Plötzlich vibriert eine Art freudiger Besessenheit in
der Stimme des Mannes, der so kühl und präzise über Greuel der Vergangenheit und
Gefahren der Gegenwart zu reden vermag. Also, morgen früh, oder besser: heute,
empfängt er erst mal Besucher im Hotel. Dann geht es im Wagen nach Nizza. Von
dort fliegt er, über München, weil sonst die Anschlüsse nicht klappen, nach
Bremen, um am Abend bei einer Veranstaltung in Nienburg sein zu können. Nienburg
an der Weser, in Niedersachsen. Im Vestibül im Rathaus.
Triumphierend blickt er um sich, als hätte er einen Coup gelandet. Dann fährt
sein Zeigefinger wieder über den Kalender: Am Morgen darauf muß er in
Schleswig-Holstein sein, in Wedel ein Grußwort sprechen zur Eröffnung einer
Ausstellung. Mittags erwarten ihn in Hamburg Studenten zu einer
Kuratoriumssitzung. Und dann kommt Amerika: Sao Paulo, Miami, Atlanta, New York.
Mein Gott, muß das denn sein in dem Alter? Die Damen und Herren von der
Goethe-Gesellschaft und vom deutschen Generalkonsulat geben sich angemessen
beeindruckt. Wie hält er das nur aus? Und Geschäfte macht er doch auch noch -
wann denn bloß? Schläft er überhaupt nicht?
Ignatz Bubis seufzt zufrieden. Solche Fragen hat er gern. 69, nicht wahr, ist
doch kein Alter. Und Geschäfte kann man auch aus dem Auto heraus erledigen. Oder
nach Mitternacht im Büro. Mehr als drei, vier Stunden Schlaf braucht er nicht.
Freizeit schon gar nicht. Aufrecht und wuchtig thront er am Tisch. Seine Augen
blitzen.
Ignatz Bubis ist ein Getriebener ohne Hektik. Immer in Bewegung, aber nur
keine Hast. Im Auto, auf dem Weg von Nizza, hat er auf dem Rücksitz ein halbes
Stündchen gedöst, ist eingenickt mit schrägem Kopf. Seine alarmbereite Präsenz
vibriert ganz dicht unter dem Schlummer. So schlafen Politiker. "Ich bin wie
so'n Schwungrad", verrät er, "wenn sie mich mal in Bewegung setzen, dann läuft
das."
In Schwung geraten ist er im September 1992, als ihn der Zentralrat der Juden
in Deutschland als Nachfolger Heinz Galinskis zum Vorsitzenden wählte. Dem
verschlossenen, bitteren Berliner folgt ein Mann, den seine Mitmenschen
persönlich immer gemocht haben. Nach einem Juden von Beruf übernimmt ein Jude
mit Beruf die Rolle des öffentlichen Erinnerers, wie Bubis spottet.
Aber er will nicht mit Worten mahnen. Er will exemplarisch vorleben.
Unbeirrbar hetzt er seither herum, um sich den Bundesbürgern als "deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens" darzubieten und einer skeptischen
Öffentlichkeit in aller Welt von der relativen "Normalität" jüdischen Lebens in
Deutschland zu künden.
Nicht, daß es Ignatz Bubis an Selbstzweifeln fehlte. Oft fragt er sich: "Will
ich was zwingen?" Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, Lübeck - es sind
bedrohliche Jahre gewesen, mit immer wieder aufflackernder Gewalt, einer, wie
Bubis es ausdrückt, "eher rassistischen Haltung gegen alles, was fremd ist".
Und doch erklärt er an diesem Vorfrühlingsabend jüdischen und nichtjüdischen
Bürgern, deutschen und französischen Studenten im Hörsaal der Universität von
Marseille, was er auch dem israelischen Präsidenten Eser Weizman gesagt hat: "Es
gibt keinen Grund zu sagen, Juden könnten in Deutschland nicht leben."
Da steht er nun zwischen zwei deutschen Sicherheitsbeamten, deren Augen mit
professionellem Argwohn die Reihen der Zuhörer absuchen, und redet über
"Normalisierung" und Demokratie in der Bundesrepublik. "Wir Deutsche", sagt er
einmal. Und: "Unsere antirassistische Gesetzgebung ist beispielhaft in Europa."
