Kleine Festung Theresienstadt:
Oder wie man Geisel der Verhältnisse bleibt
- Das Protokoll einer Scheidung
Vortrag vor der Else-Lasker-Schüler Gesellschaft in
Wuppertal am 12.11.1999
Sehr geehrter Herr Botschafter,
Lieber Hajo Jahn,
Meine Damen und Herren,
Es ist immer problematisch, in einem Vortrag über sich
selbst zu sprechen. Man verlässt die Sicherheit eines Referats über ein Thema,
zu dem man sozusagen als Experte etwas zu sagen hat, bei dem man höchstens auf
dem dünnen Eis von nicht ausreichendem Faktenwissen ausrutschen oder mit nicht
ausreichend fundierten Spekulationen einbrechen kann. Spricht man über sich
selbst, dann stellt man sich sozusagen selbst zur Disposition. Man verlangt
vom geneigten oder gelangweilten Publikum eine ganz andere Aufmerksamkeit und
eine ganz andere Akzeptanz - oder eben Ablehnung, als dies bei anderen
Vorträgen in der Regel der Fall ist.
Als ich den Vorsitzenden der Else Lasker-Schüler -
Gesellschaft, Hajo Jahn, bat, mir im Rahmen der diesjährigen Tagung der
Gesellschaft die Möglichkeit eines Vortrages einzuräumen, da tat ich es
durchaus im vollen Bewußtsein, daß ich genau dieses Risiko einzugehen
beabsichtige. Ich schlug als Titel vor:
"Wie man Geisel der Verhältnisse bleibt."
Dieser Titel entsprach dem Zustand in dem ich mich zu
diesem Zeitpunkt befand. Ein Zustand, der einsetzte, als ich im Februar 1989
den Namen des Mannes erfuhr, der meinen Großvater Martin Finkelgrün in der
Kleinen Festung Theresienstadt ermordet hat. In dem Jahrzehnt seither
erhielt ich drei konkrete und detaillierte Angebote, den Mörder meines
Großvaters an der deutschen Justiz vorbei seiner Strafe zuzuführen. Durch
eine selbstauferlegte Bindung an Recht und Gesetz, an Vorgaben und die
erklärten Werte einer freien bürgerlichen Gesellschaft, wurde ich aber zur
Geisel. Die Entscheidung, mich selbst an Recht und Gesetz zu halten, diese
Einhaltung von Recht und Wertnormen aber auch vom Staat einzufordern, machte
mich abhängig und bescherte mir die Erfahrung des Untertanen, der mit dem
Unwillen und dem opportunistischen Hochmut der die Mehrheit einer
handlungsunwilligen Gesellschaft repräsentierenden Obrigkeit konfrontiert
wird.
Eine Geisel ist eine festgehaltene Person, die an einen
fremden Willen oder Unwillen gebunden bleibt. So blieb ich zehn Jahre lang
gebunden an den mir inzwischen deutlich sichtbaren Unwillen der deutschen
Justiz, Recht anzuwenden. Da dieser Unwille sich aber kaschiert zeigte – in
Fehldeutungen, gezielten Desinformationen und bürokratischen Verzögerungen –
blieb ich in meinem Rechtsverständnis vom handelnden und mündigen Bürger,
der Recht einfordert, an den Fall gebunden.
Im Zusammenhang mit der Kleinen Festung Theresienstadt
fand ich mich und empfand mich zunehmend als Geisel der Verhältnisse, und
zwar der Verhältnisse in Deutschland heute. Ich möchte, wo so lange Nebel
und bewußte Verunklarung erzeugt wurden, einen Scheinwerfer auf die Szene
ansetzen. Die Verhältnisse, das waren und sind Politiker. Im konkreten Fall
Politiker der bayerischen Staatsregierung, Politiker der Nordrhein
Westfälischen Landesregierung, ja auch Politiker der Bundesregierung, zuerst
in Bonn, neuerdings in Berlin.
