
Es war in den letzten Julitagen
1492 (Aw 5252/H'RN''B). Große Menschenscharen schoben sich langsam vor:
zum Meer, nach Barcelona, Almeria, Malaga. Der katholische Geistliche
Palaccio erzählt, was er sah: "Auf offenem Felde halten sie Rast. Die
einen fallen vor Müdigkeit um, die anderen, weil sie krank sind. Manche
sterben, andere werden am Straßenrand geboren. Jeder Christ, der diese
Elenden sieht, wird von Erbarmen ergriffen. Menschen aus dem Volke mengen
sich unter sie und, bitten sie, sich der Taufe zu unterwerfen. Aber der
Rabbi ist gleich zur Stelle und muntert die Müden und Verzweifelten auf.
Bewegen sich die Züge, dann singen die Frauen, und die Kinder schlagen auf
die Handtrommel und blasen auf der Trompete. Wie nun einer dieser Züge das
Meer erblickt, fangen Männer und Frauen an zu weinen, sie raufen sich die
Haare und rufen den Allmächtigen um Gnade und Wunder an. Stundenlang
starren sie auf's Wasser."
Córdoba
Das Ausweisungsedikt Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragonien,
erlassen in Granada am 31. März 1492, war nach dreimonatiger Frist in Kraft
getreten. Die Juden wurden aus dem Lande vertrieben. Sie hatte hier
anderthalb Jahrtausende gelebt. Ein Abschnitt jüdischer Geschichte war zu
Ende. Er hatte im grauen Altertum begonnen.
Legendenumwoben sind die Anfänge dieser Niederlassung. Nach der
Zerstörung des ersten Tempels sollen Juden bereits nach Tarschisch als
Teilnehmer einer phönizischen Handelsfahrt gekommen sein. Mischna und Talmud
sprechen von "Aspamia", das Graetz freilich als das syrische Apamea liest.
Kortova und Kartagene finden bereits Erwähnung. Der judenchristliche Apostel
Paulus besucht Spanien auf seinen Missionsreisen. In einem alten Midrasch werden
Opferdarbringer aus Spanien erwähnt, die nach Jerusalem pilgern, somit also in
die Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels gehören. Nach der Zerstörung des
Tempels (70 n.CE.) werden jüdische Kriegsgefangene nach Spanien gebracht, wo sie
von ihren Glaubensbrüdern losgekauft werden.
Ríbadavía
OurenseZur Zeit
der Einfälle der germanischen Stämme, der Alanen, Vandalen und Sueven,
gibt es in Spanien alteingesessene jüdische Gemeinden. Die Juden pachten
und besitzen auch Boden, führen einen weitverzweigten überseehandel,
bekleiden Staats- und Magistratsposten, leben in friedlichen Beziehungen
zur alteingesessenen romanisierten keltischen Bevölkerung. Die Westgoten,
die 484 ihr Reich gründen, finden eine beträchtliche jüdische
Einwohnerschaft vor, mit der sie sich, als Arianer, auf freundschaftlichen
Fuß stellen, um so mehr als sie sich von Frankreich her und aus dem
byzantinischen Nordafrika der katholischen Propaganda zu erwehren haben.
Dieses Westgotenreich wird für die ihres Glaubens wegen verfolgten Juden
eine Zufluchtsstätte. Sie fliehen vor den byzantinischen Machthabern aus
Nordafrika hierher.
Im
Jahre 589 tritt der Westgotenkönig Reccared unter dem Drucke des
katholischen Klerus zum katholischen Glauben über und stellt die
Geistlichkeit vor die Aufgabe, ein einheitliches katholisches Spanien zu
schaffen. Dies bedeutet die Verfolgung der Andersgläubigen. Kirchenkonzile
fassen nun Beschlüsse, die die Juden in ihren Rechten, ihrem Verhältnis zu
der übrigen Einwohnerschaft, in ihrem Erwerb schmälern sollen. Königliche
Erlasse ordnen Judenverfolgungen an. Es kommt zu partiellen Vertreibungen.
Die einen retten sich durch die Taufe, andere ziehen fort. Es erfolgt eine
Abwanderung nach Nordafrika. Politische Schriften erscheinen von jüdischer
Seite, die die Beschuldigungen zurückweisen. Der Druck der Kirche wird
immer lastender. 711 dringen arabische Eroberer in Spanien ein.
