Die Auswanderer
B.
Wechsler, Landrabbiner, Oldenburg, 20. December 1846, ein
Vortrag, gehalten im Verein für Volksbildung zu Oldenburg
Gefunden in den Beständen der "Forschungsstelle
Deutsche Auswanderer in den USA" (DAUSA) der
Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg.
Meine Herren!
Es ist wohl keine Uebertreibung, wenn behauptet wird,
unter den Zeiterscheinungen, welche unsere Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen, sei die, noch immer im Zunehmen begriffene Auswanderungslust
namentlich in allen Gauen Deutschlands, eine der wichtigsten, sei sie ein
Charakterzug der Gegenwart, über dessen Ursache und Wirkung jedem Gebildeten
ein Urtheil zustehe, dessen Bedeutung und Folgen jedem Beobachter der Zeit
klar sein sollte.
Es bedarf daher auch kaum der Rechtfertigung, wenn dieser Gegenstand auch in
unseren Versammlungen einmal zur Sprache gebracht wird, wenn, soweit es die
Kürze eines Vortrags erlaubt und Umstände und Kräfte es gestatten, den
scheidenden Brüdern nachgeblickt und geforscht wird, was sie wohl zum
Scheiden bewegt, warum sie uns den Rücken kehren und sich den Wellen und den
Schwankungen eines, jedenfalls unsichern Geschickes anvertrauen. Ist doch
unser Land das letzte in Deutschlands vielgegliedertem Organismus, nach
welchem die meisten von ihnen den letzten Scheidegruß senden, eilen ja das
Jahr hindurch Tausende dahin an unsern Ufern, um hier, an der Ecke, an dem
finstern Winkel Deutschlands, wie ein böser Humor ihn genannt, den Rubicon,
die Gränzlinien der alten und neuen Welt zu überschreiten. Kann's, darf's
uns gleichgültig sein, welche Schicksalswoge sie dahin trägt und forttreibt?
Auch mir ist in der letzten Zeit diese Frage einigemal persönlich näher
gebracht und Veranlassung geworden, mich an der Lösung zu versuchen, und ich
darf wohl hoffen, daß dieser Versuch, wenn auch ein schwacher, mehr anregend
als befriedigend, von Ihnen, m. H., mit Nachsicht und Wohlwollen werde
aufgenommen werden.
Wessen das Herz voll ist, dessen läuft der Mund über! Und voll und warm
wurde mir das Herz, als ich im vergangenen Spätsommer auf einem Ausfluge
nach Brake und Bremerhaven an beiden Orten mehrere hundert Auswanderer traf,
mit Sehnsucht der Stunde der Abfahrt harrend und über ungebührliche
Verzögerung klagend. Es waren meistens nervige, kräftige Gestalten, Söhne,
Mitteldeutschlands, die zum erstenmal den breiten Strom und die Vorboten des
Meeres sahen. Mehrere derselben, von mir über die Motive ihres Entschlusses
befragt, gaben ganz eigenthümliche Gründe an. So ein schon bejahrter
Handschuhfabrikant aus der Gegend Erlangens in Baiern, ein nicht
unbegüterter Mann. Er sei, sagte er, dadurch zum Auswandern gezwungen, weil
mehrere seiner Abnehmer und - Schuldner ihm durchgegangen seien und in
Amerika ihr Heil versucht hätten. Er habe daher ihr Beispiel an
Zahlungsstatt angenommen und sei ihnen gefolgt.
Ein andermal führte mich im vergangenen Herbst mein Amt nach dem stillen,
ruhigen Cloppenburg. Auf einmal Geräusch und Jubel auf den Straßen, alle
Köpfe der Einwohner vor den Thüren und Fenstern. Ein Zug von Auswanderern
war es, der die Stille des Ortes unterbrach, die Wagen mit dem dürftigen
Gepäck voran, ein buntes, dem Anscheine nach wohlgemuthes, rüstiges Völkchen
hinterher, der Küste zu. Also - dieser Gedanke drängte sich mir fast
unwillkürlich auf - also auch in unserer Nähe und vielleicht in unserm Lande
selbst spukt dieser Dämon der Unruhe, ist die Heimats-, ist die
Vaterlandsliebe nicht stark genug, der gewiß nicht übervölkerten Gegend ihre
Kinder zu erhalten! Also auch hier winkt und lockt die Syrene des Meeres
nicht vergebens, weiß sie selbst die Einfalt und die träge Gewohnheit des
Landmannes zu berücken und zu überwinden! Und wahrlich, Ueberwindung kostet
es, ein fester männlicher Entschluß gehört dazu, den großen Sprung zu wagen,
denn ein Spaziergang, eine Lustfahrt, eine Kleinigkeit ist die
Uebersiedelung eben nicht und das wissen auch die Meisten, wenn auch Manche
gar wunderliche Vorstellungen von der Reise haben. So meinte eine der
Auswanderinnen, die etwa zehn Meilen von Cloppenburg zu Hause war: jetzt sei
schon Alles gut, jetzt sei die Reise bald überstanden!