Namentlich also: der bayerische Innenminister Dr. Beckmann
und sein Staatssekretär Dr. Regensburger; die nordrhein-westfälischen
Ministerpräsidenten Dr. Johannes Rau und sein Nachfolger, Ministerpräsident
Wolfgang Clement. Die Nordrhein-Westfälischen Justizminister Krumsiek,
Behrens und Dieckmann. Die Verhältnisse, das waren und sind Juristen und
zwar jene, deren Aufgabe, die mit hohen Gehältern aus dem Steuersäckel
entlohnt wird, darin besteht, den Rechtsstaat zu schützen und durchzusetzen:
Namentlich der Leitende Oberstaatsanwalt in Dortmund Klaus Schacht und seine
Amtsvorgänger in der Dortmunder Zentralstelle für die Verfolgung von NS
Verbrechen, etwa der jetzige Generalstaatsanwalt Herr Weising in Hamm, um
nur einige zu nennen. Die Verhältnisse, das sind Beamte in Bayerischen und
Nordrhein-westfälischen Behörden und Ministerien, zum Beispiel im
Kreisverwaltungsreferat in München und im Justizministerium in Düsseldorf.
Sie waren jeweils zu anderen Zeitpunkten und mit
verschiedenen Aspekten des Komplexes befaßt. Sie haben punktuell gehandelt –
also ohne sich ein generelles Verständnis der Sachlage zu verschaffen - und
hätten anders handeln können und sollen. Die Verhältnisse, das sind auch
Teile der Medien und der Öffentlichkeit dieses Landes. Solche die Skandale
konsumieren, froh darüber, daß andere – gewissermaßen stellvertretend für
sie - sich engagieren und empören und ihnen damit ersparen, selber
Konsequenzen zu ziehen.
Die faktische Solidarität mit den Tätern
Das Zusammenwirken all dieser Verhältnisse führte zu der
Tatsache, daß ein Ermittlungsverfahren wegen 764 Fällen von Mord gegen knapp
ein hundert Verdächtige oder Beschuldigte über eine Zeitspanne von 35 Jahren
geführt wurde - ohne daß eine einzige, ich wiederhole eine einzige Anklage
erhoben worden wäre, ohne daß ein einziges Gerichtsverfahren stattgefunden
hätte. In einem einzigen Fall, dem Fall des ehemaligen SS-Mannes Anton
Malloth – den der Staatsanwalt beharrlich einen Angehörigen der deutschen
Polizei nennt ( als wäre das eine Legitimierung ) - hätten alle Genannten
eine Korrektur vornehmen können. Sie hätten beweisen können, daß es ihnen
mit dem Rechtsstaat ernst ist, dessen Grundsäule, nach Aussage von Prof.
Kirchhoff, eines unserer Verfassungsrichter die Gewähr ist, daß Recht und
Gesetz tatsächlich angewandt werden und daß es ihnen mit diesem Rechtsstaat
ernster ist als mit der faktischen Solidarität mit den Tätern.
Die Verhältnisse also schufen die Lage, in der ich mich
fand. Die direkte Konfrontation mit Behörden und Politikern erzwang einen
Aufwand an Zeit, Geld, Kraft, von dem ich manchmal zweifelte, ihn erbringen
zu können. Streckenweise war es eine Vollzeitbeschäftigung – deren Kosten
ich auch noch tragen mußte.
Als ich mit der Vorbereitung dieses Vortrages begann, die
Materialien noch einmal sichtete und erste Notizen machte, stellte ich fest,
daß ich dabei war so etwas wie das Protokoll einer Scheidung aufzuzeichnen.
An diesem Vorgang möchte ich Sie beteiligen.
Zu dem Zeitpunkt, als ich erfuhr daß es Anton Malloth war,
der meinen Großvater im Gestapogefängnis "Kleine Festung Theresienstadt"
ermordet hatte, hatte Klaus Schacht, Leitender Oberstaatsanwalt in Dortmund,
das Ermittlungsverfahren gegen Malloth und andere (damals lebten noch einige
der an den in der Kleinen Festung begangenen Verbrechen Beteiligten),
bereits so gut wie abgeschlossen. Die Jahre seitdem waren eine einzige
Auseinandersetzung um die Absicht der Dortmunder Staatsanwaltschaft, das
Verfahren einzustellen und damit jegliche öffentliche gerichtliche
Verhandlung um diesen und über 700 andere Morde zu unterlaufen. Die
Auseinandersetzung fand auf verschiedenen Ebenen statt.