Gibt es denn keinen Antisemitismus mehr jenseits des Rheins? "Doch", sagt
Bubis, "soviel wie überall." Und deshalb sollte die Auseinandersetzung mit den
Nazis auch nicht auf Deutschland beschränkt bleiben. "Kein Land kann sicher
sein, daß so was dort nicht auch passieren könnte."
Natürlich ist ihm klar, daß Marseille eine Hochburg des französischen
Rechtsradikalismus ist. Vom Auto aus hat er auf den Hafen geguckt und gemurmelt:
"Dies ist die Stadt von Le Pen." Andererseits weiß er natürlich, daß die beiden
BKA-Beamten nicht deshalb mitgereist sind.
Hat er Angst um sein Leben? "Nee, das ist mehr der deutsche Staat, der Angst
hat." Und die findet Bubis auch berechtigt. Nicht nur, weil die Demokratie der
Deutschen im Ausland immer am Umgang mit den Juden gemessen wird. Sondern auch
wegen der Angriffe auf Lafontaine und Schäuble. "Wir leben ja in einer Zeit der
Verrückten."
Deshalb akzeptiert Ignatz Bubis seinen Sonderstatus, wenn er auch sieht, daß
die ständige Präsenz der Sicherheitsbeamten seinen Versuch nicht leichter macht,
sich den Deutschen als Landsmann von gleich zu gleich zu präsentieren. Ganz
einfach hätte er es gern, ein Deutscher unter Deutschen.
Eigentlich sei ihm alles Missionarische zuwider, sagt er, aber das will er
wohl doch erzwingen: der Welt, seiner Familie und sich selbst beweisen, daß er
dazugehört. Mehr nicht. So, wie das bis 1930 "eine Selbstverständlichkeit" war,
weil es das gab, "was man ein deutsches Judentum nannte".
Er selbst muß sich dafür nicht anstrengen. Ignatz Bubis fühlt sich nicht als
Fremder in Deutschland. Er ist in Breslau geboren, findet sich geprägt von
deutscher Kultur. Politisch ist er in der FDP aktiv. Im Bundesvorstand
verkörpert er einen altliberalen Typ, der selten geworden ist - er ist
Marktwirtschaftler und Bürgerrechtler zugleich. Schon lange nennt er Frankfurt
am Main seine Heimatstadt.
Und als Opfer sieht sich Ignatz Bubis schon gar nicht. Ist nicht sein eigener
geschäftlicher und politischer Erfolg ein Stück deutsches Wirtschaftswunder?
Mit dem kleinen Kapital, das ihm ein Onkel vorgeschossen hatte, ist der
18jährige Ignatz Bubis 1945 in Dresden und Berlin in die Tauschgeschäfte der
Nachkriegszeit eingestiegen: Schmuck und Antiquitäten gegen Lebensmittel,
tschechische Kronen gegen Dollar.
Bubis, der - unter sieben Idiomen - auch "gehackt" Russisch spricht, wie er
sagt, wird schnell zum gehätschelten Liebling sowjetischer Offiziere. Er
kutschiert mit dem Segen der Besatzer den Horch des Nazi-Außenministers von
Ribbentrop durch die Gegend, und er schmuggelt, neben desertierten Offizieren
der ruhmreichen Sowjetarmee, auch den deutschen Fußball-Star Helmut Schön und
seinen ganzen Dresdner SC in den Westen.
Rauschende Feste und riskante Unternehmungen - nach fünf Jahren Terror im
Nazi-Arbeitslager genießt der rotgelockte junge Mann das Leben im Stil eines
Romanhelden von Johannes Mario Simmel.
Als ihm bei den Russen der Boden zu heiß wird, steigt er im Westen zunächst
in den Edelmetallhandel, dann ins Schmuckgeschäft ein. Später wechselt er über
auf Immobilien. Das Wort "Spekulant" empfindet er nicht als Schimpf. Alle
Geschäftsleute "spekulieren".
