Die Auswanderer
B.
Wechsler, Landrabbiner, Oldenburg, 20. December 1846, ein
Vortrag, gehalten im Verein für Volksbildung zu Oldenburg
Gefunden in den Beständen der "Forschungsstelle
Deutsche Auswanderer in den USA" (DAUSA) der
Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg.
I.Als die erste und
wichtigste Ursache der Auswanderung nenne ich Ihnen die zunehmende Bildung.
Aber - was hat denn die Bildung mit der Auswanderung zu schaffen, wie können
sie zusammenhangen, da es doch gewiß keine Zeichen ächter, gediegener
Bildung, edler Selbstschätzung ist, wenn ein Volk sich selbst aufgibt, wenn
ganze Menschenmassen das Vaterland verlassen?
Und doch hängen sie in gewisser Beziehung zusammen, und doch führt die eine
häufig zur andern. Es gibt gewiß, darin irren die Dunkelmänner aller Zeiten
und Gattungen nicht, es gibt gewiß keinen treuern Bundesgenossen der starren
Ruhe und der blinden Unterwerfung, keinen treuern Verbündeten einer
Willkührherrschaft und des trägen Haftenbleibens bei der Scholle, als die
Unwissenheit und Rohheit, als den Mangel an selbstbewußter Kraft. Freilich,
wir haben's erst vor Kurzem in Gallizien erlebt, daß auch sie zuweilen
ungeduldig wird uns losstürmt und an ihrem Joche rüttelt und dann gnade
Gott, wenn der Sclave die Ketten bricht. Aber das ist nur die Ausnahme, ist
nur das Ergebnis der äußersten Verzweiflung. In der Regel schleppt sie sich
stumpfsinnig fort und läßt Alles über sich ergehen ohne Einspruch, bleibt
sie regungs- und bewegungslos, denn der Trieb zur Bewegung fehlet. Anders,
wo die Bildung taget, wo durch Schulen und sonstige Lehranstalten, wo durch
die Organe der Oeffentlichkeit und allerlei sonstige Poren ein gewisses
Selbstbewußtsein, eine Masse von Kenntnissen und Fähigkeiten, von Begriffen
und Ideen eindringt selbst in die untersten Schichten des Volkes. Da werden
die Geister - daß ich mich so ausdrücke - flüssig und beweglich, da bedarfs
nicht erst, wie so Manche glauben, der Aufwiegelung zur Unruhe und
Unzufriedenheit, da zieht sie von selbst mit ein als ungebetener Gast, da
nimmt dann auch die Empfindlichkeit und die Gereiztheit gegen die Mängel und
Gebrechen der gegenwärtigen Zustände zu, und was man sich sonst hat gefallen
lassen, das erträgt man jetzt mit Murren und lautem Widerspruch, das wird
jetzt eine drückende Last, die man sich nicht weiter will aufbürden lassen.
Der Schmerz über Ungleichheit, über Rechtlosigkeit, über wirkliche oder
vermeintliche Zurücksetzung, über Nichtbeachtung von Ansprüchen u.s.w.
