Die Auswanderer
B.
Wechsler, Landrabbiner, Oldenburg, 20. December 1846, ein
Vortrag, gehalten im Verein für Volksbildung zu Oldenburg
Gefunden in den Beständen der "Forschungsstelle
Deutsche Auswanderer in den USA" (DAUSA) der
Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg.
II.
Ich gehe, obgleich über diesen Punkt namentlich auch in
Beziehung auf unser Land (Nur beiläufig sei bemerkt, daß in unserm
Herzogthume die vorbeugenden Maaßregeln gegen dieses Uebel um so
nothwendiger scheinen, weil noch vorgebeugt werden kann, weil bei uns
gottlob das Uebel noch nicht so weit um sich gegriffen hat. Aber ein Traum
wäre es, wollte man sich dem Glauben hingeben, wir seien von diesem
Zwiespalte noch gar nicht bedroht. Wer Auge und Ohr offen hat, der werkt
auch bei uns den Spuk.) noch gar viel zu sagen wäre, zur zweiten Ursache der
Auswanderung über, und die ist der lange Friede mit seinen nächsten,
ungenügenden Folgen. Das aber bitte ich so zu verstehen:
Als in dem Jahre 1813 Deutschland sich in heiliger
Begeisterung erhob, um das Joch der ausländischen Herrschaft abzuschütteln,
als dort Preußen's König den bekannten Aufruf erließ und in die Arme seines
Volks sich warf, da flammte das Feuer der Nationalität in deutscher Brust
wieder hochlodernd auf, da gab man Gut und Blut willig hin für die Hoffnung,
nun wieder eine edle Selbstständigkeit, eine ruhmgekrönte, kräftige und
freie Existenz zu erringen, wiederum einzutreten in die Reihe der ersten,
ehrfurchtgebietenden Nationen Europas. Als sodann der Friede, der theuer
erkaufte, kam und in Wien von der Diplomatie die Loose vertheilt wurden, als
die Fürsten wieder zusammentraten und an die Stelle des undeutschen
rheinischen Bundes den deutschen gründeten, da glaubte und hoffte man
wiederum, nun werde Deutschland der Preis seiner Anstrengung werden, nun
werde es einig und frei wieder auferstehen, ein Phönix aus der Asche, zu
Ruhm und Ehre, zu Macht und Glück; nun werde es wiederum ein Volk werden,
stolz und keck sein Haupt erhebend, an das Werk seiner Regeneration mit
frohem Selbstgefühle gehend, Fürsten und Volk sich vertrauungsvoll auch
ferner die Hände reichend zu Rath und That. Wir wissen, daß das in gar
mancher Beziehung anders gekommen ist, daß die Folgen des Friedens [1813:
Vertreibung Napoleons; 1815: Wiener Kongreß: Restauration] nicht die waren,
die sie hätten sein können. Zerklüftung, Vereinzelung, Langsamkeit der
Entwicklung und Mißtrauen in dieselbe, Verschiedenheit in Gesetz und Recht,
Festhalten an alten vergilbten Formen - das waren sie abermals, die nächsten
Folgen des Friedens für Deutschland. In den ersten Jahren und Jahrzehnten
blieb nun noch wenigstens die gemeinsame Rückerinnerung an den gemeinsamen
Kampf als, wenn auch nur ideelles Band der Einheit, als Zündstoff für den
nationalen Stolz und das nationale Bewußtsein. Aber nach und nach ist das
Geschlecht, das jene Tage erlebt und jene Siege errungen hat, ausgestorben,
stirbt immer mehr aus, die alte Erinnerung hat sich abgeschwächt und die
Kunst, auch im Frieden neue zu schaffen, neue Embleme der Kraft und der
Selbstständigkeit, und so die Kinder des Vaterlandes an dasselbe zu fesseln,
und so den Gedanken zu erhalten und zu beleben, daß es eine Schmach sei,
sich demselben leichtfertig zu entziehen, daß es ein Ruhm sei, ihm
anzugehören, und selbst seine Schmerzen mitzutragen, und selbst in seine
Mängel sich zu fügen - diese Kunst haben wir leider noch nicht gelernt, da