Erstens:
Der Dortmunder Staatsanwalt hatte bereits am Tage der
Verhaftung Anton Malloths in Meran am 05.August 1988 in einem Aktenvermerk
den verräterischen Satz,
"Eine andere Möglichkeit, das Verfahren
abzuschließen, ist nicht zu ersehen." geschrieben und damit die
Absicht gezeigt, keine gerichtliche Verfolgung der Mordorgien in der
Kleinen Festung Theresienstadt anzustreben. Diesem Staatsanwalt war ich
mit meinem Begehren, den Mord an meinem Großvater gerichtlich
aufzuarbeiten, nun ausgeliefert. Mir war seine bereits feststehende
Absicht vorerst ja nicht bekannt. Daß ich ihm ausgeliefert war, erfuhr ich
durch ein Schreiben des damaligen Staatssekretärs im
Bundesjustizministerium, Dr. Klaus Kinkel. In einem Schreiben vom Mai 1989
schrieb Dr. Kinkel:
"In der Tat sind in einem Strafverfahren wegen
Mordes außer den Eltern, den Geschwistern und dem Ehegatten des
Getöteten nur dessen Kinder zur Nebenklage befugt. Den Enkeln steht
diese Befugnis auch dann nicht zu, wenn die näheren Angehörigen
verstorben sind."
Man bedenke: Dieser Satz ist immerhin in einer
Gesellschaft verfaßt worden, die sehr oft, wie auch in diesem Fall, den
Kindern von Ermordeten zum vorschnellen Tod verholfen hat.
Wie Hohn las sich ein weiterer Satz in diesem Brief:
"In einem Strafverfahren wegen Verunglimpfung des
Andenkens Verstorbener kann die Nebenklagebefugnis auf die Enkel
übergehen..."
Das politisch verantwortliche Bundesjustizministerium
wußte also um die Tatsache, daß Hunderttausende von Enkelinnen und Enkeln
keine Möglichkeit hatten und haben, vom Klageerzwingungsrecht Gebrauch zu
machen, um selbstherrliche Staatsanwälte in die Schranken zu weisen oder
um ihnen auf die Sprünge zu helfen. Erkennend, daß die zitierten
Paragraphen die meist einzigen Überlebenden - denn allzu häufig waren
Enkelinnen und Enkel die einzigen Überlebenden - von der Möglichkeit
ausschlossen, das verletzte Recht ihrer ermordeten Großeltern einzuklagen,
erschien und erscheint mir der Verweis auf die Nebenklagebefugnis der
Enkel im Falle der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener selber wie
ein Akt der Verunglimpfung. Die Unterlassung einer Korrektur des zitierten
Paragraphen und die akzeptierte Nichtverfolgung von Verbrechen erscheinen
wie Demütigungen, die durch kein Mahnmal für die Ermordeten zugedeckt
werden können.
Zweitens:
Aus den Ermittlungsakten ging hervor, daß im Verlauf der
Jahrzehnte der Eifer der Staatsanwaltschaft sich sehr in Grenzen hielt.
Lassen Sie mich einflechten, daß dieser Eifer nicht jenem entsprach, mit
dem der Oberstaatsanwalt Schacht, während er mich vernahm, sich in
Telephonaten um seine nächste Dienstreise bemühte. Wie sonst wäre zu
erklären, daß zum Beispiel Anton Malloth, wie sich aus den Akten ergibt,
ein Zeitlang als tot, nämlich als in Leitmeritz exekutiert, geführt wurde?
Und wie läßt sich erklären, daß trotz der Bemühungen von Simon Wiesenthal,
auf den Aufenthalt von Anton Malloth aufmerksam zu machen, dieser laut
Auskunft der Staatsanwaltschaft als "unbekannten Aufenthaltes" geführt
wurde – obwohl er vom Generalkonsulat der deutschen Botschaft einen
deutschen Reisepaß ausgestellt bekommen hatte. Er erhielt ihn, nachdem er,
durch wirksamen eigenen Verzicht auf die deutsche Staatsbürgerschaft im
Jahre 1949, Erhalt der italienischen Staatsbürgerschaft im Jahre 1952 und
Aberkennung derselben im Jahre 1955, staatenlos geworden war.
Der auffälligen Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden
stand auffällige Aktivität anderer Behörden, in diesem Fall des
Auswärtigen Amtes und später der bayerischen Ordnungsbehörden, gegenüber.
