Antisemitismus 1997?
Vorbereitet für:
Dollase, R., Kliche, Th. & Moser, H. (Hrsg.).
Opfer und Täter
fremdenfeindlicher Gewalt.
Weinheim, München: Juventa.
Wolfgang Frindte, Friedrich
Funke & Susanne Jacob
Neu-alte
Mythen über Juden
Ein Forschungsbericht
Abschwächung und
grundsätzlicher Wandel des Antisemitismus?
"Abschwächung
und grundsätzlicher Wandel des Antisemitismus"
in Deutschland in den vergangenen fünfzig Jahren - sollte das nicht auch
Anlaß sein, nach sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen
Hinweisen zu suchen, um diese Feststellung zu verifizieren oder aber zu
falsifizieren?
Antisemitismus - das Wort, 1879 von Wilhelm Marr,
einem deutschen Antisemiten, geprägt (vgl. Silbermann 1983, S. 341),
spiegelt jene falschen Projektionen wider, mit denen Nichtjuden die
Juden als Juden zu diffamieren versuchen. Und die falschen Projektionen
funktionieren, weil sie sich auf einen Mythos stützen, dessen
Entstehungs- und Wirkmechanismen kaum noch, weil als Rituale der
Zivilisation (Horkheimer & Adorno 1944, hier: 1972, S. 180) so alt wie
die Zivilisation, nachvollziehbar sind. Als Mythos besitzt er jene
Doppelbödigkeit, die ich oben als primäre und sekundäre soziale
Konstruktionen beschrieben habe: Er stützt sich zum einen auf die
Wirklichkeiten der Juden (auf ihre Existenz, Geschichte und Geschichten)
und liefert zum anderen neue, veränderte, verzerrte, "vergiftete" Bilder
und Geschichten über "den Juden" als Fremden, der das Eigene der
"Zivilisation" bedroht und zu vernichten versucht.
"Und so kannten, vom Mittelalter bis in die
Gegenwart, alle Konzeptionen davon, wie eine Gesellschaft beschaffen
sein sollte, in unterschiedlicher Intensität und mit vielfältigen
Ausprägungen, ihr jeweiliges Bild von ‘dem’ Juden und von ‘den’ Juden,
als Gegenbild zum Konstrukt, zum Modell des Guten, des Wahren, des
Eigentlichen, des Eigenen... Das Bild des ewigen, des wandernden Juden
wird erschaffen, das Bild der ‘Judenschule’ wird erschaffen, Bilder des
jüdischen Körpers, des Mädchenhändlers, des Revolutionäres, des
Zersetzers oder des Kapitalisten werden erschaffen und mit Eigenschaften
versehen, die mit den Juden als Gruppe und als Einzelnen, mit ihrer
Religion, ihrer Geschichte und ihrem Lebensalltag nur weit vermittelt zu
tun haben" (Schoeps & Schlör 1995, S. 11).
Der Antisemitismus liefert keine Aussagen über die
Existenz der Juden, keine Aussagen über die jüdische Geschichte, keine
Aussagen über die jüdische Religion. Im Antisemitismus werden diese
Aussagen vielmehr genutzt, um die Juden zu Sündenböcken für die
antisemitischen Wirklichkeiten zu machen.
"Der Antisemitismus ist ein Übel, das auch die
ergreifen kann, die sich sicher und überlegen fühlen; in Situationen der
Krise, in der Provokation kann der antijüdische Apparat aktiviert
werden. Ein Übel, das in der Lage ist, Stimmungen zu erzeugen, Bilder zu
verbreiten, schleichend, nachhaltig, und giftig" (Schoeps & Schlör, ebd.
S. 9f.).
Aber: Horkheimers und Adornos Satz, nach dem es
keine Antisemiten mehr gebe (Horkheimer & Adorno 1972, S. 207), scheint
heute, wenn auch 1944 von ihnen anders gemeint, von besonderer
Aktualität zu sein. Bergmann (1988, S. 227) betont, daß der
Antisemitismus seine Integrationsfunktion zwar nicht verloren, aber ein
Funktionswandel stattgefunden habe.
"Der Integrationseffekt wird weder durch
Verwendung des Antisemitismus in sozialen Kreisen (wie im bürgerlichen
Antisemitismus) noch durch staatliche Indienstnahme (wie im Faschismus)
erzielt, sondern gerade durch die Vermeidung des Themas in der
Öffentlichkeit" (ebd., S. 228).