Er wird reich, weil er unabhängig bleiben will. Das ist sein Lebenscredo: nie
wieder von irgend jemand abhängig sein, um keinen Preis der Welt. Mit dieser
Haltung wurde der Bauherr Bubis - im Hausbesetzerkampf um die Gründerzeitvillen
des Frankfurter Westends - zum Lieblingsfeind der Szene und am Ende gar, in
Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", eine fast
literarische Figur.
Damals mag ihm das ungerecht und zwielichtig erschienen sein. Heute ist diese
Auseinandersetzung Teil der deutschen Geschichte.
Ignatz Bubis ist kein eitler Mann. Er denkt, daß er in der deutschen
Öffentlichkeit viel zu positiv beurteilt wird. Aber das heißt nicht, daß er
seinen Wert nicht hoch einzuschätzen wüßte - da ist er nicht zimperlich.
Ist er nicht eine bekannte und beliebte Figur, ein Medienstar und so etwas
wie eine moralische Instanz? Wird er nicht allgemein gepriesen wegen seiner
Vernunft und geachtet ob seiner Geradlinigkeit? Doch wurmt es ihn, daß das
meiste Lob dem Juden gilt, dem Zentralratsvorsitzenden. Die Wohl- oder gar
"Bestmeinenden" sind ihm suspekt.
Um so mehr freut er sich, wenn es mal anders ist. Zwar regt sich keine Miene
in seinem Gesicht, als ihm unlängst Karl Ludwig Freiherr von Freyberg, der
Vorstandssprecher der Frankfurter Allianz-Versicherungs-AG, öffentlich
versichert: "Sie sind ein Repräsentant Deutschlands." Und doch ist es, als habe
plötzlich jemand das Gesicht des Ignatz Bubis von innen angestrahlt.
Denn täglich erlebt er das Gegenteil. "Für die Öffentlichkeit", sagt er, "bin
ich ein Ausländer."
Das trifft ihn, auch wenn er es sich erklären kann. Relikte der
Nazi-Propaganda und die Gründung des Staates Israel wirken in die gleiche
Richtung. Und wer kennt schon noch einen Juden persönlich? Unter 80 Millionen
Deutschen sind 50 000 bis 60 000 Bürger mosaischen Glaubens eine extreme
Minderheit. Bubis: "Für die überwiegende Mehrheit im Lande, nicht nur für die
Antisemiten, ist der Jude ein Fremder - ein Überbleibsel des 1000jährigen
Reiches."
Mit Anekdoten versucht Bubis seine Zuhörer auf den Irrtum aufmerksam zu
machen, wo immer er auftritt. Auch der Allianz-Versammlung in Frankfurt hatte er
erzählt, wie Günter Reichert, der Präsident der Bundeszentrale für politische
Bildung - "der politisch Obergebildetste in Deutschland also" -, ihm beim Besuch
des israelischen Präsidenten Weizman zur Rede "seines" Staatsoberhauptes
gratuliert habe.
"Oh, Präsident Herzog hält immer gute Reden", habe er erwidert, aber der
frühere Dregger-Assistent Reichert beharrte darauf, Bubis zum Ausländer zu
machen - "Ich meine Ihren Präsidenten, Herrn Weizman."
Zögerndes Gekicher deutet an, daß die wenigsten der gut 300 Gäste im
Versicherungshochhaus die Bubis-Pointe verstanden haben. Also muß er seine
Haltung noch klarer machen.
Wiewohl Ignatz Bubis bekennt, daß ihn Dummheit und Begriffsstutzigkeit seiner
Mitmenschen schnell ungeduldig werden lassen, widmet er seinen Zuhörern in
diesen Fällen eine geradezu überirdische Gelassenheit. Ohne Anzeichen von
Gereiztheit oder Arroganz erzählt er also auch noch sein Erlebnis mit Werner
Höfer, der ihn - bei einem Treffen in Baden-Baden - über die Reaktionen "in
Ihrem Lande" nach den Ausschreitungen von Rostock befragte.
"Ach", hat der Frankfurter Bubis da geantwortet, "das sehen wir in Hessen so
ähnlich wie die Leute hier in Baden-Württemberg." Aber auch Höfer habe darauf
bestanden, ihn als Ausländer zu behandeln.
