Versuchung
der Demokratie
Israels Identität und die Golanhöhen
Von Natan
Sznaider
Für die meisten Menschen war der 1. Januar 2000 ein
ganz normaler Tag – und auch der Tag, an dem dermaleinst der Friedensvertrag
mit Syrien geschlossen oder Israel von den Golanhöhen abgezogen ist, wird so
aussehen. Weder werden Schafe mit Wölfen weiden, noch werden syrische Panzer
auf Tel-Aviv rollen. Normalität ist ereignislos, banal und deswegen nicht
besonders aufregend. Wenn überhaupt, liegt Attraktivität nurmehr in der
Langweile des unheroischen Daseins. Israels Politiker werden die Bevölkerung
entscheiden lassen, ob ihr Land plötzlich kleiner werden soll – ein Schritt,
den manche als Flucht nach hinten, andere als die Erfüllung demokratischer
(Alb)träume sehen. Und das geschieht zur gleichen Zeit, in der auch die
besetzten Gebiete im Westjordanland Schritt für Schritt an die Palästinenser
übergeben werden.
Die
meisten Israelis sind bereit, diese Entscheidung auf sich zu nehmen – aber
sie tun sich schwer damit. Und das ist gut so. Denn hier geht es um nichts
Geringeres als das eigene Selbstverständnis. Wasser, Raketen, Stützpunkte,
die Lieblingsthemen der sogenannten Experten, spielen eine geringere Rolle.
Dass Israel nicht von einer Welle friedensliebender Lichterkettenträger
überrollt wird, ist kein Zeichen für den Unwillen zum Frieden, sondern für
eine reife Öffentlichkeit, die sich schwer mit dem Verzicht auf etwas tut,
das im Bewusstsein vieler zum nationalen Eigentum zählt. Kein erworbenes
Eigentum, sondern erobertes, bebautes und benutztes Eigentum: in jedem Fall
aber Eigentum.Die Golanhöhen wurden vor 33 Jahren
erobert. Viele jüngere Israelis wuchsen in einem Staat auf, in dem diese
Höhen selbstverständlicher Teil des Landes waren. Vor kurzem demonstrierten
150 000 Menschen gegen den Abzug. Wie viel von ihnen am Ende tatsächlich
dagegen oder dafür stimmen werden, weiß noch niemand. Immerhin sind wohl die
meisten von ihnen weder religiöse Fanatiker noch rechte Falken, die sich
gegen alles Neue wenden.
Nach
jüngsten Umfragen ist auch ein Viertel der Wähler Baraks gegen eine Rückgabe
der Golanhöhen. Insbesondere den Neueinwanderern aus der ehemaligen
Sowjetunion scheint der Friedensenthusiasmus vieler Israelis ziemlich
naiv.
Dieser Enthusiasmus, der bereits ausrechnet, wie viele neue Fabriken in
Syrien errichtet werden können, auf welche Zeit der dreijährige Wehrdienst
verkürzt werden kann und wie lange die Eisenbahnfahrt von Tel-Aviv über
Beirut und Istanbul nach Paris dauern wird – dieser Enthusiasmus, der sich
bereits vorstellt, die Bazare von Damaskus heimzusuchen, ist für
Neueinwanderer häufig noch unbegreiflich.Ihr
historisches Gedächtnis hat weniger mit Israel als mit der alten Sowjetunion
zu tun. Selbst entterritorialisiert, raten sie zu territorialer Vorsicht, zu
Mißtrauen gegenüber einem der treuesten Verbündeten der alten Sowjetunion.
Kamen sie doch nach Israel, um mehr Sicherheit für sich zu suchen; um so
weniger verstehen sie, wie ein Land freiwillig auf Territorium verzichten
kann.
Wieder
andere fragen, ob es Krieg mit Syrien gibt. Sie können und wollen nicht
verstehen, dass ein Unterschied sein soll zwischen „Frieden“ und „nicht im
Kriegszustand befindlich“.In einem Land von 6
Millionen Einwohnern ist eine Demonstrationsmenge von 150.000 Menschen in
der Tat eine beeindruckende Zahl. Indiziert dies aber schon, dass Israel
gegen den Frieden ist? Nein. Es bedeutet nur, dass Israelis ihre Rolle als
diejenigen, die über ihr Land und über Frieden abstimmen werden, ernst
nehmen. Auch über den richtigen Modus der
notwendigen Abstimmung streiten sich die Bürger. Sollen 50 Prozent plus 1
für die Zustimmung reichen? Ist eine größere Mehrheit notwendig? Bei dieser
Frage werden auch die Grenzen des Kollektivs neu diskutiert.
