Freudental, 17. März – Manche Leute glauben,
Herr Bez sei so etwas wie der Rabbiner von Freudental an der Schwäbischen
Weinstraße. Wenn sie dann in das kleine Dorf am Fuß des Strombergs kommen,
sind sie enttäuscht. Herr Bez ist kein Rabbiner. Und die ehemalige
Synagoge ist weiß und leer. „Wo sind denn die Sachen aus der Synagoge?“
fragen die Besucher. Nichts mehr da, antwortet Ludwig Bez. „Nichts mehr
da? Warum sind wir denn hier?“ Dann sagt Bez zu ihnen: „Sie sind da, um zu
sehen, daß es nichts mehr zu sehen gibt.“ Alles ist vernichtet, die
Thorarollen und die Menschen.
Wie man den Verlust sichtbar macht, darüber
debattieren sie im entfernten Berlin seit Jahren. Ein Mahnmal für den
Holocaust soll entstehen, aber wie es aussehen wird, ist noch nicht
entschieden. Als Bez am zweiten Advent 1981 nach Freudental kam und die
halbverfallene Synagoge sah, war ihm klar: „Das darf keine museale
Attrappe werden und auch kein Mahnmal. Ein Mahnmal erledigt die
Vergangenheit, setzt einen Schluß.“ Bez und der Freudentaler Verein zur
Erhaltung der Synagoge einigten sich schnell, daß hier ein Ort der
Begegnung entstehen soll. Sie renovierten das alte Gebäude und richteten
ein „Pädagogisch-Kulturelles Centrum“ (PKC) ein. Bez ist Geschäftsführer.
Kürzlich feierte das Zentrum seinen dreizehnten Geburtstag; dazu
gratulierten die israelische Photographin Varda Polak-Sahm mit einer
Ausstellung und der israelische Botschafter in Bonn, Avi Primor.
Manche Leute glauben, Bez esse wenigstens
koschere Speisen, wenn er schon kein Rabbiner sei. Sie denken, wer eine
Synagoge vor dem Abriß rette, müsse Jude sein. Bez hat aber evangelische
Theologie studiert, auch Sport und Sozialpädagogik. 1979 ging er nach
Israel und lebte ein Jahr im Kibbuz Schamir. Am Anfang wollte man ihn dort
gar nicht haben. Eine Frau drohte, den Kibbuz zu verlassen, falls der
Deutsche noch eine Nacht länger bleibe. Judith Jäger, so heißt die Frau,
überlebte als einzige ihrer Familie den Holocaust. Nach stundenlangen
Gesprächen lenkte sie ein und er durfte bleiben. Sie erkannte, daß Bez
nicht einer dieser Deutschen ist, die immer „ja, aber“ sagen, wenn es um
ihre Geschichte geht.
Durch die Erzählungen der Menschen in Israel
beschäftigte sich Bez erstmals intensiv mit der Judenvernichtung in
Deutschland. „Mir wurde damals klar“, sagt er, „daß meine persönliche
Vergangenheit, obwohl ich Jahrgang ‘49 bin, eng mit dem Faschismus
verknüpft ist.“ Sein Vater war Ortsgruppenleiter der NSDAP. Auch nach dem
Krieg habe der Vater an NS-Erziehungsmethoden festgehalten. „Das Schwache
in mir sollte weg, nur das Starke zählte.“ Der Vater arbeitete bald nach
der Kapitulation wieder als Grundschullehrer.
Daß die Bewohner des Kibbuz Schamir Bez
schnell vertrauten, hat er seiner Überzeugungskraft zu verdanken. Das hat
er sich bis heute bewahrt: Wenn er mit jemandem spricht, hört er sich die
Fragen geduldig an und überlegt lange, bevor er antwortet. Im Kibbuz
Schamir wollten sie ihn als Sporttrainer behalten. „Ich habe aber
gespürt“, sagt Bez, „daß mein Platz nicht in Israel ist.“ Als Bez 1980
nach Deutschland zurückkehrte, arbeitete er zunächst als Religionspädagoge
in Stuttgart. Die Sache mit der ehemaligen Synagoge sei ihm „vor die Füße
gelegt worden“. Ein Freund hatte ihm erzählt, in Freudental gebe es eine
alte Synagoge, die abgerissen werden solle. So reiste er nach Freudental
und blieb.