Als ich einen deutschen Reisepaß (der meinen Eltern
durch die nationalsozialistische Gesetzgebung entzogen worden war) für
mich in Anspruch nehmen wollte, wurde ich zuerst einmal eingebürgert und
erhielt dann, kraft dieser Einbürgerung, eine Staatsangehörigkeitsurkunde.
Erst diese gab mir ein Anrecht auf die Ausstellung deutscher
Personalpapiere. Auf diese Art und Weise lernte ich erstens, daß die
Ausbürgerung meiner Eltern weiterhin als rechtswirksam angesehen wurde –
und zweitens, daß ein deutscher Reisepaß kein rechtlicher Nachweis der
deutschen Staatsbürgerschaft ist, sondern daß dies nur die sogenannte
Staatsangehörigkeitsurkunde ist.
Nun aber lernte ich, daß für Anton Malloth, den
ehemaligen SS-Mann und in Abwesenheit in Leitmeritz verurteilten Mörder,
wohl anderes Recht galt. Obwohl er selber wirksam auf die deutsche
Staatsangehörigkeit verzichtet hatte, erhielt er von einer Außenstelle des
Auswärtigen Amtes, dem deutschen Generalkonsulat in Mailand, anstandslos
einen deutschen Reisepaß. - Der Beamte, der ihm dieses Papier überreichte,
hat mir Jahre später in einem persönlichen Gespräch versichert, er würde
das nicht noch einmal tun. In einer schriftlichen Feststellung der
Kreisverwaltungsbehörde München, kurze Zeit, nachdem Anton Malloth in
einer Vernehmung durch den Oberstaatsanwalt selber auf seine
Staatenlosigkeit hinwies, wurde seine deutsche Staatsangehörigkeit, ohne
Vorlage einer Staatsangehörigkeitsurkunde festgestellt.
Das aktive Bemühen der bayerischen Behörden erschöpfte sich damit aber
noch lange nicht. Der ehemalige SS-Mann Anton Malloth, Besitzer eines
Hauses in Meran, erhielt aus Steuergeldern Sozialhilfe, die seinen
Aufenthalt in einem Altersheim für "Künstler und Selbstständige" in
Pullach mit abdecken sollte. Kein Wunder, daß es Gudrun Burwitz, Tochter
Heinrich Himmlers und tragende Säule der Vereins "Stille Hilfe", einer
Organisation, die sich um die Unterstützung von der Justiz bedrohter
ehemaliger Nationalsozialisten kümmert, möglich war, in den Mitteilungen
des Vereins mit Zufriedenheit darauf hinzuweisen, Anton Malloth sei in
München "gut untergebracht
". Die Sorge, daß dies nicht so sein könnte, war völlig unangebracht.
Anton Malloth war von der deutschen Justiz nie bedroht.
Wir werden heute den Autor Nikolaus Martin hören. Im
Jahre 1991 veröffentlichte er im Hanser Verlag das Buch "Prager Winter",
in dem er unter anderem detailliert seine Erfahrungen als Häftling in der
"Kleinen Festung Theresienstadt" beschrieb. Das Buch war erfolgreich, fand
seine Leser und erfuhr zahlreiche Besprechungen in Presse, Rundfunk und
Fernsehen. Vor wenigen Monaten bestätigte mir Nikolaus Martin, Zeuge und
aufmerksamer Chronist der Vorgänge in der Kleinen Festung Theresienstadt,
daß er von der Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer
Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund niemals angesprochen,
geschweige denn vernommen worden sei über sein Wissen. Überhaupt erscheint
der Umgang der Dortmunder Staatsanwaltschaft mit Zeugenaussagen
fragwürdig. Aus Aussagen wurden Schlußfolgerungen gezogen, welche die
Aussagen der Zeugen als irrig, wenn nicht unglaubwürdig hinstellten,
während die wenigen Angaben des Beschuldigten nicht hinterfragt wurden. In
dieser Bewertung fand ich mich bestätigt, nachdem die tschechische
Generalstaatsanwaltschaft in Prag in diesem Jahr die Dortmunder
Ermittlungsakten hatte durchsehen können. In einem Rundfunkinterview hat
sie fachkundige Kritik an der Arbeit der Dortmunder Staatsanwaltschaft
geäußert.