Das Gelächter im Allianz-Saal ist noch nicht lange verebbt, da fragt einer
der Gäste den Vorsitzenden Bubis nach den Reaktionen der tschechischen Juden -
"Ihrer Landsleute" - auf mangelhafte deutsche Entschädigungsleistungen. "Sie
meinen meine Glaubensbrüder", korrigiert Bubis.
Geht ihm das nicht auf Dauer unter die Haut? Pastor Klaus-Dieter Lydike in
der evangelischen Kirche von Altglienicke, am südlichen Rand des früheren
Ost-Berlin, ist erschrocken über die Ignoranz seiner Landsleute. Aber Bubis
wehrt ab. Er nehme es mit Humor. "Man hat jeden Tag Grund, sich zu amüsieren."
Der läßt auch hier nicht lange auf sich warten. Kaum hat Bubis zu Ende
geredet - natürlich fehlen weder das Weizman- noch das Höfer-Beispiel -, da
nähert sich ihm ungläubig ein Schüler und fragt: "Wollen Sie wirklich behaupten,
Sie fühlten als Jude genauso wie ein richtiger Deutscher?"
Geduldig bestätigt das Ignatz Bubis. Er habe nun mal nur die eine
Staatsbürgerschaft, wenn er auch - pflegt er als gewiefter Geschäftsmann
hinzuzufügen - die Schweizer gern zusätzlich besäße.
Ach wirklich? Noch nie, sagt verblüfft der junge Ost-Berliner, habe er das so
gesehen.
Das sind die kleinen Freuden des Zentralratsvorsitzenden, der schätzt, daß er
in seiner Amtszeit schon mit mehr als 100 000 Jugendlichen zusammengetroffen
ist. "Das Interesse und das Wissen über die Juden hat zugenommen", sagt er, "das
Judentum ist weniger fremd geblieben."
Es gibt Momente, da glaubt sich Ignatz Bubis solche Einschätzungen. Aber
unverändert überfallen ihn auch jene Augenblicke, oft nur Sekunden, in denen er
- aus Zeit und Raum entrückt - die Fremdheit schlechthin zu verkörpern scheint.
Bewußt sind sie ihm nicht - aber für jeden erkennbar. Es ist dann, als sei der
Lebensfilm des Ignatz Bubis für einen Moment angehalten.
Standfoto. Plötzlich wirkt Ignatz Bubis, als habe er sich in einer grauen
Haut versteckt, die ein paar Nummern zu groß ausgefallen ist. Aufrecht und
eingesackt zugleich, den Mund leicht geöffnet, sitzt er dann zwischen seinen
Mitmenschen. Hört er was? Sieht er was?
Da wird jener Ignatz Bubis sichtbar, der nicht träumt. Das ist der Mann, der
von sich selbst noch im vergangenen Jahr gesagt hat: "Ich habe meine eigenen
Emotionen immer verdrängt. Ich habe mich mit meiner eigenen Geschichte und mit
der Geschichte meiner Familie nie auseinandergesetzt." Deshalb vermag er ganz
sachlich "über diese Dinge" zu reden. Hätte er nicht, fragt er, schon vor 50
Jahren Selbstmord begehen müssen, wenn er dazu fähig gewesen wäre?
Daten. Namen. Begriffe. Knappe Aussagen. Mit schlichtem Wortschatz ist Bubis
in der Lage, höchst differenzierte und gebrochene Sachverhalte zu beschreiben.
Er verdichtet extrem. Einerseits weiß stets jeder, woran er ist. Andererseits
erfahren sehr unterschiedliche Menschen sehr unterschiedliche Dinge aus den
gleichen Sätzen. Sie müssen nur den Code kennen.
So ordentlich, wie er redet, lebt er auch - Ignatz Bubis ist ein Mann der
konservativen Formen. Ohne besonders religiös zu sein, besteht er auf strikten
Ritualen. Obwohl er kein konventioneller Mensch ist, kleidet er sich stets
korrekt und langweilig - dunkler Anzug, gedeckte Krawatte. Traditionen sind ihm
wichtig. Immer beruft er sich dabei auf seine Familie.
Sachlichkeit im Ausdruck, Zurückhaltung im Verhalten, Korrektheit im Umgang.