steigert sich in dem Maaße, in welchem die Empfänglichkeit für Recht und
Gleichheit, für Wahrheit und Menschenwürde zunimmt, in welchem diese
Begriffe und Ideen Gemeingut werden und in Folge der Bildung immer mehr
werden müssen, und es ist daher nicht nöthig, daß das Maaß des
Widerwärtigen, Unvollkommenen an sich größer werde - es wäre gewiß unbillig
zu sagen, daß es im Allgemeinen größer geworden ist in den letzten Jahren -
es kömmt nur darauf an, daß es als solches erkannt werde, daß in den
Menschen der Gedanke immer lebendiger werde, es sollte nicht so sein. So
wird ja auch der Kranke in dem Maaße ungeduldiger, aufgeregter, in welchem
er ein Bewußtsein dessen bekömmt, was Gesundheit heißt. Es irren daher gewiß
auch diejenigen, welche da oben die Zügel des Staatswagens führen, wenn sie
Vergleichungen anstellen zwischen dem Sonst und Jetzt, und behaupten, die
Unzufriedenheit habe keinen Grund, denn der Wagen laufe ja jetzt besser,
sanfter. Ja, das mag wohl sein. Aber die da gezogen werden, haben jetzt in
Folge des geistigen Umschwungs eine empfindlichere Haut gegen die noch immer
nicht fehlenden Rippenstöße, denn sie wissen, daß man noch besser, noch
sanfter fahren kann, während man sich sonst auch die Karre mit ihrem
Gepolter gefallen ließ! Ich will, um die Behauptung, daß die Bildung auf
diese Weise häufig zur Auswanderung führe, durch ein Beispiel zu erläutern,
ein mir bekanntes, naheliegendes anführen. Unter den Auswanderern aus
Deutschland in den letzten fünf und zehn Jahren befinden sich viele, ja
tausende meiner Glaubensgenossen, besonders aus Baiern und den angrenzenden
sächsischen Landen, und besonders ist es in der Regel das jüngere
Geschlechts, das auswandert, also gerade dasjenige, welches an der Bildung
der Zeit Theil genommen hat, welches in Gewerben, Künsten und Wissenschaften
erkräftigt ist und leistungsfähig. Frägt man nach den Bewegegründen, so hört
man meistens die Antwort: wir mögen den Druck und die Zurücksetzung (Leider
tragen auch die gesetzlichen Bestimmungen über die Verhältnisse der Juden im
Herzogthum Oldenburg noch den Charakter der Ausschließung und kränkenden
Zurücksetzung.
Ich sage die g e s e t z l i c h e n . Denn im bürgerlichen Leben und
Verkehr ist diese Zurücksetzung schon ziemlich geschwunden und schwindet
täglich mehr, ist das nichtchristliche Bekenntniß kaum ein Hinderniß mehr
für die Theilnahme an Allem, was die Zeit bewegt, und am wenigsten hat
Schreiber dieses Grund, über solche Zurücksetzung zu klagen. Aber der
gesetzliche Buchstabe bannet die Juden noch immer in ein Ghetto von
Ausnahmen, schließt sie aus von allen Gemeindeämtern, ja selbst von den
niedrigsten Kommunaldiensten, hat für ihre Niederlassung einen besonderen
Modus, ein Schutz- und Concessionswesen, das noch ganz die alte, vergilbte
Farbe trägt. Schritte zur Aufhebung dieser Bestimmungen sind sowohl vom
Verfasser als auch von mehreren jüdischen Gemeinden des Landes gethan
worden; bis jetzt jedoch ohne Erfolg. Denn es hinkt auch bei uns der
gesetzliche Fortschritt dem allgemeinen nur langsam nach. Hoffen wir jedoch,
daß er nicht lange mehr auf sich wird warten lassen.) und die Schmach der
Isolirung nicht länger ertragen, wir können's nicht mehr da aushalten, wo
man die Konfession und die Abstammung und das Vorurtheil der Masse und Gott
weiß was Alles noch auf die Wagschale legt, wenn man uns den Schutz und das
Recht des Bürgers ertheilen soll; wo man uns selbst das Recht, ein
Nachtwächter, ober ein Dorfvogt, oder ein Feldhüter zu werden um den Preis
eines Religionswechsels erkaufen lassen will. Nun sind die Zustände und die
gesetzlichen Verhältnisse der Juden auch in diesen Ländern gerade nicht
schlimmer geworden, aber der Schmerz hat sich bei ihnen gesteigert, der
Staat, indem er sie herangezogen und sogar genöthigt hat zur Theilnahme an
der Entwicklung und Bildung, hat selbst die Unzufriedenheit entfesselt und
so den Entschluß hervorgerufen.