könnten die Franzosen und die Engländer unsere Lehrmeister sein. Fragen wir
nur die Dahinziehenden, fragen wir nur den Baier, den Würtemberger, den
Sachsen, den Oldenburger, er wird's uns sagen, daß er von seinem Lande, oft
von seinem Duodezländchen Abschied genommen, selten wird er den Blick auf's
Ganze werfen. Erst angelangt in der neuen Welt führt ihn der gemeinsame
Charakter wieder zusammen mit andern Kindern des Vaterlandes, wird er wieder
ein Deutscher, ausgezeichnet durch Gründlichkeit und Ausdauer, durch
Ehrlichkeit und Biederkeit. Diese innere Zerrissenheit Deutschlands aber
leistet der Lust von ihm sich loszusagen, bedeutenden Vorschub. Denn wo kein
höherer allgemeiner Gedanke die Menschen trägt und zusammenhält, da findet
der Particularismus und Egoismus ein weites Feld, da rankt die
Schlingpflanze des Materialismus hoch auf und saugt alle bessern Kräfte und
Säfte aus. Man möchte daher fast eine Gelegenheit herbeiwünschen, die dieser
Abschwächung des innern Nationalbewußtseins ein Ende machte, die dazu
führte, daß über die oft unnatürlichen Grenzen hinweg der Bruder dem Bruder
die Hand reiche. Der Lust zur Auswanderung würde dadurch nach meiner
Ueberzeugung mächtig gesteuert. Es hat sich nun zwar in der neuen Zeit und
namentlich jüngst bei der Schleswig-Holsteinschen Sache gezeigt, daß der
Funke der Theilnahme unter uns noch nicht erloschen, daß das Gefühl der
Würde noch nicht erstorben ist. Aber erst die Stunde der Entscheidung muß es
lehren, wie weit diese Theilnahme reicht und - reichen darf, wie weit die
Friedenspolitik dem drohenden Worte Raum giebt, zur That zu werden, ob man
nicht auch da, wie gar oft, eben nur eine Faust in der Tasche gemacht hat.
Weiter hat der Friede zur Folge gehabt, daß zwar Gewerbe
und Industrie, Künste und Wissenschaften, Bodenkultur und Handel sich
gehoben und veredelt haben, aber doch, wie es scheint, nicht im Verhältnis
zur zunehmenden Bevölkerung. Wenigstens ist es Thatsache, daß die Klage über
Ueberfüllung in allen Zweigen des industriellen und gewerblichen wie des
staatlichen Lebens überall zunimmt, daß ein Ueberfluß und Ueberschuß an
Concurrenz überall die Unterkunft erschwert. Ob Deutschland wirklich
überfüllt ist und Abzugskanäle bedarf - nach Berichten aus Bremen und
Bremerhaven, die ich eben gelesen, sind im verflossenen Jahre über diesen
Haven allein pl. m. 32,000 ausgewandert - , oder ob es nur mit seiner
Bevölkerung nicht Haus zu halten weiß? Ich muß die Beantwortung dieser Frage
Andern, besser Unterrichteten überlassen, so wie besonders die, uns zunächst
interessirende, ob unser Herzogthum an einem Zuviel der Einwohnerzahl
leidet, ob es nicht recht gut die Abziehenden - und auch deren sind nicht
wenige, und zwar sind nach der Angabe des Herrn Steenken in neun Jahren 7622
ausgewandert, und zwar meistens aus den Geestgegenden, nämlich aus den
Kreisen Delmenhorst, Vechta und Cloppenburg, während noch ferner 3489 in
dieser Zeit aus den geannten Kreisen aus- und in die Kreise Oldenburg,
Neuenburg und Jever eingewandert sind (s. Neue Blätter Nr. 82, 1846) - zu
gebrauchen und zu ernähren vermöchte, wenn nur der Anbau des Landes, wenn
nur Industrie und Handel mehr befördert, wenn nur denen, welchen das Glück
keine geschlossene Stelle zugeführt hat, es leicht möglich gemacht würde,
eine gute Unterkunft zu finden? Ich bin mit diesen Verhältnissen, ich bin
mit den Folgen, welche die Untheilbarkeit der Stellen und das Majoratsrecht
haben, zu wenig vertraut, um mir darüber ein festes Urtheil zu erlauben.