Drittens:
Eine weitere, wesentliche Ebene auf der die
Auseinandersetzung in den letzten zehn Jahren stattfand war die der
Öffentlichkeit. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik nur
wenige strafrechtlich relevante Fälle gegeben, bei denen die Absicht, sie
in der Versenkung des Vergessens verschwinden oder durch eine "biologische
Lösung" zu Ende kommen zu lassen, so lange konterkariert werden konnte.
Meine frühere Tätigkeit als Journalist und meine mehrjährige Erfahrung als
aktives Parteimitglied in einer der im Bundestag vertretenen Parteien
haben mir dabei geholfen. Es wäre aber vermessen zu glauben, daß einzig
dies dazu beigetragen hat, Politik und Justizbürokratie daran zu hindern,
die Akte "Kleine Festung Theresienstadt" endgültig zu schließen und ihren
Inhalt dem Vergessen auszuliefern. Ich brauchte und erhielt die Hilfe von
Juristen, die mich gegenüber der Justiz vertraten, von Professoren, die
einzelne juristische Fragestellungen gutachtlich beantworteten.
Ich erlebte die Wirkung von Redakteuren und von
Journalistinnen und Journalisten, die mit ihrer Berichterstattung dafür
sorgten, daß die Öffentlichkeit immer wieder daran erinnert wurde, daß die
Absicht bestand, die Morde in Theresienstadt nicht gerichtlich
aufzuklären. Ich erfuhr die Solidarität von Autorinnen und Autoren, als
die Justiz beschlossen hatte, statt Anton Malloth wegen Mordes den
Schriftsteller Ralph Giordano wegen Verleumdung anzuklagen, weil er es
gewagt hatte den Dortmunder Staatsanwalt zu kritisieren. Ich erlebte das
Engagement einzelner; im Bundestag und in den Landtagen, besonders hier in
Nordrhein Westfalen – ebenso wie ihre Herabsetzung in öffentlichen
Aussagen der Justiz. Vor allem aber erlebte ich die Reaktion und den
Zuspruch zahlreicher Einzelner, die auf Medienberichte, auf meine Bücher
und die hervorragenden Filme von Dietrich Schubert, unter anderem über die
Inszenierung des Theaterstücks "Schöner Toni" von Joshua Sobol das den
Fall Anton Malloth zum Inhalt hat, reagierten. Sie alle sind ausreichender
Hinderungsgrund für mich, das Kind nicht sozusagen mit dem Bade
auszuschütten und die deutsche Gesellschaft über einen Kamm zu scheren.
Allerdings hat auch die öffentliche Aufmerksamkeit, bis
hin zu Landtagsdebatten, die Verantwortlichen nicht bewogen, anders zu
handeln. Auf Vorhalte und auf Kritik reagierten Justiz und Politik jeweils
immer nur so weit, daß sie den Eindruck erwecken konnten nun würde dem
Recht genüge getan. Nach einer jeweils unterschiedlich langen Schamfrist
wurde dann an der ursprünglichen Absicht, das Verfahren wegen der Morde in
Theresienstadt einzustellen, festgehalten.
An diese Stelle gehört die Feststellung, daß der Bürger
normalerweise gar nicht die Möglichkeit hat, die Mißachtung des Rechts
durch Politik und Verwaltung nachhaltig zu verfolgen oder diese überhaupt
zu registrieren. Gegen die Apparate von Politik und Verwaltung und deren
Unwillen kann er nicht ankommen, weil ihm detailliertes Wissen,
ausreichende Zeit und vor allem Geld fehlen. Trotzdem habe ich den
Eindruck gewonnen, daß ein sehr großer Teil der Bevölkerung ein
erstaunlich gutes Gefühl für den Rechtststaat hat, und – auch als Reaktion
auf die deutschen Unrechtssysteme dieses Jahrhunderts - eine größere
Bereitschaft, ihn durchzusetzen, als die politische und juristische Kaste
dieses Landes, die sich in der Verpflichtung und Erbschaft der fünfziger
Jahre zu wähnen scheint.