Der Schwierigkeiten des Sichlosreißens von Haus und Heerd, von gewohnten
Verhältnissen, so wie der damit in der Regel verbundenen Verluste und
Mühseligkeiten nicht zu gedenken, ist auch die Reise selbst nichts weniger
als einladend, könnten vielmehr ihre Schrecken und Kämpfe gar manchen
Entschluß wankend machen. Die Pünktlichkeit und Försorge in den Anstalten in
Bremen und Bremerhaven werden zwar gerühmt und sie mögen auch den Vorzug
verdienen vor andern ähnlichen Anstalten. Wenn ich indessen dem Sprichworte
folge: Was das Auge sieht, glaubt das Herz! so schränkt sich mir der Ruhm
dieser Anstalten gewaltig ein. Die Schifffahrt ist nun einmal eine
Spekulation, ein Erwerbsmittel für die Geldgier, und daß diese oft mit
humanen Gesetzen und Anordnungen in Conflikt kömmt und sie zu umgehen weiß,
ist bekannt genug.
Die Auswanderer, die ich getroffen, hatten Alles gethan, was zu thun ist, um
eines schnellen Fortkommens sicher zu sein. Sie hatten schon lange Zeit
vorher in den Kommissionsbureau's, welche in Mitteldeutschland errichtet
sind, Kontrakte geschlossen, waren zum bestimmten Tage eingetroffen und auf
bestimmte Schiffe angewiesen. Dennoch mußten sie über vier Wochen in Brake
und Bremerhaven herumliegen, müßig, sich selbst eine Last, ehe sie
eingeschifft wurden, weil die Schiffe, die sie aufnehmen sollten, nicht
eingetroffen waren und weil - das ist wohl der Hauptgrund - das
Geschäftshaus, mit welchem sie contrahirt hatten, größere Verpflichtung
übernommen, als es augenblicklich zu erfüllen im Stande war. In einem
solchen Falle legt nun zwar das Gesetz dem Geschäftshause die Pflicht auf,
für den Unterhalt der Auswanderer zu sorgen. So wurden denn auch die
erwähnten Auswanderer theils in Bremerhaven, theils wider ihren Willen und
dagegen mit Gewalt protestirend, in Brake untergebracht. Aber wie? Für die
Person wurde täglich, wenn ich nicht irre, 11 Grote für Kost und Logis
gezahlt, wofür, wie sich von selbst versteht, nur eine höchst ärmliche,
unappetitliche Beköstigung und ein, dem entsprechendes Logis zu erlangen
war, so daß sich alle diejenigen, die etwas zuzuzehren hatten, und ein
solches Kunter und Bunter nicht gewohnt waren, von der Masse trennten und
für täglich 24 Grote eine bessere Unterkunft suchten, was bei dem langen
Aufenthalte eine bedeutende Summe in Anspruch nahm. Warum aber ist eine so
lange Verzögerung möglich?
Eine Verzögerung, die alle Plane der Uebersiedler durchschneidet, die nicht
bloß ihre, in der Regel nur spärlichen Mittel aufzehrt, sondern sie auch
noch in die noch größere Unannehmlichkeit versetzt, anstatt in guter
Jahreszeit vielleicht erst im Winter anzukommen? Warum hatte das
Geschäftshaus in Bremen seine Rechnung - die Bremer pflegen doch sonst gute
Rechner zu sein - so auffallend falsch und ohne den Wirth, und der ist hier
Wind und Wetter, das angeblich seine Schiffe zurückgehalten, gemacht?
Indessen - es sei gerne angenommen, daß dieser Fall, den ich hier erzählt,
ein seltner, daß meistens die Expedition so prompt und rasch, wie es nur die
nicht zu bewältigenden Götter des Meeres zulassen. Es sei daher auch die
Erwähnung dieses Falles weniger als Anklage, denn als Beleg hier angeführt,
daß die Auswanderung auch in ihren ersten Stadien ihre Kämpfe und
Bitterkeiten hat. Ist nun mit Geduld dieser Alles überwindenden, dieser, der
deutschen Natur so reichlich zugemessenen Tugend dieses Stadium
zurückgelegt, ist das Stündlein der Bekanntschaft mit dem schwimmenden
Bretterhause ihnen gekommen - was dann?
