Ähnlich wie bei den gerade geschilderten kulturellen
Aktivitäten erscheint die Vorstellung, dass im KZ Dachau musiziert und gesungen
wurde, zunächst vollkommen abwegig. Doch im Unterschied zu den kreativen
Abenden, deren Bestandteil sie nicht selten bildete, besaß die Musik im
Konzentrationslager mehrere Gesichter.
Im tristen Lageralltag wurde sie zunächst von der
SS-Führung zwangsweise verordnet und damit "automatisch als Repressions-,
Folter- und Propagandainstrument"
missbraucht. Alle Häftlinge mussten mehrmals am Tag bei den Appellen, beim
Marschieren zum Arbeits-kommando oder auf dem Rückweg ins Lager lauthals
deutsche Lieder, wie etwa "Schwarz-braun ist die Haselnuss" oder "In dem
Schatten grüner Bäume lasst uns sing’n und fröhlich sein" anstimmen. Angesichts
des Todes, des Hungers und der Erschöpfung bedeutete solcher Gesang für die
Häftlinge blanken Hohn und Zynismus, durch den sie tagtäglich gedemütigt wurden.
Besonders für ausländische Häftlinge wurde der verordnete Gesang zu einer
schreck-lichen Schikane, da die meisten weder die Lieder kannten noch der
deutschen Sprache mächtig waren, so dass sie in der Menge leicht auffielen und
somit Opfer weiterer Misshandlungen wurden. In ihrer Freizeit konnten sich daher
viele von ihnen nicht ausruhen, sondern mussten oft unter dem Kommando eines
sadistischen SS-Mannes oder Funktions-häftlings die verhassten Lieder einüben.
Der kollektive Gesang wurde auf diese Weise "zu einem Mittel regelmäßiger
psychischer und physischer Gewaltanwendung umfunktioniert."
Eine ähnliche Rolle spielte Musik, die im Lager im Vorfeld
einer Hinrichtung oder als Geräuschkulisse bei Folterungen und Erschießungen
gespielt wurde. Zu diesen Zwecken wurden in vielen Konzentrationslagern eigene
Orchester gegründet, die solche grausamen Vorstellungen musikalisch untermalen
sollten. Zum Beispiel musste nach einem gescheiterten Fluchtversuch der
betreffende Häftling beim abendlichen Zählappell in Begleitung der Lagerkapelle
mit einer Tafel marschieren auf der stand: "Ich bin schon wieder da!". Der Zug
brachte ihn
"dann direkt ins Bad zur ,Auszahlung’. Vor dem Bad warteten wir, bis man ihn
wieder halbtot und blutüberströmt herausführt. Von dort musste er wieder in
Begleitung der Musik um alle Häftlinge herumgehen - in den Bunker.
Diese Inszenierung war eine grausame Demonstration der Macht der SS und
bedeutete für die Häftlinge eine ungeheuere Demütigung.
Die Dachauer Lagerkapelle, die von Schutzhaftlagerführer
Egon Zill ins Leben gerufen wurde, setzte sich nach Angaben des
stellvertretenden tschechischen Dirigenten Josef Ulc aus vierzehn tschechischen,
zehn polnischen, zwei österreichischen und zwei deutschen Häftlingen zusammen.
Die Tschechen spielten demnach in diesem eigenständigen und privilegierten
Arbeitskommando eine sehr wichtige Rolle. Nach J. Ulc waren sie eine
einge-schworene Gruppe.
Die Musikanten wurden lagerintern überwiegend mit leichter Arbeit beschäftigt
und erhielten nach einem Auftritt mehrmals Lebensmittelzulagen sowie andere
Vergünstigungen. Die Instrumente sowie einige Noten durften sich die Musiker von
zu Hause schicken lassen. So entstand in Dachau allmählich ein richtiges
Salonorchester, welches aus sechs Geigen, einem Akkordeon, einer Klarinette,
einer C-Trompete, einem Kontrabass sowie einigen Gitarren bestand.
