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Wie ein Märchen aus
anderen Zeiten
Die vergessene Diaspora in
Bulgarien
Von Matilda Jordanova-Duda
Großmutter erzählte nie
Märchen, dafür um so mehr Geschichten aus ihrem Leben.
Ihre Geschichten waren schauderhaft und schön zugleich wie echte
Märchen. Ich bedaure, daß ich mir nie die Zeit nahm, den Fernseher
auszuschalten und das Ton-
band laufen zu lassen.
Die Geschichte von der
gefälschten Geburtsurkunde habe ich ihr nie so richtig abgenommen.
Ich glaubte, die alte Dame kokettiere mit ihrem Alter. Schließlich
hat sie sich erstaunlich gut gehalten. 1915 steht als Geburtsjahr in
ihrem Paß. Sie aber meinte stets, gegen Ende des Ersten Weltkrieges
geboren zu sein. Der Vater, ein sefardischer Kaufmann, habe die
Urkunde fingiert, um sie früher zur Schule zu schicken, erzählte
sie.
Das Mädchen hatte wohl eine
Begabung für Fremdsprachen: Außer dem sefardischen Spaniol sprach
sie noch Bulgarisch, Hebräisch und Französisch. Durch Zuhören hatte
sie sich als Kind Griechisch und Türkisch selbst beigebracht. Im
bulgarischen Hafenviertel von Burgas wohnten Bulgaren, Juden,
Christen und Türken dicht beieinander - Alteingesessene und
Flüchtlinge aus zwei Balkankriegen und einem Weltkrieg.
Großmutter mochte keine Religion. Denn, auf seine alten Tage wurde
Vater streng religiös", erzählte sie. Vorher war er lange Jahre
Vorsitzender des Junggesellenvereins und zu jedem Streich bereit,
nun las er in der Synagoge aus der Tora, und Mama und wir vier
Kinder, wir mußten stramm stehen, nach der Größe geordnet und im
Sonntagskleid herausgeputzt. Noch schlimmer war es, als Mutter mal
aus Versehen die Teller für Käse mit den Tellern für Fleisch
vertauschte. Das ganze Geschirr flog aus dem Fenster, Geld für neues
hatten wir aber nicht." Trotzdem: zum christlichen Glauben
konvertieren, um ihren bulgarischen Geliebten heiraten zu können -
das wollte sie den Eltern nicht antun.
Die älteste Schwester war
schon verehelicht, die zweite floh mit einer Jugendliebe nach
Palästina. Meine Freudinnen schauten sich bereits nach
Heiratskandidaten um und tanzten die Abende durch", erinnerte sich
Großmutter. Sie hatte andere Pläne. Strebsam wie sie war, hatte die
Gymnasiastin gerade glänzend das Abitur gemacht und brannte darauf,
Landwirtschaft zu studieren. Es war sicherlich ein seltsamer
Berufswunsch für ein Stadtkind, das nie auf dem Lande gewesen war.
Der Traum, beim Sonnenaufgang in Gummistiefeln über die Felder zu
ziehen, ging nie in Erfüllung. Seit Mitte der dreißiger Jahre
verstärkte Bulgarien allmählich die politischen und wirtschaftlichen
Beziehungen zum Dritten Reich" und übte immer mehr Druck auf Juden
aus. Studieren durften sie fortan nur Handelsberufe.
Da sie ein ausgezeichnetes
Schulzeugnis mitbrachte, wurde die zwanzigjährige auf einem der
siebenundzwanzig Studienplätze für Nicht-Bulgaren" an der
Handelsakademie in Varna aufgenommen. Die familiären Ersparnisse für
die Ausbildung waren bereits von der Inflation verschlungen worden,
also jobbte die Studentin bei den bulgarischen Handelspartnern ihres
Schwagers. Eigentlich war sie die Buchhalterin, offiziell galt sie
als Putzfrau: Eine Jüdin durfte keine höhere Position in einer
bulgarischen Firma mehr bekleiden. Wenn Kunden kamen, schmiß ich den
Abakus zur Seite und nahm den Besen in die Hand", erzählte
Großmutter verschmitzt.