Lassen sie mich anhand der aktuellen Situation
aufzeigen, wie ein solcher Vorgang funktioniert:
Bereits 1992 habe ich in dem Buch "Haus Deutschland –
oder die Geschichte eines ungesühnten Mordes" mit dokumentarischen
Belegen darauf hingewiesen, daß Anton Malloth kein deutscher Staatsbürger
ist. Joshua Sobol hat dies zu einem der zentralen Punkte in seinem
Theaterstück gemacht und der amtierende Ministerpräsident Johannes Rau hat
eine der Vorstellungen dieses Stückes in Düsseldorf besucht und dabei eine
Rede gehalten. In Briefen an die Justizminister des Landes Nordrhein
Westfalen habe ich über Jahre immer wieder auf die Staatenlosgikteit
Malloths hingewiesen. Die Antworten bestanden jeweils darin, man habe der
bayerischen Landesregierung von diesen Angaben Mitteilung gemacht. Man
zitierte die Antwort aus München, die auf einer deutschen
Staatsbürgerschaft Anton Malloths beharrte (die ja ein Hinderungsgrund für
seine Ausweisung oder für seine Auslieferung nach Tschechien gewesen wäre
) und ansonsten beließ man es bei beim Alten, was bedeutet, daß man die
tschechische Regierung in dem Glauben beließ, bei Anton Malloth handele es
sich um einen deutschen Staatsbürger, der durch die Verfassung geschützt
und deswegen im Falle eines Auslieferungsbegehrens nicht ausgeliefert
würde.
Erst als ich im Frühjahr 1998 in Prag und in München
öffentlich ein Gutachten vorlegte, das den von mir seit 1992 vorgetragenen
Sachverhalt bestätigte, sah sich die bayerische Landesregierung gezwungen,
"um ja nicht den Schatten des V e r d a c h t s aufkommen
zu lassen, man begünstige einen NS-Täter", wie sie in einer
Presseerklärung wissen ließ, festzustellen, daß Anton Malloth die deutsche
Staatsbürgerschaft nicht besitzt. Das Bundesjustizministerium aber teilte
der tschechischen Regierung mit, daß die Staatenlosigkeit des Anton
Malloth durch die bayerische Landesregierung nunmehr festgestellt worden
sei: Eine Endgültigkeit dieser Feststellung sei aber erst nach einer Klage
beim Verwaltungsgericht gegeben, das er gegen die Entscheidung angerufen
habe ihm die zu Unrecht ausgehändigten deutschen Personalpapiere zu
entziehen. Was man bei dieser Antwort unterschlagen hat, ist, daß ein
Auslieferungsantrag oder ein Ausweisungsbeschluß (mit dem die bayerische
Landesregierung in Fällen von Kriminalität sonst schnell zur Hand ist und
ihre Erfahrung hat) eine verwaltungsgerichtliche Klärung und Entscheidung
beschleunigen würde.
Die Unterlassung dieser Mitteilung, - und der bayerische
Innenminister Beckstein, und sein Staatssekretär Regensburger bedienen
sich dieser Unterlassung ebenso wie die gegenwärtige Justizministerin Frau
Dr. Herta Däubler-Gmelin in Schreiben an Bundestagsabgeordnete, die sich
nach dem Fall erkundigen, ist eine Form der Unwahrheit, die letztlich dem
Schutz des SS-Mannes Anton Malloth vor gerichtlicher Verfolgung dient.
Ähnlich verhält es sich mit der Sozialhilfe, die Anton Malloth aus
Steuermitteln zur Deckung der Kosten für das Altersheim zur Verfügung
gestellt wurde – obwohl er entgegen seiner Behauptung nicht mittellos war.
Ein eindeutig strafrechtlicher Tatbestand, von dem Justizministern und
Politikern in Düsseldorf und München wiederholt Mitteilung gemacht wurde.
Trotz populistischer Kampagnen gegen
"Sozialstaatsmißbrauch", der allein schon Grundlage für eine Abschiebung
wäre, ist Anton Malloth auch in diesem Fall, von der Justiz nicht belangt
worden.
Lassen Sie mich zwei Schlußfolgerungen begründen:
Erstens: Den Zustand, "Geisel der Verhältnisse" zu sein,
kann ich nur beenden, indem ich mich von den Geiselnehmern absetze. Freiwillig
oder gar aus Einsicht werden sie – und das ist inzwischen meine Überzeugung -
ihr Verhalten und ihr Vorgehen, die mich 10 Jahre lang zur Geisel gemacht
haben, nicht aufgeben. Den Staatsbürger, der auf dem Rechtsstaat besteht,
wollen sie nicht haben. Der stört.