Lasse ich indessen mein Gefühl reden, so sagt es mir, daß ein Land unmöglich
überfüllt heißen kann, in welchem noch so weite Strecken brach liegen, ein
Land, daß so viele unverwüstliche Quellen der Wohlhabenheit und des
Reichthums in sich birgt, das an einem der schönsten Ströme Deutschlands
gelegen, von der segnenden Meeresbraut umkost, für seine Produkte den besten
Weg der Ausfuhr nach aller Welt hin hat, das zu Handel und Schifffahrt
eingeladen ist. Ob hier nicht jeder Eingeborne Gelegenheit finden müßte, für
seine Thätigkeit einen lohnenden Boden zu finden, ob hier nicht jeder
Auswanderer eine stille Anklage ist, daß man es nicht verstanden hat, die
Künste des Friedens fleißig zu üben, den langen Frieden weise zu benützen?
Doch, wie gesagt, es möge dieser Zweifel mehr als bescheidenes Fragezeichen,
denn als ein anmaßendes Urtheil gelten, und mögen Sachverständigere die
kurze Notiz weiter verfolgen, so wie mich denn überhaupt das Gesetz der
Kürze zwingt, auch diese Abtheilung hier abzubrechen, und nur noch die
flüchtige Bemerkung hinzuwerfen, daß der lange Friede für die Belastung des
Bodens in den meisten Ländern Deutschlands wenige Erleichterung gebracht hat
- eben weil unser Friede ein bewaffneter, kostspieliger ist - und daß daher
kleine Besitzungen nicht leicht ausreichen, die Lasten zu tragen. So wurde
mir vor Kurzem eine charakteristische Anekdote mitgetheilt, die hier ihre
Stelle finden mag. Ein bairischer Beamte hatte gehört, es zirkulire in der
Umgegend eine Schrift, welche zur Auswanderung auffordere und aufreize. Er
fahete lange darnach, allein vergebens, das denuncirte Buch wollte sich
nicht einfangen lassen. Als nun eines Tages ein Bauer bei ihm erschien, der
ebenfalls im Begriffe war auszuwandern und bereits Paß und
Auswanderungsschein in Händen hatte, da bat ihn der Beamte, doch jetzt, da
er nichts mehr zu riskiren habe und es ohne Gefahr thun könne, das
aufreizende Buch auszuliefern. Der Bauer sagte: Ja, Herr Landrichter, das
will ich gerne thun, zog ein kleines Büchlein aus der Tasche und überreichte
es dem Beamten, es war - das Steuerbüchlein!
III.
Und nun noch die dritte wesentliche Ursache der
Auswanderung, und die ist der komplete Gegensatz zwischen unsern
Verhältnissen und denen in Nordamerika, ein Gegensatz, der in den meisten
Hauptpunkten zur Auswanderung anlockt.