Die Firmenbesitzer haben ihr in der fremden Stadt auch Unterkunft
gegeben. Ginka, die gleichaltrige Tochter der Familie, wurde bald
ihre Busenfreundin. Die Mädels schliefen in einem Zimmer und
tuschelten über Männer und Kinofilme. In einem Kino traf Großmutter
ihren künftigen Ehemann. Er ähnelte ein bißchen Humphrey Bogart und
war viel älter als sie. Nur, er war Bulgare. Es war nicht daran zu
denken, Hand in Hand zum Traualtar zu schreiten. Und bürgerliche
Eheschließung, Kinder, gab es damals nicht." Sie verlobten sich
heimlich und beschlossen, sich für immer treu zu bleiben.
Eines Tages im fünften
Semester kam sie zur Vorlesung und fand ihren Namen in der Liste der
Exmatrikulierten. Sie mußte am nächsten Tag die Universität und die
Stadt verlassen. Es war Ende 1940. Bulgarien bewahrte immer noch
seine Neutralität gegenüber den Großmächten, jedoch nicht mehr für
lange. Das hatte viele Gründe. Deutschland nahm inzwischen eine
Monopolstellung in den Außenhandelsbeziehungen des Landes ein. Von
der Leichtigkeit, mit der Hitler die Versailler Weltordnung aus den
Angeln hob, erhofften sich auch die bulgarischen Politiker, die im
Ersten Weltkrieg verlorenen Territorien zurückzuerobern. Einige
Monate später - im März 1941 - schloß sich das kleine Balkanland den
Achsenmächten an und wurde von deutschen Truppen besetzt.
Die neue Regierung unter dem germanophilen Archeologen Bogdan Filov
erließ ein Gesetz zum Schutz der Nation" nach nazistischem Muster.
Juden verloren das Recht auf qualifizierte Arbeit, auf eigene
Organisationen und Schulen. Statt dessen wurde ihnen die Pflicht
auferlegt, ein Viertel ihres Vermögens an den Staat abzuführen. Wie
schön, daß Vater kurz vorher gestorben war" - dankte Großmutter
Gott, von dem sie sonst nicht viel hielt.
Zu Hause erwartete sie ein Brief. Sie sei verpflichtet, ihren
französischen Vornamen durch einen als jüdisch erkennbaren zu
ersetzen, teilte ihr die Behörde mit. Da sie versäumt habe, sich
selbst einen Namen aus der zugelassenen Liste auszusuchen, taufe die
Behörde sie jetzt kurzerhand Elischewa. Sie habe ihre Ausweise und
Diplome auf diesen Namen umschreiben zu lassen. Damit kann man
leben, Mädchen", - tröstete sie der Schwager.
Man bereitete sich auf einen Krieg vor. Bulgarische Divisionen waren
mit deutscher Unterstützung in Makedonien, Thrakien und Serbien
einmarschiert. Die Männer wurden zum Wehrdienst herangezogen. Alle
Juden im arbeitsfähigen Alter - darunter Großmutters jüngerer Bruder
- schufteten in Arbeitslagern für den Bedarf der Kriegsverbündeten
an Lebensmitteln und Rohstoffen. Die Arbeitskräfte waren denkbar
knapp. Es war keiner da, der Begleitpapiere für das Zollamt
auszufertigen wußte, also hat ein guter Bekannter mich empfohlen."
Der Herr Direktor drückte ein Auge zu und nahm die junge Jüdin als
Buchhalterin in die Forstgenossenschaft auf. Wieder hielt sie ihren
Besen griffbereit und wußte den Gelben Stern unter dem kunstvoll
drapierten Schal zu verstecken, wenn sie Geld zur Bank trug. -
Einmal wäre ich beinahe dem Polizeichef in die Hände gelaufen." An
die Folgen dachte sie lieber nicht.
Sie war glücklich, daß ihr Verlobter wegen seiner Stelle in den
strategisch wichtigen Kupferbergwerken nicht mobilisiert wurde.
Treffen konnten sie sich nur heimlich, denn Beziehungen zwischen
Bulgaren und Nicht-Bulgaren waren verboten. Aber wie lange konnte
das gut gehen? In unserer Stadt kannte doch jeder jeden." Bald mußte
der junge Mann sich vor der Polizei rechtfertigen, schon bekamen
beide anonyme Hetzbriefe.
