoGebiet für eine Übergangsperiode, eine Selbstverwaltung
vorsieht.
- 4. Mai 1994
GazaJerichoAbkommen.
- 14. Oktober 1994
Yassir Arafat, Schimon Peres und Jitzchak Rabin erhalten in Oslo den
Friedensnobelpreis.
Leben Jugendlicher im Kibbuz
1993 lebten 129 000 Menschen (2,7 Prozent der
Gesamtbevölkerung) in den 272 Kibbuzim, in den einzelnen zwischen 40–1000
Personen. In den meisten Kibbuzim gibt es 300–400 Mitglieder, mit Kindern,
alten Angehörigen usw. insgesamt 500–600 Bewohner. 151 dieser Kibbuzim
wurden bereits vor der Gründung des Staates Israel geschaffen, hauptsächlich
von zionistischen Jugendbewegungen in der Diaspora. […] Zwischen der
Kibbuzideologie – "zurück zur körperlichen Arbeit" – und der heutigen
Situation der Kibbuzim hat sich im Laufe der Jahre eine spürbare
Verschiebung ergeben. […] Von 1969 bis 1973 nahm die Ertragsfähigkeit um
sieben Prozent pro Jahr zu, während die Industrieproduktion durchschnittlich
um 17 Prozent wuchs. Die Kibbuzim produzieren 32 Prozent der
landwirtschaftlichen und 16,5 Prozent der industriellen Gesamtproduktion
(Diamanten ausgenommen). Diese Zahlen spiegeln eine Tendenz wider, die für
den gesamten Zeitraum nach der Staatsgründung typisch ist.
Der neue Wohlstand verändert zwei Aspekte der
KibbuzIdeologie: a) Der Wert der Arbeit wurde am wirtschaftlichen Erfolg und
seiner begrüßenswerten Auswirkung auf den Lebensstandard in den Kibbuzim
gemessen; b) das neue technologische Zeitalter führte dazu, daß sich die
Ausbildung zunehmend außerhalb der Kibbuzim vollzog. Auch die Rolle der
Familie hat sich in den Jahren nach der Staatsgründung gewandelt. Die
Familiengemeinschaft wurde bewußter in den Vordergrund gestellt. Sie
konzentrierte sich auch mehr auf die Kinder. […] Früher lag die Erziehung
der Kinder fast ausschließlich in den Händen einer ausgebildeten Erzieherin,
der Metapelet. Sie begann an dem Tag, an dem die Mutter nach der Entbindung
in ihr Heim zurückkehrte. Während des ersten halben Jahres beschränkten sich
die Kontakte zwischen Mutter und Kind ausschließlich auf die Stillzeiten.
Der Kontakt zwischen dem Vater und seinem Kind war ebenfalls auf diesen
Zeitraum begrenzt. […] Zugleich mit dem Anstieg der Wertschätzung der
Familie vollzog sich in vielen Kibbuzim in den Beziehungen zwischen Eltern
und Kindern sowie den Eltern und der Metapelet ein durchgreifender Wandel.
Diese radikalen Veränderungen gipfelten seit den sechziger Jahren darin, daß
zahlreiche Kibbuzim dafür stimmten, die Kinder bei den Eltern anstatt im
Kinderhaus übernachten zu lassen. Die Enkelinnen der Frauen, die vor 75
Jahren als Ausdruck der Gleichberechtigung von Hausarbeit befreit sein
wollten, beanspruchen nun mehr Einfluß in der Kindererziehung und mehr freie
Zeit für ihre Familie. Ob sie nun bei ihren Eltern oder in Altersgruppen in
Kinderhäusern schlafen, die Kinder wachsen im Kibbuz miteinander auf und
verbringen die meiste Zeit mit ihren Altersgenossen. Von klein auf werden
sie an gemeinsame Arbeit gewöhnt. Jeder hat seinen Fähigkeiten entsprechend
seinen Beitrag zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Ältere Kinder
übernehmen schon Aufgaben im Kibbuz und arbeiten als Oberschüler an einem
Wochentag in der Landwirtschaft oder einem anderen Wirtschaftszweig mit. Die
Grundschule befindet sich in der Regel im Kibbuz, die Oberschule wird meist
regional von mehreren Kibbuzim gemeinsam betrieben. Ihre soziale und
ideologische Erziehung erhält die KibbuzJugend im Jugendverband des Kibbuz
oder in den nationalen Jugendbewegungen, denen die Kibbuzim angeschlossen
sind. Aus diesen kamen Einflüsse, die zu einem tiefgreifenden Umbruch in den
Normen der Kibbuzim führten. Es wird jetzt öfter als früher offene Kritik an
den Kibbuzim geäußert. In Anpassung an die Gesellschaft herrscht eine
größere Liberalität in bezug auf Kleidung und Haartracht, musikalischen und
künstlerischen Geschmack, sexuelles Verhalten, usw. Die Einstellung zur
Arbeit hat sich ebenfalls geändert. Das frühere Einheitsmuster der
KibbuzErziehung hat sich durch die verschiedensten Einflüsse von außen
gewandelt: Die Einführung des Fernsehens in Israel, durch das die
Jugendlichen andere Lebensgewohnheiten kennenlernten, die weiterführenden
Schulen auf regionaler Ebene, der Kontakt mit den Jugendbewegungen in den
Städten, der Zustrom von ausländischen Freiwilligen für einen Sommer oder
ein ganzes Jahr, der Einfluß der Familie – all diese Faktoren trugen zu
einer größeren Differenzierung des Erziehungsmodells in den Kibbuzim bei. Im
Gegensatz zu der älteren Generation, für die die Zugehörigkeit zu einem
Kibbuz eine kontinuierliche Beziehung von Einzelpersonen zu der spezifischen
Lebensweise im Kibbuz bedeutet, erwartet die jüngere Generation, daß
Anwärter auf die Mitgliedschaft – und auch ihre Altersgenossen – besondere
Fähigkeiten aufzuweisen haben, um einen wesentlichen Beitrag zum Leben im
Kibbuz leisten zu können. Einige junge Leute äußerten sogar den dringenden
Wunsch, nach Beendigung des Militärdienstes den Kibbuz für ein Jahr zu
verlassen und sich mit einer gänzlich anderen Lebensweise außerhalb der
Kibbuzim vertraut zu machen, ehe sie die Mitgliedschaft im Kibbuz
beantragen.
Jugend und Jugendarbeit in Israel, hrsg. von
Hermann Sieben, im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, Bonn 1995, S. 145–148.
Anteile verschiedener Sektoren am
Bruttoinlandsprodukt
(Angaben für 1992, gerundet)
Land, Forstwirtschaft und Fischerei |
3% |
Industrie |
20% |
Bauwirtschaft, Elektrizitäts und
Wasserwirtschaft |
18% |
Handel, Gaststätten und Hotelgewerbe |
10% |
Verkehr und Fernmeldewesen |
8% |
Finanz und Geschäftsdienstleistungen |
16% |
Öffentliche Dienste |
21% |
Andere Dienstleistungen |
3% |
Zentralamt für Statistik, Jerusalem.
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