Es sei fern von mir, zum unbedingten Lobredner der
nordamerikanischen Zustände mich aufzuwerfen und den dortigen ohne Weiters
den Vorzug vor den unsrigen geben zu wollen, obgleich der Mann, dessen Buch
ich vor mir liegen habe und dem ich in dem Folgenden manche Notiz entnehme,
ich meine Friedrich von Raumer "über die vereinigten Staaten von
Nordamerika", obzwar ein Preußischer im Rufe der Loyalität stehender
Professor, diesen lobrednerischen Ton manchmal anzustimmen sich nicht
scheut. Nein, jene Zustände da drüben haben unstreitig ihre vielen
Schattenseiten, und es gehört viele Verblendung dazu, diese nicht in
Anschlag zu bringen. Der deutsche Auswanderer, er wird dort schmerzlich die
Gemüthlichkeit und die Geselligkeit und die Theilnahme vermissen, die uns zu
eigen ist; er wird dort den Egoismus und den nur nach Gewinn und Reichthum
strebenden Handelsgeist auf dem Throne wie überall das Scepter führend
finden, einen Geist, der selbst die Ehrenhaftigkeit der Staaten so weit in
die Schranze schlug, daß sie lange Zeit die Schande eines Bankerotts nicht
scheueten und die Zahlung der Staatsschulden verweigerten, von welcher
groben Verirrung indessen ein und der andere Staat wieder zurückgekommen ist
und erklärt hat, er wolle seinen Gläubigern gerecht werden. Er wird dort
finden ein zusammengelaufenes, von den Winden aller Weltgegenden
zusammengewürfeltes Volk, eine Musterkarte aller Nationen, aller Abstufungen
der Gesittung, bis zu der niedrigsten des Strauchdiebes, des aus Europa
flüchtigen Verbrechers herab; ein Volk also, dem der Kitt der gemeinsamen
Abstammung, der Sprache, der Geschichte noch gänzlich fehlt, und das daher
auch kein rechtes Herz für einander haben kann, dessen schlotternde Glieder
leicht auseinander fallen, weil die natürliche organische Verbindung es
nicht zusammenhält. Er wird sich gefaßt machen müssen auf Scenen der
ungestraften Pöbelgewalt, der sogenannten Lynch-Justiz. Ja, noch mehr, er
wird dort auch noch die Sklaverei, diesen Schandfleck der Menschheit, diese
Morgengabe der Barbarei, in manchen Staaten finden und oft einen Kampf auf
Leben und Tod für die Vertheidigung, für die Beibehaltung derselben, während
jedoch 13 und zwar die Hauptstaaten sich dieser Schmach entledigt haben. So
wird er manche Gelegenheit haben, sich zurückzusehnen nach dem Vaterlande
oder doch dessen in Liebe und mit Stolz zu gedenken.
Aber, wo so viele Schatten, da muß auch viel Licht sein,
wenn es dennoch Anziehkraft haben soll, und ist auch viel Licht gerade da,
wo es bei uns noch dunkel und wirre ist, wo bei uns die Klage und der
Unfriede und die Zerwürfnis ihre Quelle hat. Nordamerika hat das Glück
gehabt, daß große, weise, patriotische Staatsmänner an der Wiege seiner
Geburt gestanden und das Zauberwort gefunden haben, das ihm ein gesundes,
kräftiges Leben eingehaucht, das alle die erwähnten Auswüchse nicht
verrenken können. Dieses Zauberwort ist vor Allem die volle Berechtigung der
Person, die in keiner Zwangsjacke eingeschnürte Freiheit der Bewegung, die
Abweisung der Versuchung, auf Kosten des Individuums und seiner natürlichen
Ansprüche eine gesellige Ordnung zu gründen oder sich auf die schwindelnde
Höhe einer künstlichen, nur mit großen Opfern zu behauptenden Macht
schwingen zu wollen. Daher wenig Beamtenthum und Polizeiwesen, ein kaum
bemerkbares Regiment, daher nur wenig, kaum der Rede werthes, stehendes
Militair und dafür großartige Anlagen von Straßen, Kanälen, Eisenbahnen
u.s.w. für die Erleichterung des Verkehrs; daher die Leichtigkeit der An-
und Uebersiedlung für Jeden, der dazu Lust hat, keine Aengstlichkeit und
ängstliche Voruntersuchung, ob der Ansiedler nicht einst der Armuth und der
Unterstützung anheim fallen könne. Die Thore der Aufnahme stehen offen;
Jeder, dem's beliebt, gehe ein und sehe dann zu, wie er das liebe Brod sich
schaffe. Dabei keine Monopole, kein Gewerbszwang, keine Ueberlastung des
Bodens, keine Beschränkung des Umzugs, kein mißtrauisches Auflauschen auf
das Woher und Wohin. Weiter ein freies Schalten und Walten des
Associationsgeistes, im politischen Leben vollkommene Oeffentlichkeit,
unverkürzte Theilnahme des Bürgers an der Gesetzgebung und dem Staate,
offene Herrschaft des Gesetzes, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit, überall,
Freiheit der Rede, keine Verfolgung wegen politischer Meinungen, ein Minimum
der Einmischung des Staates in die Gemeindeverhältnisse, gar keine in die
Presse, in die geselligen und politischen Verbindungen. Diese und ähnliche
Gegensätze, ich muß an ihnen flüchtig vorübereilen, um noch einen Augenblick
Ihre gefällige Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen für einen Hauptnerv des
Gemeinwohls, für ein Schlagwort unserer Zeit, ich meine das Verhalten der
Staaten Nordamerika's zur Kirche und zur Schule. Ich lasse hier Raumer
selbst reden. Sein Bericht lautet: (Th. II. S. 148.)