Im Sommer 1943 hieß es: Hitler will alle Juden nach Polen umsiedeln.
Die Gerüchte wurden bald bestätigt. Wir bekamen eine Meldung, daß
alle Bürger jüdischer Herkunft nach Polen deportiert werden. Wir
durften nicht mehr als zehn Kilogramm Gepäck mitnehmen. Was uns da
erwartete, wußten wir nicht, ahnten aber, daß es nichts Gutes war."
In der Nacht vor der Abreise
konnten Mutter und Tochter nicht schlafen. Ebenso die Nachbarn.
Durch das offene Fenster hörte ich die kranke Tante Rivka von
nebenan husten und laut beten, daß man sie in ihrem Bett sterben
lasse. Sie hatte schon seit langem Tuberkulose. Mama hielt meine
Hand fest, streichelte mich und sagte: ''Wir beide bleiben zusammen,
nichts Schlechtes kann uns passieren, wenn wir zusammen bleiben.''
Von den Geschwistern hatten sie keine Nachricht, sie sollten
getrennt in die Wagen einsteigen.
Mein Verlobter - dein Opa - wartete im Hotel Imperial gegenüber,
einen letzten Blick zu erhaschen", - erzählte Großmutter zum
hundertsten Mal den Höhepunkt ihrer Geschichten. Gegen Mitternacht
hörte ich, wie er unser Signal pfiff. Ich guckte aus dem Fenster, er
stand da, völlig außer Atem, und rief mir zu: ''Ihr fahrt nicht, ihr
fahrt nicht, ihr bleibt hier''.
Die Transporte wurden im
letzten Augenblick gestoppt. Die etwa 50.000 bulgarischen Juden
verschwanden nicht in polnischen Konzentrationslagern. Vor der
Vernichtung hat sie der Protest von bulgarischen Intellektuellen und
der orthodoxen Kirche gerettet. Schließlich gab Zar Boris III. dem
Massenprotest nach und lieferte seine Untertanen nicht dem Dritten
Reich zur Endlösung" aus.
Ihre Stadt mußte Großmutter
allerdings verlassen. Bulgarien befand sich im Krieg mit
Großbritannien und den USA, die ersten Bomben fielen. Die Juden als
vermeintliche Fünfte Kolonne durften fortan nicht mehr in Hafen- und
Industriezentren leben.
Im September 1944 überschritten die sowjetischen Truppen die
Donaugrenze und errichteten in drei Tagen die Volksdemokratie".
Großmutter kehrte in die Stadt zurück und trat in die kommunistische
Partei ein. Als die standesamtliche Trauung zugelassen wurde,
standen ihr Bräutigam und sie als erstes Paar in der Stadt vor dem
Beamten.
1949 wurde es erlaubt, nach Israel auszuwandern. Großmutters Mutter
und der Bruder gingen auch an Bord eines Schiffs. Bald danach
brachen die kommunistischen Machthaber alle Beziehungen zum
zionistischen Staat" ab. Fünfzehn Jahre lang konnten die getrennten
Familienangehörigen nichts voneinander erfahren. Als Großmutter
Jahre später zum erstenmal Israel besuchen durfte, lebte sie
wochenlang bei ihrer Schwester in einem Kibbuz. Sie war begeistert
und berichtete nach der Rückkehr der Parteiversammlung von diesem
verwirklichten Gleichheitsideal: Auf diese Weise sollten wir auch
bei uns den Kommunismus aufbauen", erklärte sie den Parteigenossen.
Der Parteisekretär schnitt ihr das Wort ab: Genossin, vergessen Sie
nicht, daß sie von einem kapitalistischen Land reden!"
Großmutter arbeitete sich
hoch und ging als stellvertretende Direktorin einer
Maschinenbaufabrik in Pension. Heute ist ihre Rente umgerechnet
vierzig Mark wert. Wenn sie ihre Zwei-Zimmer-Wohnung im Winter
heizen will, müßte sie aufs Essen verzichten, wäre da nicht die
jüdische Gemeinde, die sie dank Spenden aus Israel und den USA mit
Essen auf Rädern" versorgt.
Irgendwann, versichere ich
mir, irgendwann finde ich bestimmt Zeit, ihre Geschichten auf
Tonband aufzunehmen.
AJW A50Z JH
15.10.1997
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