Mit allem erweckt Ignatz Bubis den Anschein, er sei ein cooler Typ. Doch das ist
ganz und gar falsch.
Er will aber niemanden täuschen. Er will sich immer nur schützen. Aus
Disziplin und Konventionen hat er sich einen Panzer geschmiedet. Nicht gegen die
Freuden des Lebens, sondern gegen die Schmerzen des Todes.
Der hat lange gehalten. Bis 1978 im Deutschen Fernsehen die "Holocaust"-Serie
anlief, hatte Ignatz Bubis zu seinem persönlichen Schicksal und dem seiner
Familie geschwiegen. "Das ist mir nicht einmal bewußt gewesen", bekennt er. Dann
durchbrach seine Tochter die Mauer.
Daß er den Tod seines ermordeten Vaters nie wirklich zu verdrängen vermochte
- wie er sich einzureden versuchte -, das weiß Bubis sogar erst seit 1989. Da
fuhr er endlich nach Treblinka, "wo die Asche meines Vaters liegt". Er erlitt
mit 62 Jahren dort einen Zusammenbruch: "Seither spreche ich." Das verändert
ihn.
Sosehr Ignatz Bubis sich eine "Normalisierung" wünscht im Verhältnis der
Juden und der Deutschen; sosehr er beteuert, er habe nie Probleme gehabt, wie er
als Deutscher mit sich als Juden leben solle - die Ahnung, daß die Vergangenheit
ihn dennoch unausweichlich und für immer zum Fremden macht im eigenen Land, holt
ihn langsam ein.
Es muß endlich mal Schluß sein? Erst vor kurzem ist Ignatz Bubis wieder mit
einem Bruchstück seiner eigenen Familiengeschichte konfrontiert worden:
In Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, hat er die Fragebögen
durchgeschaut, die dort aufbewahrt werden. Sie dienen der Suche nach
verschollenen Juden. Beim Blättern stößt er 266mal auf den Namen Bubis. Er
stutzt aber erst, als er "Dinah Bubis" liest.
Ist das seine Schwägerin? Die Frau seines ältesten Bruders Jakob aus
Warschau, der 1939 vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet ist? Sicher ist
Ignatz Bubis, als er entdeckt, daß ein Bernardo Bajgelman aus Sao Paulo nach
Dinah forscht. Ja, das muß die Familie seiner Schwägerin sein, Bajgelman hieß
sie mit Mädchennamen.
Noch in derselben Nacht telefoniert Ignatz Bubis mit seinem angeheirateten
Vetter Bernardo in Brasilien, einem Professor für Genforschung, der den
Deutschen nach Sao Paulo einlädt. Zwei Brüder der verschollenen Schwägerin Dinah
sind schon 1930 nach Brasilien ausgewandert. Auch mit einem von ihnen
telefoniert Bubis. Wenige Wochen später sitzt er selbst im Flugzeug nach
Brasilien.
Die Entdeckung des verschollenen Zweigs seiner Familie verstärkt in Ignatz
Bubis jene Gefühle, die er über Jahrzehnte zu verdrängen versucht hat. Gewiß,
noch immer kann er mit kühler Sachlichkeit öffentlich über das Grauen seiner
Kindheit reden: über seine Knabenzeit als Briefträger im Ghetto des polnischen
Ortes Deblin, dem Geburtsort seiner Mutter, zu dem die Familie 1935 aus Breslau
zurückgeflüchtet war; über den Abtransport seines Vaters nach Treblinka, den er
vergebens zu verhindern versuchte; über den Tod seiner beiden älteren
Geschwister und ihrer Familie.
Doch seit er in Brasilien war, gelingt es Bubis nicht mehr, diesen Teil
seines Lebens - der ihn jeder deutschen behaupteten Normalität entfremden muß -
"wegzuwischen", wie er es früher versuchte.
Er will es auch nicht mehr. Zwar erzählt er immer noch mit faktengenauer
Präzision, wie ihn Freunde und künftige Verwandte 1944 daran gehindert haben,
dem von der SS abgeführten Vater hinterherzulaufen, was wohl auch seinen eigenen
Tod bedeutet hätte. Aber jetzt setzt er leise hinzu: "Damit bin ich noch längst
nicht fertig."