Zweitens: Diese Absetzung ist notwendig. Keinesfalls will
ich in einem Boot sitzen mit denen, die dafür verantwortlich sind, daß die
Mörder nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Prof. Hans Keilson, der vor einigen Jahren an dieser Stelle
einen Vortrag hielt, hat in seinem Werk über die Sequentielle
Traumatisierung drei verschiedene Traumatisierungen überlebender jüdischer
Jugendlicher festgemacht: Erstens, das Miterleben der Entrechtung ihrer
Eltern, zweitens dann die Deportation beziehungsweise das Erleben des
Verstecktseins und drittens nach 1945 die Konfrontation mit den Folgen der
Verfolgung, also die Wahrnehmung des endgültigen Verlusts der Eltern und
anderer Verwandter. Erlauben Sie mir die Feststellung daß zu diesen dreien
eine weitere hinzugefügt werden kann:
Das Wahrnehmen des Schutzes, den die Mörder von einer
Gesellschaft erhalten, der die Ermordung eines alten Juden keinen Prozeß
wert ist.
Wenn man erlebt, so wie ich es erlebt habe, daß der Mörder
meines Großvaters Martin Finkelgrün durch den SS-Mann Anton Malloth nicht vor
Gericht gestellt wurde – so wie Tausende anderer Mörder von Millionen Menschen
in Theresienstadt, Chelmno, Auschwitz und an zahlreichen anderen Orten; wenn
man erlebt, daß Politiker und fürchterliche Juristen auch heute noch die
nationale Solidarität nicht mit den Opfern, sondern mit den Tätern an den Tag
legen, dann wird vielleicht nachvollziehbar, daß ich nicht darauf vertrauen
kann, daß diese Politiker und diese Justiz mich wirklich schützen werden, wenn
andere Malloths sich wieder ans Erschlagen machen werden - es sei denn, daß
Meinungsumfragen ihnen vermitteln, daß sie damit kurzfristig ein oder zwei
Prozentpunkte bei Wahlen gewinnen könnten.
Ich kann nicht mehr erwarten, daß Politiker und
verantwortlich Juristen dem ein Ende setzen. Ich kann nur eines tun – mich
abwenden.
Dominick La Capra hat vor kurzem geäußert, daß
Geschichtsschreibung – und erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß das in gewisser
Weise für die Literatur gilt, einen nicht geringen Anteil an Projektion
enthalte und setzt fort:
"Trotz aller angestrengten Versuche, unsere heutigen
Vorurteile und Vormeinungen einzuklammern, um so die Vergangenheit ganz
unmittelbar zu uns sprechen zu lassen, gelingt es uns nie vollständig,
unseren Identifikationen, Idealisierungen, Dämonisierungen und den Folgen,
die dies nach sich zieht, zu entkommen. Ist es doch so, daß wir uns gerade
darum so sehr für bestimmte Personen, Handlungen und Ereignisse
interessieren, weil sie sich uns als Übertragungsobjekte anbieten; der
zwingende Grund, sich einer fremden Vergangenheit zuzuwenden und sich an die
Angelegenheiten anderer Leute zu erinnern, kann nur tief in uns selbst
liegen."
Meine Erfahrung mit dem Ermittlungskomplex "Kleine Festung
Theresienstadt" bei der Zentralstelle im Lande Nordrhein Westfalen für die
Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei der
Staatsanwaltschaft Dortmund bestätigt diese Feststellung. Vermutlich liegt
tief in vielen Deutschen eben nicht die Empathie mit den Opfern. Man muß das
wohl so sehen. Welche Projektion bei mir stattgefunden hat, glaube ich zu
wissen. Ich habe die Biographie meines Großvaters zu großen Teilen als meine
eigene entdeckt. Auf jeden Fall habe ich meine posthume und auch exemplarische
Verantwortung für diesen Mann entdeckt, für dessen Rehabilitierung in diesem
Land sonst niemand eintritt. Und bei aller Belastung, die dies mit sich
gebracht hat, bin ich dafür dankbar.