Aber auch in einem andern Sinne und Betrachte entzieht die
zunehmende Bildung dem Vaterlande gar manche rüstige Hand. Es ist Thatsache,
daß die Bildung auch das materielle Leben mit seinen Bedürfnissen und
Einrichtungen erreicht und beherrscht, daß sie, wie einerseits die
Ansprüche, so auch andererseits die nothwendigen Bedürfnisse steigert. Haben
sonst dürftige, kärgliche Mittel ausgereicht, die dürftige, einfache
Existenz einer Familie zu decken, so reichen sie da nicht mehr aus, wo der
Bildungsprozeß allerlei neue Bedürfnisse geschaffen hat. Man sagt, das seien
nur eingebildete Bedürfnisse, das sei Luxus, die derjenige entbehren müsse,
der sie nicht erschwingen könne. Ja, man hat gut reden. Aber wenn nun Alles
die Luft darnach anregt, wenn Umgebung und Beispiel, wenn Sitte und
Gewohnheit die Nachahmung reizt, wenn der Geist immer mehr Nahrung verlangt
und seine Anforderungen ans Leben stellt - wer will da die Grenzlinie ziehen
zwischen dem, was nothwendig und dem was Luxus heißt? Wir haben nun einmal
den Naturstand überschritten, wir sind keine Kinder der Wildniß mehr, und da
bleibt das Bedürfnis ein relativer, naturwüchsiger Begriff, der Steigerung
unterworfen. Wenn es nun auch im Allgemeinen wahr ist und gewiß wahr ist,
daß mit der Bildung eines Volkes auch seine Kraft, auch seine Fähigkeit des
Erwerbs zunimmt, so ist es doch nicht wahr in Bezug auf den Einzelnen oder
in Bezug auf eine einzelne Zeit, so kann doch hier zuweilen eine Kluft, eine
weite Kluft entstehen zwischen dem Bildungs- und dem Erwerbszustande, und
die Erfahrung lehrt leider, daß sie entstanden ist, das Gespenst des
Proletariats spukt aus allen Ecken und Enden hervor. Wer hat es geweckt?
Meines Erachtens nichts anderes als dieses, daß von der einen Seite der
Fortschritt in der Entwicklung die Lebensbedürfnisse, die nöthigen Mittel
der Erhaltung erweitert und gesteigert hat, während von der anderen derselbe
Fortschritt, dieselbe Bildung die bisherigen Nahrungszweige bedeutend
verengt und verkürzt hat, während durch die Erfindung der Maschinen u.s.w.
manche Hand brodlos geworden ist. Daß dies - denn weiter will ich diesen
Gegenstand hier nicht verfolgen, als in wiefern er hierher gehört - daß dies
ein starker Hebel der Auswanderung ist, wird nicht zu leugnen sein. Man
denke sich einen Familienvater mit kärglichem Auskommen, mit wenigen Gütern,
er kann für seine Kinder nur wenig thun, er denkt mit Schreck daran, was aus
ihnen werden soll, denn er kann ihnen nicht diejenige Bildung geben lassen,
die ihre künftige Existenz sichert, er weiß, wie viel dazu gehört, um
fortzukommen in der Welt, und ihm winkt die Hoffnung, daß sie dort drüben
ihr Fortkommen finden - was Wunder, wenn er sich, wenn auch mit schwerem
Herzen entschließt, sie dahin zu senden oder vielleicht selbst
überzusiedeln? In der That sind mir der Beispiele die Menge bekannt, wo dies
die Ursache der Auswanderung war. Diese Uebel aber, es wurzelt tief in
unserer Zeit und fordert gründliche, umfassende Heilmittel. Kann man den
Bildungstrieb nicht hemmen und nicht ins Stocken bringen - und das kann man
gottlob nicht, wenn's auch manchmal an dem Willen dazu nicht fehlet - so
wird man mehr und mehr darauf bedacht sein müssen, den Folgen desselben zu
begegnen, den schreienden Widerspruch zwischen dem geistigen und materiellen
Leben zu heben, auf daß nicht der böse Geist der Unzufriedenheit noch mehr
geweckt werde.
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