Im arabischen Heer kämpft eine große
Anzahl Juden. Sie setzen sich mit den Siegern im Lande nieder. Dieses Land
nimmt sie alle bereitwillig auf, die Juden aus Nordafrika und Vorderasien,
die Ärzte und Mathematiker, Philosophen und Grammatiker aus Babylonien und
Kairuan. Mit der Zeit wird die spanische Judenkolonie ein geistiges Zentrum,
und es ist ein Mann aus Sura, Mose ben Chanoch, der die Traditionen der
Gelehrsamkeit nach der Iberischen Halbinsel verplanzt. Cordova erhält eine
talmudische Akademie. Man pflegt die Wissenschaften, man schließt sich der
Welt auf, weil man sich frei fühlt von dem ewig lastenden Druck, dem
politischen und dem wirtschaftlichen. Unter arabischer Herrschaft wenden
sich die Juden wieder der Landwirtschaft zu, sie bauen den Oberseehandel
aus, begünstigt durch den Schutz, der ihnen in den arabischen
Staatengebilden des Mittelmeers gesichert ist. Sie vertreiben die
Erzeugnisse der Webereien von Jakob und Josef ibn Dschau in Spanien. Die ibn
Dschau sind Juden. Sie beliefern den Hof der Kalifen und die Armee.
ANYOS
MUNCHOS I BUENOS

Chasdai ibn Schaprut
(905 – 970), Vorsteher der Gemeinde in Cordova, ist Leibarzt und erster
Minister des Kalifen Abdurrahman III. Er ist es, der mit Kaiser Otto I. und
den christlichen Königen im Norden von Spanien unterhandelt. Ibn Schaprut
repräsentiert in glänzender Weise jenen Typ neuer Prägung, der jüdische
Bildung mit weltlichem Wissen und weltmännischem Geschick zu vereinen weiß.
Er knüpft Beziehungen zum Chasarenkönig Josef an. Das unabhängige
jüdisch-gläubige Königreich im Osten Europas übt auf den Mann eine starke
Anziehungskraft aus. Der deutsche Jude Isaak ben Elasar wird von ihm mit
einem Schreiben nach der Chasarenresidenz Itil entsandt. Es entwickelt sich
ein historisch 'bedeutsamer Briefwechsel.
Chasdai entwirft in
seiner Botschaft an den Chasaren das Bild von "Sefarad", dem spanischen
Reiche, wo die Juden glücklich leben: "Unser Land ist fruchtbar, reich an
Quellen, Flüssen und Zisternen; es ist ein Land des Getreides, des Weins und
des Öls; auch' ist es reich an Früchten und Spezereien, mit Gemüse- und
Obstgärten bedeckt, und seinem Boden entsprießen allerlei Bäume,
fruchttragende und Maulbeerbäume, weshalb wir denn auch Seide in Überfluß
besitzen. Es strömen Kaufleute und Händler aus aller Herren Ländern zu uns,
von den fernen Inseln, aus Ägypten und auch aus anderen Reichen. Sie bringen
aromatische Stoffe und Edelsteine mit sich.
Unser König häuft Schätze von Gold, Silber und allerlei Kostbarkeiten an.
Sein Heer ist zahlreicher als das irgendeines anderen Königs der Vorzeit.
Seine alljährlichen Einkünfte, die bei mir einlaufen, betragen
hunderttausend Golddukaten; soviel bringen allein die ausländischen
Kaufleute ein, deren in meinem Verwaltungsbereich liegende Handelsgeschäfte
von mir überwacht werden. Alle Herrscher der Welt, zu denen der Ruf von der
Größe und der Macht unseres Königs dringt, senden ihm ihre Gaben, um sich
sein Wohlwollen zu sichern, als da sind: die Könige von Aschkenas
(Deutschland), von Gebalim oder al-Saklab (der Slawendes Donaugebiets oder
des Balkans), von Konstantinien (Konstantinopel), sowie viele andere."