Dürfen die nicht-jüdischen Bürger Israels das Zünglein an der
Waage sein? „Wurde Israel nicht gegründet, um Juden Sicherheit und Identität
zu sichern?“, fragen die einen. Und: „Sind die Araber nicht loyaler
gegenüber den arabischen Staaten?“ Dürfen überhaupt Nichtjuden über solche
Schicksalsfragen abstimmen? „Rassismus“, antworten die anderen, „hier geht
es nicht um jüdische Existenzfragen, sondern um israelische.“
Immer
lauter wird zudem gefordert, dass selbst nach der Rückgabe des
Golan und dem Rückzug israelischer Truppen die rund 18 000
israelischen Siedler dort bleiben können. Anfangs wurde diese Idee nur
belächelt: „Israelis auf dem Golan
unter syrischer Herrschaft, das kann nicht sein, darf nicht sein.“ Die
Syrier, sagt man, werden dem nicht zustimmen; die dort lebenden Israelis
werden dies nicht wollen. Andererseits bestehen die
Siedler darauf, dass der Ort, an dem sie leben und teilweise geboren wurden,
ihre Heimat sei. Kann man Ort und Staat voneinander trennen? Nicht um Heimat
im nationalen Sinn geht es hier, sondern um die Trennung zwischen Ort und
Nationalstaat.
Vielleicht gerade heute, wo die Töne des Post-Nationalismus auch im Nahen
Osten zu hören sind und gerade Friedensbewegte hier vom „Neuen Nahen Osten“
reden, mag diese Lösung die vielleicht kreativste, aber auch
unwahrscheinlichste sein.
Wenn
es wirklich der Fall ist, dass im Zeitalter der kosmopolitischen Demokratie
allgemeine Menschenrechte mehr gelten als die Rechte souveräner
Nationalstaaten, würde es doch Sinn machen, die auf dem
Golan
lebenden Menschen nicht zu zwingen, ihren Ort zu verlassen – so wie Israel
1967 Syrier gezwungen hat, den Golan zu verlassen.
Natürlich sind Menschen keine
Bäume
und können daher einfacher entwurzelt werden; aber ein kosmopolitisches
Demokratiekonzept kann es auch anders sehen. Der Ort muss nicht identisch
mit dem Staat sein. Vielleicht macht es gerade der Frieden möglich, sich
neue post- und transnationale Gemeinschaften vorzustellen. Allein die
Tatsache, dass auch diese Ideen Teil der israelischen Diskussion sind,
bedeutet die langsame Auflösung nationalstaatlichen Denkens.
Alles
in allem ist es kein Wunder, dass zur Zeit mehr Israelis einen Vertrag mit
Syrien ablehnen als bejahen. Für viele Israelis ist „Politik“ eine
Fortsetzung und Erweiterung des bürgerlichen Lebens. Sie fragen sich, warum
die syrischen Unterhändler nicht „nett“ sind, weder lächeln noch bereit
sind, Hände zu schütteln. Auch Israel möchte in der Region akzeptiert
werden, so wie Juden in der Diaspora von der nicht-jüdischen Umwelt
akzeptiert werden wollten. Ein Vertrag mit früheren Feinden soll sofort auch
„Normalisierung“ bedeuten, was weniger mit „politischer“ Normalisierung zu
tun hat als mit einer Freundlichkeit, mit der Assad lächelnd Barak umarmt.
Das
Tempo des Prozesses erlaubt es viele Israelis noch nicht, ihm
uneingeschränkt zuzustimmen. Das sind notwendige Geburtswehen und Ausdruck
einer dynamischen und demokratischen Öffentlichkeit. Die politische Dynamik
dieses Prozesses wird zunehmen, die ideellen und materiellen Interessen
deutlicher werden, und die Mehrheit der Israelis wird für einen Vertrag
stimmen, der für sie nicht nur Verzicht bedeuten wird, nicht das Ende
Israels, sondern einen neuen Anfang – eine neue israelische Identität und
Existenz. Das heißt auch, dass man mit der Eisenbahn sowohl nach Damaskus
als auch nach Paris fahren kann. Und man kann zu Hause bleiben. Das braucht
Zeit. Alles andere wäre verdächtig.
haGalil 23-01-2000
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