"Nach ernster und beredter Ueberlegung und Darlegung der
Gründe beschloß Virginien im Jahre 1785: kein Mensch soll gezwungen werden,
zu besuchen oder zu unterstützen irgend einen religiösen Gottesdienst,
Kirche oder Priesterschaft; auch soll man Niemand deshalb an Leib oder Gut
beunruhigen, zwingen und belästigen oder ihn wegen religiöser Meinungen oder
Glauben irgend Leid anthun. Vielmehr steht es allen Menschen frei, ihre
Ansichten über Religion offen zu bekennen und zu vertheidigen, und soll dies
in keiner Weise ihre bürgerliche Stellung verändern, verbessern oder
verschlechtern. - Ueber diesen Beschluß erhob sich ein gewaltiges Geschrei,
von gemüthloser Gleichgültigkeit, unchristlicher Sinnesart, Unglaube und
Atheismus, und jede Partei hätte gerne ihre Kirche zu der staatlichen,
wohlbegabten Kirche erhoben. Glücklicher Weise - Raumer spricht so - war
keine mächtig genug, solch einen Plan durchsetzen zu können, und nachdem
Nordamerika obige Grundzüge allgemein angenommen und sich in die
neuen Verhältnisse gewöhnt hat, ertönen hauptsächlich nur Stimmen einzelner
Europäischer Reisenden gegen diese neue Entwicklungsstufe der Menschheit."
So weit Raumer. Und es braucht Ihnen, meine H., nicht erst gesagt zu werden,
daß diese Staatsgrundsätze in Nordamerika keine bloß papiernen sind, sondern
wirkliche, ins Fleisch und Blut des Ganzen übergegangene, daß dort vollste
Duldung jeder Ueberzeugung herrscht, doch, was sage ich Duldung, nein, daß
vielmehr dort von gar keiner Duldung die Rede sein kann, weil Staat und
Kirche völlig getrennte Glieder sind, so daß Conflicte und Einflüsse des
einen auf die andern und umgekehrt gar nicht vorkommen können. Sekten mit
den freiesten Grundsätzen, wie die Universalisten, die Unikaner - die, wenn
die Angaben Raumers richtig sind, hart an die freie Gemeinde in Halle oder
Königsberg streifen - neben der strengsten Orthodoxie, neben Wiedertäufern,
Quäkern u.s.w. - Der Staat läßt sie gewähren, und - er besteht, die
Amerikaner sind in der Regel sogar kirchlich. Eben so ist in ihm von keiner
Emancipation der Juden, in kleinen Dosen und Portionen zugemessen, die Rede,
denn er hat sich selbst von vorn herein emancipirt von jeder derartigen
Beschränkung seiner Bürger.
Man könnte nun einwenden und sagen, das käme daher, weil
die nordamerikanischen Staaten nur Rechtsstaaten seien im Sinne des
römischen, weil sie die geistige Entwicklung, die Bildung, die Intelligenz
gar nicht in den Kreis der staatlichen Thätigkeit und Einwirkung gezogen
haben, weil sie sich um die Belehrung und den Fortschritt des Volkes gar
nicht bekümmern wollen, wie die unsrigen. Daß dem nicht so sei, davon giebt
das Verhalten der Staaten gegen die Schulanstalten, gegen die Volksschulen
namentlich, das beste Zeugniß. Hier begegnet uns abermals das
Entgegengesetzte dessen, was in der Regel bei uns Grundsatz und Praxis ist.