Gírona
Mit der Ausbreitung
des Arabertums schieben sich in dessen Gefolge die jüdischen Siedlungen von
Granada, Lucena, Sevilla weiter nordwärts vor. Nachdem im 12. Jahrhundert
der arabischen Expansion eine Schranke gesetzt wird, nimmt die friedliche
jüdische Ausbreitung ruhig ihren Fortgang, so daß ein Jahrhundert später die
christlichen Reiche von Kastilien y Aragonien eine jüdische Einwohnerschaft
von 234 ooo (man spricht zu Unrecht von 85o ooo) besitzen. Kastilien allein
zählt um die Wende zum 14. Jahrhundert an die 12o jüdische Gemeinden;
Toledo, Burgos und Sevilla beherbergen die bedeutendsten. Noch am Ende des
14. Jahrhunderts, im Zeichen des Niedergangs, leben in Klein- und
Mittelstädten durchschnittlich 2oo bis 4oo jüdische Familien, die insgesamt
ein Fünftel bzw. ein Drittel der Einwohnerschaft betragen.
Cáceres
Die wirtschaftliche Struktur der spanischen Judenheit erfährt unter
christlicher Herrschaft keine Veränderung. Grundeigentümer, Land- und
Steuerpächter, Handelsmann, Geldleiher, Handwerker – man geht im
christlichen Spanien seinem Erwerb nach wie zuvor. Der jüdische Handwerker
ist eine typische Figur in der spanischen Landschaft, genau wie er es in
Polen ist. In Deutschland" mit seinem straffen Zunftwesen darf der Jude kein
Handwerk betreiben, da bleibt ihm kaum etwas anderes überlassen als die
undankbare, als unproduktiv geltende, Scheinwerte umsetzende Arbeit der
Kreditbeschaffung. Aber in Spanien weiß man, was jüdischer Gewerbefleiß ist
und man gönnt dem Juden die Freude an der Arbeit seiner Hände.
Ein Gang durch das mittelalterliche Saragossa ist belehrend genug. Da sieht
man im jüdischen Viertel die Straße der Gerber, der Schuhmacher, der
Sattler, der Juweliere, der Messerschmiede. Das navarresische Tudela ist die
Stadt der jüdischen Gerber. Die jüdischen Waffenschmiede sind weit und breit
bekannt. Es gibt auch Eisenschmiede und Maurer. Und dann sind es die
Wollweber und die Seidenweber und die Färber, deren Kunstfertigkeit sich als
besonders exportfähig erweisen wird, wenn spanische Juden gezwungen sein
werden, in der fernen Türkei Zuflucht zu suchen. Für die Konsolidierung des
christlichen Staates scheint der jüdische Finanzberater, Sekretär der
fürstlichen Kanzlei, Steuerpächter, eine ebenso unentbehrliche Figur zu
sein, wie er es im arabischen Staate ist. Der nach wirtschaftlicher und
politischer Geltung strebende Staat will auf die Juden nicht verzichten.
Für die spanische Bildungsschicht sind
die Juden die Hüter und Vermittler der arabischen Gelehrsamkeit, die die
Sieger keineswegs gesonnen sind zu vernachlässigen. Im Gegenteil: man ist
bestrebt, sie der eigenen jungen Kultur dienstbar zu machen. Man lernt denn
auch bei den Juden Arabisch, läßt sich in Mathematik, Astronomie,
Philosophie, Heilkunde unterweisen. Die Juden treten als Lehrer auf, als
Übersetzer und auch als ausübende Kartographen, Kalligraphen und Ärzte.
Während der Adel, der die Juden auf seinen Besitzungen als
Kolonisierungselement, als Pächter und Verwalter gebraucht, im kleinen die
Judenpolitik der Könige nachahmt, bezieht die Geistlichkeit eine
judenfeindliche Stellung. Sie wird sich mit dem Gewerbestand darin einig,
daß die jüdische Arbeit in Wirtschaft und Kultur zurückgedrängt werden muß.
Die judenfeindliche Agitation setzt bereits in der zweiten Hälfte des 13.
Jahrhunderts ein. Die Zeiten der toledanischen Konzile unter der
Westgotenherrschaft scheinen wiederzuerstehen. Der Schutz, den die
königliche Gewalt und der Adel den Juden bieten, erweist sich gegenüber
Kirche und Bürgertum als zu schwach. Die Angriffe richten sich zunächst
gegen den jüdischen Glauben, dessen Lehrsätze in öffentlichen
Zwangsdisputationen geprüft werden.