Später kamen noch Klavier und Saxophon hinzu. Zum Dirigenten dieser
ungewöhnlichen Zusammensetzung wurde der polnische Musiker Kulawik bestimmt, und
um die Notenarrangements kümmerte sich Josef Ulc, dem es trotz der extrem
schwierigen Situation gelang, einige sehr populäre Stücke zusammenzustellen oder
zu komponieren.
Zum Repertoire des Orchesters gehörten unter anderem "Liszts zweite
Ungarische Rhapsodie, die Ouvertüren zu Offenbachs Orpheus in der
Unterwelt, zu Rossinis Diebischer Elster und zu Suppés Dichter und
Bauer sowie Walzer von Strauß."
Die begehrten öffentlichen Konzerte für das Häftlingspublikum wurden an
Sonntagen in der "Holzschusterei" oder im sogenannten Bad veranstaltet,
dem Ort, an dem auch zahlreiche Strafen und Exekutionen stattfanden. Im Herbst
1941 befahl nach Angaben von J. Ulc der Lagerführer Egon Zill, zusätzlich eine
Blaskapelle zu gründen. Die dafür notwendigen Instrumente wurden von
angeordneten "öffentlichen Spenden"
der Häftlinge finanziert. Zill ließ außerdem für die Mitglieder eigene Uniformen
der alten belgischen Königsgarde schneidern, die für sie eine tiefe Demütigung
bedeuteten. Als sich die Musiker in voller Montur Zill "gezeigt haben, lachte
er so sehr, dass ihm aus den Augen Tränen herausschossen. Es war tatsächlich
eine beneidenswerte Uniform. [...] Wir lachten selbst über uns aber wir waren
bemitleidenswert. [...] Die Uniform saß bei niemandem."
Die Konzerte der Blaskapelle fanden in erster Linie vor den zahlreichen
Besuchern statt, um das Konzentrationslager in einem positiven Licht erscheinen
zu lassen. Einige Häftlinge nutzten dies aus und spielten bei dieser Gelegenheit
selbst komponierte Stücke, welche die SS öffentlich und doch unauffällig
verspotteten. Damit bereiteten sie den eingeweihten Häftlingen Genugtuung und
richteten nicht wenige gebrochene Persönlichkeiten wieder auf, so dass einige
prägende Stücke bis heute von vielen Überlebenden detailliert erinnert werden.
Mit Zills Versetzung nach Natzweiler, wo er Kommandant wurde, hörte die
Lagerkapelle für eine längere Zeit auf zu existieren.
Doch im Lager wurde nicht nur gezwungenermaßen, sondern
auch aus freien Stücken musiziert, da die Melodie eines Liedes oder eines
Instrumentalstückes die Häftlinge über das Elend des KZs erhob und ihre Gedanken
in eine glücklichere Zeit lenkte. Edgar Kupfer-Koberwitz schildert in seinen
Aufzeichnungen eine solche bewegende Szene:
"Es tat wohl, hier in Dachau Musik zu hören. Aber die Gesichter, die
Gesichter! Alle blickten in die gleiche Richtung zur Musik hin. Sie vergaßen
sich für eine Weile, sie gehörten wieder sich, ihren Gedanken, ihren
Erinnerungen."
Die tschechischen Mitglieder der Lagerkappelle ergänzten mit ihren Instrumenten
regelmäßig die kulturellen Abende auf dem Block Nr. 10 und J. Ulc gelang es,
nach eigenen Angaben mit einigen Tschechen eine kleine Combo zusammenzustellen,
die ausschließlich tschechische Volkslieder anstimmte.
Viele Aufführungen wurden von der SS sowie von den Funktionshäftlingen geduldet,
andere konnten dagegen nur im Verborgenen stattfinden. Von der SS-Führung wurde
ein weiteres Streichorchester unterstützt, welches von dem Holländer Van Hurk
geleitet wurde und insgesamt 32 Musiker umfasste. Nach Kuna stammte die Hälfte
von ihnen aus der Tschechoslowakei.