Ich will auch hier wieder Raumers eigene Worte anführen (S. 38).
"Das Schul- und Erziehungswesen - sagt er - ist besonders
in den nördlichen Staaten seit der ersten Ansiedlung eifrigst befördert, und
seit der Unabhängigkeit des Bundes Washington's und Jefferson's laut
ausgesprochene Ueberzeugung allgemein anerkannt worden: daß je größere
Rechte ein Freistaat seinen Bürgern einräume, desto mehr müsse er für ihre
Erziehung und Bildung sorgen. Schon in seiner Botschaft an den Congreß sagte
Washington: Sie sind gewiß mit mir überzeugt, daß nichts ihren Schutz mehr
verdient als die Beförderung von Wissenschaft und Litteratur. In jedem Lande
sind sie die höchsten Grundlagen des öffentlichen Wohles; in einem Lande
aber, wie das unsrige, wo die Maaßregeln der Regierung so unmittelbar durch
die allgemeine Sinnesart bestimmt werden, sind sie doppelt nothwendig. Das
Volk muß lernen seine Rechte und ihren Werth erkennen, Unterdrückung
unterscheiden von Ausübung gesetzlicher Macht, nothwendige Steuern von
willkührlich auferlegten Lasten und den rechten Geist der Freiheit von dem
der Zuchtlosigkeit, damit es jenen liebe und diesen verabscheue u.s.w. -
Dadurch, daß die Bundesregierung 1/36 aller Staatsländereien für die Schulen
bewilligte (Anm. Hiernach würden in den westlichen Staaten etwa 2,160,000
Acker den Schulen gehören, deren Werth man schon vor Jahren auf 4,332,000
Dollars anschlug.), hat sie diesen ein unermeßliches, täglich an Werth
steigendes Geschenk gemacht. Die Staatsregierungen hüten sich indessen,
diesen Schatz zu vergeuden; sie fordern vielmehr, daß sich die Gemeinden vor
aller Bewilligung selbst anstrengen, Schulhäuser bauen, Lehrer anstellen,
und das Vierfache oder doch das Doppelte dessen herbeischaffen, was die
Behörde giebt. Fast alle Verfassungsurkunden enthalten sehr löbliche
Bestimmungen über den Werth der Erziehung, und gewähren Mittel, die damit
verbundenen, nothwendigen Ausgaben zu bestreiten" u.s.w.
Diese Angaben, wenn sie richtig sind, woran ich indessen
bei einem Geschichtsschreiber von Raumers nicht zweifle, bedürfen keines
Kommentars. Ich füge daher bloß, weil Zahlen am besten entscheiden, noch
einige solche Zahlen hinzu:
In Pennsylvanien wurden im Jahre 1834 - 460,000 Thlr. aus
öffentlichen Kassen für Schulzwecke bewilligt. Es gab 4488 männliche und
2050 weibliche Lehrer, jene erhielten monatlich im Durchschnitte 25, diese
18 Thaler.
In dem Stadtbezirke von Philadelphia waren im Jahre 1843 -
214 Schulen mit 489 Lehrern, darunter nur 87 männliche und 412 weibliche.
Der Gehalt für einen beträgt durchschnittlich 410 Thlr. Die Gesammtausgaben
für die Schulen 280,000 Thlr.
In Neuyork wurden im letzten Jahre aus öffentlichen Kassen
den Lehrern ausbezahlt 565,000 Dollars; für Bücher der Bezirksbibliotheken
95,000, von den Einwohnern wurden ferner noch aufgebracht 500,000 Dollars.