Die politisch ohnmächtige Synagoge
wird in eine Kampfhaltung zur Kirche gedrängt, die ihrem Wesen und ihren
Aufgaben durchaus widersprechen muß. Eine bittere Erfahrung bieten den
treuen Bekennern des Judentums die Schmähschriften von Abtrünnigen, von
Täuflingen, die vor keiner Verleumdung zurückschrecken. Die Juden
antworten mit Schriften zur Verteidigung ihres Glaubens, sie gründen in
Aragonien (1354) einen Bund zur Abwehr der Angriffe.
Die Geistlichen fordern in ihren
Kirchenpredigten zu Tätlichkeiten auf. In Sevilla, wo die Propaganda am
heftigsten geführt wird, fällt der Pöbel am 6. Juni 1391 über die Juden
her. Es entsteht ein furchtbares Gemetzel. Drei Monate lang wütet der
Pogrom in Andalusien, in Toledo, an der Küste von Valencia bis nach
Barcelona hin. Wer von den Massakern an diesen Orten verschont geblieben
ist, hat die Wahl, zu fliehen – man geht nach Nordafrika, nach Portugal,
nach der Türkei – oder zum Christentum überzutreten. Es dauerte zwei
Jahrzehnte, bis die Gemeinden einigermaßen wiederhergestellt werden
konnten. In den großen Städten bildeten sich übrigens kaum noch welche.
Man bevorzugte die Besitzungen des Adels und siedelte sich in den kleinen
Ortschaften an. Eine Ausnahme bildete Andalusien, der letzte Hort der
Maurenherrschaft.
Die Juden in Spanien nach 1391 sind
ein erheblich verelendetes Bevölkerungselement, das sich zum großen Teil
aus ambulanten Händlern, Krämern und gering angesehenen Handwerkern
zusammensetzt. Die gehobenere Schicht gehört nun dem Schein nach nicht
mehr zum Judentum. Die Marannen haben ihrem Glauben abgeschworen, aber man
betrachtet sie weiter als Juden. Die Geistlichkeit verdächtigt ihre
Haltung zu den früheren Glaubensbrüdern. Es ist allen offensichtlich, daß
sie mit tausend Banden den Juden verbunden sie. Die Unfähigkeit, die
Marannen zu assimilieren, führt zum Vernichtungskampf gegen die, die Juden
geblieben sind. Das durch seine Beziehungen zum Judentum belastete
Marannentum, die Neuchristen „des schlechten Blutes" erscheinen der
Geistlichkeit als schwere Bedrohung für die Christen „des reinen Blutes".
Die „Limpezza", die Reinblütigkeit, für deren Bestimmung eine gewisse
Anzahl von Generationen festgesetzt wird, wird, um es mit Worten Rankes zu
formulieren, „zur Waffe der Kinder germanischer und romanischer Christen
wider die Abkömmlinge von Juden und Mauren".
Unter dem Generalinquisitor Thomas
de Torquemada (1483) erhält der Kampf gegen die Neuchristen (conversos)
besonderen Antrieb. In Aragonien versuchen sie, sich zu wehren. Hier haben
sie noch wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluß. Der Inquisitor
Pedro Arbues wird in der Kathedrale von Saragossa bei nächtlichem Gebet
ermordet. Dieser Verzweiflungsakt sowie die Empörung der conversos in
Sevilla vermag aber die Tätigkeit der Inquisition nicht aufzuhalten.
Torquemada erreicht nach der Eroberung Granadas bei der Königin Isabella,
daß die Juden aus den spanischen Landen ausgewiesen wenden. Das
Versprechen, das die Königin ihrem Finanzminister Don Isaak Abravanel
gegeben hatte, soll keine Geltung haben.
Vom 9. bis zum 13. Jahrhundert ist
Spanien der geistige Mittelpunkt der jüdischen Welt. Die spanische
Gelehrtenschule wird von einem babylonischen Gesetzesforscher begründet,
der die Verbindung mit der alten Geistesmetropole gewährleistet. In
Spanien wird der jüdische Gesichtskreis erheblich erweitert. Die profanen
Wissenschaften, Medizin und Astronomie erfahren bedeutende Förderung.
Chasdai ibn Schaprut übersetzt den Dioscorides ins Arabische. Die
hebräischen grammatischen Untersuchungen erhalten eine breitere Grundlage
durch vergleichende Studien anderer semitischer Sprachen. Die jüdischen
wissenschaftlichen Interessen erstrecken sich aber auch auf die Sprachen
der Pyrenäischen Halbinsel.
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Fortsetzung
Mark Wischnitzer: Die
Juden in der Welt
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