Gespielt wurden Werke von Mozart, Händel, Beethoven und Grieg, wobei die
"unvergleichlichen Leistungen dieses Ensembles [...] auf dem Können einiger
wirklich bedeutender Künstler"
beruhten. Die Aufführungen waren jedoch lediglich auf einen kleinen Kreis
begrenzt, so dass für die wenigen Zuhörer Eintrittskarten ausgegeben werden
mussten.
Dem tschechischen Journalisten und Musikliebhaber Ludvík Henych gelang es
außerdem im Lager, eine international besetzte Quartett- und Kammermusikkapelle
zusammenzustellen. Als inoffizieller Verwalter der SS-Bibliothek erhielt er
Zugang zu Notenmaterial, welches er geheim und unter hohem persönlichen Risiko
ins Schutzhaftlager schmuggeln und dort bearbeiten konnte.
Das Repertoire des kleinen heimlichen Orchesters reichte von Mozart über
Beethoven, Schubert und Borodin bis Dvořák. Die Musiker spielten für kranke
Häftlinge vor dem Krankenrevier, bei Geburtstagen oder bei Trauerfeiern, wobei
sie im Gegensatz zu den Mitgliedern der Lagerkapelle kein leichteres Kommando
oder größere Essensrationen erhielten.
Im KZ Dachau wurde auch gesungen. Während der
Quarantänezeit der ersten Typhus-epidemie im Winter 1942/43 entstanden im Lager
tschechische, jugoslawische und polnische Chöre mit zahlreichen Mitgliedern.
Der tschechische Chor umfasste etwa vierzig Häftlinge und wurde von dem
Amateursänger František Süss geleitet.
Gesungen wurden hochgradig anspruchsvolle Stücke nationaler Komponisten, wie
Smetana, Foerster oder Janáček. Doch der Chor löste sich bereits wenige Monate
nach seiner Entstehung auf, da die SS-Führung im Herbst 1943 den Tschechen
verbot, in der eigenen Muttersprache zu singen.
Im Lager fand außerdem auch religiöser Gesang statt, der wiederum sehr eng mit
den Gottesdiensten der Geistlichen verbunden war. Nach Kuna erlebte der Chor der
tschechischen Priester bei den großen Andachten zur Feier der Heiligen Kyrill
und Methodius oder des heiligen Wenzel im Jahr 1944 seinen Höhepunkt.
Der tschechische Pfarrer B. Hoffmann beschreibt in seinen Erinnerungen einen
solchen Gottesdienst, der in der Kapelle im Block Nr. 26 stattfand: "Die
Kapelle war voll. Es waren Polen aus dem Block 26 und aus dem Priesterblock 28
gekommen, es beteiligten sich auch slowenische Priester und deutsche aus dem
Sudetenland; anwesend waren Pfarrer der Kirche der böhmischen Brüder und der
tschechoslowakischen hussitischen Kirche, schließlich auch ein griechischer
orthodoxer Archimandrite und der orthodoxe Erzbischof von Prag [...]. Vom
tschechischen Block 20 hatte sich eine Reihe von Laien eingefunden. Sie haben
fröhlich tschechische Lieder gesungen und der tschechischen Predigt gelauscht."
Bei den Feiern zu Ehren der tschechischen Nationalheiligen suchten die Priester
nicht nur ihre menschliche Würde zu bewahren, sondern sie demonstrierten auf
diese Weise auch ihre innere Auflehnung gegen das Terrorsystem der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Darin sind auch solche religiöse
Veranstaltungen mit der großen Protestwelle der Tschechen während der
Besatzungszeit vergleichbar, die sich neben politischen Kundgebungen auch in
großen Wallfahrten niederschlug.
Die Musik stärkte im Lager den Durchhaltewillen und wurde
dadurch zu einer Waffe gegen die Resignation sowie zu einem Mittel der mentalen
Selbstbehauptung. Neben der Solidarität, der Subversion der totalen
Durchherrschung sowie anderem kulturellen Schaffen, war auch sie eine
unentbehrliche Überlebensstrategie an diesem unmenschlichen Ort.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2
Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
08-2004