Bergmann beruft sich damit auf die von Bernd Marin
(1979) vertretene These vom "Antisemitismus ohne Antisemiten".
Seit 1949 werden in der Bundesrepublik in Abständen demoskopische
Erhebungen zum Umfang antisemitischer Einstellungen durchgeführt. Wie
Bergmann (1988) kritisch anmerkt, "haben diese Daten, abgesehen von den
Arbeiten Alphons Silbermann, keine soziologische Interpretation
erfahren" (S. 219).
"Ist die soziologische Forschung zum
Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland bisher im Grunde ein
'Ein-Mann-Unternehmen' gewesen - eben das von Alphons Silbermann und
einigen Schülern -, so gibt es seitens der akademischen Psychologie und
Sozialpsychologie überhaupt keine Arbeiten zu unserem Gegenstand. Gerade
die psychologische Vorurteilsforschung leistet keinerlei Beitrag zur
politischen Psychologie des Antisemitismus" (Bergmann 1988, ebd.).
In seiner 1982 veröffentlichten Studie
differenziert Silbermann verschiedene Formen des Antisemitismus und hebt
die kulturellen, politischen, religiösen und wirtschaftlichen
Komponenten des gegenwärtigen Antisemitismus hervor. Der heutige
Antisemitismus in Deutschland stütze sich vor allem auf tradierte
sozial-kulturelle Vorurteile (Silbermann 1982, S. 72). Bergmann stimmt
zwar der Auffassung Silbermanns zu, wonach weder reale Konflikte
zwischen Deutschen und der jüdischen Minderheit im gegenwärtigen
Deutschland noch das Fortwirken des nationalsozialistischen
Vernichtungsantisemitimus latente Vorurteile gegenüber Juden erklären
könnten, gleichzeitig hebt er aber hervor, daß die Silbermannsche
Tradierungsannahme zur Erklärung der gegenwärtigen Situation nicht
ausreiche (Bergmann 1988, S. 226). Vielmehr sei davon auszugehen, daß
die gesellschaftspolitische Dynamik ein Meinungsklima geschaffen habe,
in dem das Thema "Antisemitismus" bewußt gemieden werde.
"Der Antisemitismus - so unsere These - ist von
einer politischen Ideologie zu einem privaten (Massen-) Vorurteil
geworden, das psychodynamisch an Kraft verloren hat: einmal, weil
affektive Feindbilder gegenüber Asylanten, Arbeitsmigranten usw.
psychische Energie binden und vermutlich zu einer Schwächung und
Abstrahierung des antisemitischen Vorurteils führen, zum anderen, weil
aufgrund der geringen Zahl der in Deutschland lebenden Juden die
selektive Wahrnehmung wenig Anhaltspunkte besitzt, so daß man von einem
'Antisemitismus ohne Juden' sprechen kann" (Bergmann &
Erb 1986, S. 224).
Der Latenzbegriff, der in der öffentlichen wie
wissenschaftlichen Antisemitismusdiskussion eine Schlüsselstellung
einnehme, sei - so Bergmann und Erb - theoretisch ungeklärt. Unklar sei
vor allem, ob es sich beim latenten Antisemitismus um eine psychische
Latenz, im Sinne einer psychoanalytisch zu interpretierenden
Verdrängung, handele oder ob nicht eher eine Kommunikationslatenz
vorliege, also eine systematische Ausblendung jüdischer und
antijüdischer Themen aus den öffentlichen Diskursen.
Kommunikationslatenz ist für die Autoren also die
Form, "in der antisemitische Einstellungen heute in der Bundesrepublik
existieren: In der anonymen Befragungssituation (und
möglicherweise auch in privater Kommunikation) kommen bei einem nicht
geringen Anteil der Bevölkerung sehr deutlich antijüdische Ressentiments
zum Vorschein, während diese in der Öffentlichkeit, etwa in der
Kommunikation mit Fremden, in öffentlichen Veranstaltungen oder in den
Medien... nicht geäußert werden. Diese Kommunikationslatenz
verdankt sich einem extremen öffentlichen Meinungsdruck, da sowohl die
Medien wie auch Prestigepersonen des öffentlichen Lebens, Parteien,
Kirchen, die Erziehungsinstitutionen etc. antisemitische Einstellungen
konsonant verurteilen und bekämpfen" (Bergmann & Erb 1991, S. 502).
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