Ich habe einige und zwar die größten und besten Schiffe, welche damals im
Hafen lagen, in Augenschein genommen, und was ich, namentlich von den
Einrichtungen im Zwischendecke - und von den Zwischendeck-Passagieren rede
ich vornehmlich, weil die meisten Auswanderer zu ihnen gehören [ca 90%] -
gesehen, flößte mir keine große Lust ein, die Zahl derselben zu vermehren.
Von Vorrichtungen zu irgend einem geordneten, erträglichen Leben keine Spur.
In einem großen, finstern, sechs Fuß hohen Raume laufen an beiden Seiten die
Bettstellen hin, das heißt, je zwei immer übereinander und jede Bettstelle
für fünf, sage fünf Personen berechnet. In die Mitte des finstern Raumes
kommen die Menschen, die Kisten und Kasten, und da treibt sich Alles, jung
und alt, Männer und Frauen durcheinander, Tag und Nacht, und dieses wirre
Leben währt 4-6 Wochen, oft auch länger. Und wie mag's da bei Sturm und
bewegter See hergehen! Aufs Verdeck zu kommen wird dann diesen Passagieren
gar nicht und auch sonst nur spärlich gestattet. Die Luken müssen dann
ebenfalls geschlossen bleiben, Licht und Lebensluft, diese beiden
Bedingungen der Existenz, werden dann denen da unten eben so spärlich
zugemessen, wie die andern Lebensbedürfnisse. Wie mag's ihnen dann zu Muthe
sein, besonders wenn nun auch die ungebetenen Gäste der Schifffahrt, die
Unbehaglichkeit und die Schiffskrankheit sich einstellen, wie kraus und wild
mag's da oft hergehen unter diesen Pilgern des Glückes! Ich habe vor Kurzem
Briefe gelesen von zwei solchen mir bekannten Pilgern. Die Briefe sind in
der frohesten Stimmung glücklicher Ankunft und erlangter Unterkunft
geschrieben, aber die Mühen der Ueberfahrt sind als schrecklich geschildert.
Sie hätten Mangel an Lebensluft und Lebensmitteln gelitten, hätten böse,
unvergeßliche Tage verlebt.
Und daß, wenn nun auch diese bösen Tage überstanden sind und die neue,
ersehnte Welt die Pilger aufgenommen hat, ihnen nicht sogleich die
gebratenen Tauben in den Mund fliegen, daß dann für die Meisten die
Schwierigkeiten der Ansiedelung erst beginnen, daß erst Jahre der
Anstrengung und der Entbehrung vergehen müssen, ehe ihnen der Lohn wird, ja
daß gar Vielen dieser Lohn nie wird - das verkünden uns tagtäglich die
Berichte und man darf wohl annehmen, daß die meisten Auswanderer sich
darüber keine Illusionen mehr machen und nicht mehr glauben, da drüben sei
Alles Gold, da dürfe man nur mit vollen Händen zugreifen.
In Summa - denn das ist der langen Einleitung kurzer, bündiger Sinn - die
Annehmlichkeiten der Reise, die Leichtigkeit des Umgangs, der Reiz eines
rasch und leicht bewerkstelligten Wechsels, einer bald erlangten, frohen
Existenz ist es nicht, was zur Auswanderung anlockt, die Hoffnungen, welche
die Auswanderer mit sich herumtragen, erglänzen nicht in dem Blendlichte
naher Erfüllung, sind vielmehr hinausgerückt in die Ferne, erkauft um den
Preis harter Prüfung und Anstrengung. Die Besonnenheit, die Ueberlegung hat
Muße genug, sich zu sammeln und den Schritt wohl und genau zu überlegen, ihn
nicht mit Leichtsinn und in einer Anwandlung des Unmuthes zu thun. Wenn ihn
dennoch Tausende thun, wenn dennoch das Feldgeschrei: "Amerika!" selbst die
entlegensten Winkel des Vaterlandes erreicht, so muß wohl die wirkende Kraft
in den Tiefen der Zeit und der Zeitverhältnisse liegen, so muß der Hebel,
der die Menschen in Bewegung setzt, seine Triebfedern in Ursachen und
Zuständen haben, die in der Gegenwart fest wurzeln.
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