Im vergangenen Jahr hat Bez etwa 100
Schulklassen und Erwachsenengruppen empfangen. Und nachdem er ihnen die
Illusion genommen hat, sie könnten ein jüdisches Schmuckkästchen
besichtigen, erzählt er ihnen aus der Geschichte des Dorfs. Seit dem 16.
Jahrhundert haben Juden in Freudental gelebt, 1770 erbauten sie die
Synagoge. 377 Freudentaler jüdischen Glaubens zählte man 1862. Außerhalb
des Dorfes, auf einer Anhöhe, liegt der jüdische Friedhof. Hier sind
Heinrich Heines Tante und Albert Einsteins Onkel begraben. Was in 400
Jahren an jüdischer Kultur gewachsen war, wurde am 10. November 1938
zerstört.
In allen deutschen Städten fand das Pogrom in
der Nacht zuvor statt, in den Dörfern stachelten die SA-Truppen die
Bevölkerung erst am Morgen auf. In seinem Büro bewahrt Bez Kopien von
Dokumenten aus dem Hauptstaatsarchiv in Stuttgart auf. Darin erzählen
Freudentaler, was an jenem Tag und der darauffolgenden Nacht in ihrem Dorf
passierte. Sie schreiben über die Gewaltexzesse von Nachbarn gegen
Nachbarn. Sie nennen die Namen der Täter, von denen einige heute noch im
Dorf leben. Und sie nennen die Straßen und Hausnummern, in denen Menschen
gequält wurden. Eine Frau schreibt, sie habe gesehen, wie die Nachbarinnen
ins Haus der Frau S. eindrangen. Sie habe gehört, wie sie die Treppe zum
Schlafzimmer hinaufstürmten, „ebenso das Klatschen der Schläge und das
Jammern und Schreien der bald 80jährigen Frau S., welches mit der Zeit der
Schläge immer schwächer wurde“. So zogen die Frauen von Haus zu Haus,
während ihre Männer ein paar Meter weiter Nachbarn so zusammenschlugen,
daß die Opfer heute noch unter Gesundheitsschäden leiden.
Bez hat in den letzten Jahren immer wieder
ehemalige Freudentaler aufgesucht, die vor den Nazis flüchten konnten.
Einige haben das PKC besucht, um von ihrer Verfolgung im Dritten Reich zu
erzählen. Andere wollen nicht in ihre frühere Heimat zurückkehren. Als Bez
die ehemalige Freudentalerin Margot Rubin fragte, warum sie nicht zu
Besuch kommen wolle, erzählte sie ihm folgende Geschichte. Ihr Vater
Julius Stein ließ sich 1948 in London röntgen. Da fragte ihn der Arzt:
„Sagen Sie, hatten Sie mal eine Lungenkrankheit?“ Nein, antwortete Stein.
Woher dann diese Narben kämen. „Die sind von 1938“, antwortete Stein.
Damals, am 10. November, schlugen ihn der Freudentaler Bürgermeister S.
und der Lehrer B. mit Stahlruten zusammen.
Nun kann man fragen, was es bringen soll,
wenn man heute erfährt, wer vor 60 Jahren an dem Pogrom beteiligt war. „Es
geht nicht um die Schuldfrage“, sagt Bez. „Es geht um uns. Wir müssen
verstehen, daß es 1945 nicht vorbei war“, sagt Bez. Ortsgruppenleiter B.
war weiterhin als Lehrer tätig, auch andere wollen heute noch nichts von
einem Verbrechen wissen. „Meine Generation ist in einer derart verlogenen
Welt aufgewachsen. Viele Menschen sind noch stark vergiftet von der
Katastrophe. Das PKC dient nicht einer fadenscheinigen Versöhnung mit den
Juden“, sagt Bez. „Es ist für uns, damit wir wissen, was mit uns passiert
ist.“
SZ vom 18.03.1998 von Annabel
Wahba