Und nun hat er in Sao Paulo im Kreise der Bajgelmans eine Großfamilie erlebt.
Vetter Bernardo und seine Schwester, drei Töchter, ein Sohn, zwei
Schwiegersöhne, sechs Enkel. Deutlicher hat er selten empfunden, was ihm
genommen wurde für den Rest seines Lebens. Ignatz Bubis läßt Trauer an sich
heran.
Gut 58 Jahre nach ihrer letzten Begegnung erfährt er Einzelheiten über das
Leben seines Bruders Jakob, der 21 Jahre älter war als der Nachzügler Ignatz,
ein begeisterter Kommunist, dem alle für die Nachkriegszeit eine Karriere als
polnischer Minister voraussagten. Fotos und seine Hochzeitsanzeige rücken den
fremden Bruder und seine Familie dem Überlebenden nahe.
Ignatz Bubis findet keine Ruhe auf dieser Reise. Auch fehlt ihm in Südamerika
die gewünschte Ablenkung durch Terminhetze. Daß Jakob Bubis und seine Frau Dinah
sich 1939 in der Sowjetunion einbürgern ließen und damit dem Schicksal
entgingen, von Stalins Häschern nach Sibirien geschickt zu werden, wußte er
schon. Jetzt ist er sicher, daß sie statt dessen Himmlers Schergen in die Hände
fielen.
Seither muß sich Ignatz Bubis anstrengen, um die kühle Distanz durchzuhalten,
mit der er öffentlich von der Ermordung seiner Angehörigen zu sprechen pflegt.
"Vielleicht habe ich ja meinen Vater selber umgebracht", höhnt er unlängst in
Waiblingen, als ein dumpfer Rechtsradikaler darauf beharrt, die Nazis seien doch
selbst Juden gewesen. "Glauben Sie das?" fragt Bubis klirrend. "Ja." "Dann
bleiben Sie dabei." Mit solchen Unbelehrbaren darf man nicht streiten, findet
der Zentralratsvorsitzende. Aber sie motivieren ihn zum Weitermachen.
Er sagt das, als müsse er sich selbst anfeuern. Denn sobald Ignatz Bubis
jetzt im kleinen Kreis einfühlsame Seelen um sich vermutet, kramt er einen
Umschlag mit Fotos aus der Tasche, die er in Brasilien bekommen hat. Und mit
zornigem Finger deutet er auf einen kleinen Schnappschuß - sechs mal sechs -,
der ein Kind im Wald zeigt.
"Dieses Bild hat mich total erschüttert", sagt Ignatz Bubis. Seine Stimme
zittert. Er hat das Foto vergrößern lassen - ein niedliches Mädchen zupft
verschämt und ein bißchen kokett an seinem kurzen Spitzenröckchen.
Das, sagt Ignatz Bubis, sei seine Nichte Rachel gewesen. Als sie acht Jahre
war, hat er sie zuletzt gesehen. Jetzt starrt er auf das Bild und fragt sich, ob
er wohl in den fünfziger Jahren in Deutschland geblieben wäre, hätte er damals
schon dieses Foto gesehen? Hätte er dann auch zu jenem Volk der Deutschen
gehören wollen, die solche Kinder vergasten oder totschlugen?
Seine Frau - der er im Ghetto von Deblin begegnete, als sie vier Jahre alt
war - hat die Leidenschaft des Ignatz Bubis, in Deutschland dazugehören zu
wollen, nie geteilt. Seiner Tochter und deren gleichaltrigen Freunden ist die
erhoffte Geborgenheit in einer Nation ohnehin nichts anderes als eine
romantische Marotte. Sind sie nicht alle Fremde in der Gesellschaft von
Individualisten?
Nun ist sich auch Ignatz Bubis seiner Sache nicht mehr sicher. Das erschreckt
ihn: "Zweimal habe ich mich in Südamerika gefragt, ob es richtig war, in
Deutschland zu bleiben." Was bewirkt er denn schon? "Man könnte Fatalist
werden", bekennt Ignatz Bubis in Waiblingen. Aber dann ruft er sich zur Ordnung:
"Noch bin ich es nicht."