In Summa 1,079,000 Dollars oder 1,620,000 Thlr. (Allen Freunden des
Schulwesens, allen Jenen, die noch in der Ansicht schwanken, ob der Staat
Beruf und Pflicht habe, der Volksschule thätig unter die Arme zu greifen,
dem Jammer einer kümmerlichen Besoldung der Lehrer durch kräftige
Unterstützung aus allgemeinen Mitteln ein Ende zu machen, die noch so häufig
vorkommende unerhörte Ueberfüllung der Schulen nicht zu dulden sei es
anempfohlen, das angezogene Kapitel in Raumer aufmerksam nachzulesen. Wäre
es, bei nur entfernt ähnlichen Grundsätzen, möglich, daß unmittelbar vor den
Thoren Oldenburgs eine Schule existiren könnte, mit nahe an 300 Kindern und
nur einem, sage einem Hauptlehrer und einem Hülfslehrer? Kann da, bei
aller Tüchtigkeit und Thätigkeit der Lehrer, die ich am wenigsten in Abrede
stellen will, die Schule ihrer Aufgabe genügen? - Freilich - gewisse Herren
vermerken es sehr übel, wenn man solche Blößen entdeckt und aufdeckt und ich
könnte davon ein recht pikantes Geschichtchen erzählen. Aber mit dem
Unentdecktbleiben solcher Blößen ist es heut zu Tage ein mißlich Ding.
Bekanntlich steckt der Vogel Strauß seinen Kopf in die Erde, um nicht
gesehen zu werden.)
Es ist beschämend, wenn das Alter von der Jugend lernen
soll. Aber hier gäbe es wahrlich Manches von den jungen Staaten zu lernen,
hier wäre Manches nachzuahmen, damit man in der Heimat jene Einrichtungen
und Anstalten fände, und sie nicht erst in der Ferne zu suchen brauchte, die
der physischen und geistigen Existenz eines Volkes die rechten Unterlagen
schaffen, die die besten Garantien bieten gegen Erschlaffung und Zerfall.
Doch - meine Stunde ist abgelaufen und so muß ich wohl
hier abbrechen, wohl selbst fühlend, wie das, was ich Ihnen geboten, nur ein
Fragment ist. So besonders wäre es von Interesse, nun noch die Auswanderer
nähe zu klassificiren und wir würden dann etwa finden: 1) Auswanderer aus
Armuth; 2) aus Furcht vor Verarmung; 3) aus Mangel an Gelegenheit, ihre
Kräfte und Mittel gehörig anzuwenden; 4) aus Nachahmung und Beispiel, 5) aus
politischen, 6) aus religiösen Rücksichten; 7) sogenannte Glücksritter und
endlich 8) solche, die mit den Gesetzen und der bürgerlichen Ordnung bei uns
zerfallen sind, Flüchtlinge aus mancherlei Ursachen.
Und nun zum Schlusse nur noch die Frage: wie soll man sich
gegen die Auswanderung verhalten, soll man sie hindern oder befördern?
Verhindern (Bekanntlich gestattet Rußland, das die Juden wie eine Landplage
behandelt, denselben dennoch nicht, das Land zu verlassen. Sie müssen im
Lande bleiben und sich Bärte abschneiden, knuten und russisch erziehen
lassen.) keineswegs, denn das wäre ein schreiender Eingriff in die Rechte
des Individuums. Der Vogel in der Luft baut sich sein Nest, wo es ihm
behagt, zieht weiter, wenn's ihm beliebt. Und dem Menschen dürften wir's
wehren? - Aber befördern gewiß noch weniger, am wenigsten in der Weise, wie
die Gemeinde Großzimmern im Großherzogthum Hessen letzthin nach
Zeitungsberichten gethan haben soll, die nämlich ihre Armen mit Sack und
Pack hinüber expedirte, um nur ihrer los zu werden und sie dort dem
bittersten Elende aussetzte. Ich dächte, es müßte Ehrensache für uns sein,
kein solches Zeugniß des Unvermögens uns selbst auszustellen. Helfe man
vielmehr, die Ursachen der Auswanderung mehr und mehr hinwegräumen. Zeige
man, daß es uns ernst darum ist, dem Uebel an die Wurzel zu gehen. Und wer
dann dennoch ziehen will, der ziehe hin in Frieden, und sage dem Bruder
Jonathan, daß diesseits auf deutscher Erde auch ein Volk lebt, daß sich zu
schätzen und zu kräftigen weiß. |