Gestatten Sie mir an den Ausgangspunkt meiner Geiselnahme
zurückzukehren:
1992 schrieb ich in dem Buch "Haus Deutschland – Oder die
Geschichte eines ungesühnten Mordes", - nachdem ich erfahren hatte, wie
und von wem mein Großvater Martin in der "Kleinen Festung Theresienstadt"
ermordet worden war:
"Mir ist aber auch klar, daß ich mit der Nennung des
Mörders in diesem Deutschland nur stören und unangenehm auffallen werde.
Trotzdem werde ich den Rechtsstaat auf die Probe stellen. Wie nie zuvor
werde ich dieses Land beim Wort nehmen. In diesem Land lebe ich seit 1959,
zahle ich meine Steuern, habe ich meine Kinder erzogen. Nach den Gesetzen
dieses Landes richte ich mich, dieses Land schuldet mir Recht. Aber ist die
Bundesrepublik ein normaler Rechtsstaat, in dem Mörder vor Gericht
verhandelt werden?"
Es erscheint mir im Nachhinein eine naiv-idealistische
Forderung die ich da gestellt habe.
Ich wollte die Sicherheit erfahren daß der Staat und seine
Repräsentanten einen Grundpfeiler des Rechtsstaates bestätigen – daß Recht und
Gesetz durchgesetzt und nicht zum Instrument unterschiedlichster
Opportunitäten werden. Statt dessen konnte ich in diesen zehn Jahren die
Erfahrung machen, daß Deutschland tatsächlich kein Land für jene ist, deren
Angehörige in der Zeit des Dritten Reichs umgebracht wurden. Die Tatsache, daß
keine deutsche Regierung, kein deutscher Bundeskanzler, kein Vertreter
Deutschlands nach 1945 jemals die vertriebenen und geflohenen Juden, soweit
sie überlebt haben, aufgefordert hat, nach Deutschland zurückzukehren, wenn
sie es denn über sich bringen könnten, spiegelt die Realität wider. Man wollte
die Juden nicht zurück. Eine Zusage der letzten DDR - Regierung unter Lothar
de Maiziére gewährleistete Juden die Einreise nach Deutschland. Einer der
ersten politischen Schritte der Bundesrepublik bestand darin, diese
Freizügigkeit mit einer Quotenregelung zu beschränken.
Versuchen Sie, sich vorzustellen, welche Wirkung die
Erkenntnis hat, daß nicht nur die Ermordung ihrer Familienangehörigen, sondern
auch die Bestrafung der Mörder Politik ist, abhängig von den Opportunitäten
der Regierenden und des Apparats, der sie stützt.
Der Sumpf, über den die Opportunität leichtfüßig
hinwegschwebt und in dem das Recht verschwindet, ist noch nicht ausgetrocknet.
Es ist der Sumpf der Macht, den sie bewahrt um ihre Macht zu sichern. Ich habe
mich bemüht auf die Existenz dieses Sumpfes hinzuweisen. Alleine mehr zu
erreichen ist nicht zu hoffen.
Das zu erkennen und anzuerkennen ist was mir bleibt.
Peter Finkelgruen |
Köln, den 11.11.1999 |
An
Mitglieder des Deutsche Bundestages
die freundlicherweise auf mein Schreiben
vom 25 Juni 1999 geantwortet haben:
- Frau Angelika Beer - Bündnis 90/Die Grünen
- Herr Volker Beck – Bündnis 90/Die Grünen
- Frau Annelie Buntenbach - Bündnis 90/Die Grünen
- Frau Marga Elser – SPD
- Frau Anke Fuchs - SPD
- Herr Wolfgang Gehrcke – PDS
- Herr Konrad Gilges - SPD
- Herr Stephan Hilsberg – SPD
- Frau Ulla Jelpke - PDS
- Frau Heidemarie Lüth - PDS
- Herr Ruprecht Polenz - CDU
- Herr Dr. Ilja Seifert – PDS
- Frau Sylvia Voß - Bündnis90/Die Grünen
- Herr Dr. Guido Westerwelle – FDP
- Herr Ernst Ulrich von Weizsäcker – SPD
- Herr Christoph Moosbauer - SPD
- Herr Hans Christian Ströbele – Bündnis90/Die Grünen
- Herr Uwe Göllner – SPD
- Herr Olaf Scholz – SPD
- Herr Christoph Moosbauer - SPD
Mit freundlichen Grüßen
haGalil 11-11-99
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