Sudetendeutsche
Landsmannschaft:
Instrumentalisierung der Erinnerung
Teil
2, Fortsetzung von
Geteilte
Erinnerung, von
Samuel Salzborn
Buchbeschreibung:
[Geteilte
Erinnerung] [Bestellung]
Es
ist eine Trivialität darauf
hinzuweisen, dass kein moderner
Staat ohne eine eigene
geschichtsphilosophische
Interpretation zu existieren in der
Lage ist. Kein Nationalstaat, ganz
gleich, ob völkisch oder
republikanisch konstituiert, kommt
ohne Vergangenheits-bilder, ohne
nationalpolitische Erinnerung aus.
Dies wurde von der neueren
Nationenforschung eindrucksvoll
herausgearbeitet.3
Johannes Fried hat in diesem
Zusammenhang zu Recht betont, dass
Vergangenheit dabei in der Gegenwart
stets neu geschaffen werde und sich
unbewusst aus unterschiedlichen,
diachronen Elementen erinnerten
Geschehens konstituiere. Geprägt
durch die Erfordernisse der
Gegenwart, so Fried, werden auf
diese Weise »stimmige
Vergangenheitsbilder« geformt, die
aufgrund ihres erzählten bzw.
erinnerten Gehaltes erheblich vom
tatsächlichen Geschehen abweichen
können.4
Auch wenn für
den formalen Vorgang der
geschichtspolitischen Sinnstiftung
die politische Verfasstheit eines
staatlichen Systems unerheblich ist,
gilt dies im umgekehrten Sinn in
keiner Weise. Denn Prozesse der
Mythologisierung und Heroisierung
können gleichermaßen demokratische
Systeme in ihrer Existenz historisch
stützen, wie sie dazu dienen können,
völkische Mythologien wie etwa die
der Sudetendeutschen Landsmannschaft
sinnstiftend für den nationalen
Alltag zu manifestieren und in
praktische Handlungsanleitungen zu
transformieren. Was in diesen
Prozessen letztlich zur Geschichte
erklärt wird, ist in aller Regel
nicht von den historischen Fakten
abhängig, sondern von ihrer
Interpretation durch Politik,
Wissenschaft, Medien und
Öffentlichkeit. Und wer dabei die
Zukunft gewinnen will, muss wie
Michael Stürmer zutreffend betont
hat, die Erinnerung füllen, die
Begriffe prägen und die
Vergangenheit deuten.5
Der
Kampf ums Geschichtsbild wird damit
in der Gegenwart um die Zukunft
geführt. Das Verhältnis von
reflexivem Erinnern und identitärer
Sinnstiftung markiert das
geschichtspolitische Spannungsfeld,
wobei die Kernfrage darin besteht,
ob Geschichte adäquat interpretiert
oder lediglich verwertet werden
soll. Während die interpretative
Variante einer kritischen
Aufarbeitung der Vergangenheit
zuneigt, zielt die
verwertungsorientierte auf deren
Instrumentalisierung und stellt in
ihrer Verwertungslogik darauf ab,
was von Adorno in anderem
Zusammenhang treffend als die am
Tauschprinzip orientierte
Spießbürgersorge beschrieben wurde,
sich daran zu orientieren, was für
das eigene Tun zu bekommen sei.6
-
3
Hier ist insbesondere auf die
Arbeiten von Benedict Anderson
(Imagined communities.
Reflections on the origin and
spread of nationalism, London
1983), Ernest Gellner (Nations
and Nationalism, Ithaca 1983)
und Eric J. Hobsbawm (Nations
and Nationalism since 1780.
Programme, myth, reality,
Cambridge 1990) hinzuweisen.
-
4
Vgl. Johannes Fried: Erinnerung
und Vergessen. Die Gegenwart
stiftet die Einheit der
Vergangenheit, in: Historische
Zeitschrift, H. 3/2001, S.
561ff.
-
5
Vgl. Michael Stürmer: Geschichte
in geschichtslosem Land, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 25.4.1986.
-
6
Vgl. Theodor W. Adorno:
Ästhetische Theorie, in: Ders.:
Gesammelte Schriften, Band 7,
Frankfurt a.M. 1997, S. 373.
Gegenstand der von den
Vertriebenenverbänden im allgemeinen
und von der Sudetendeutschen
Landsmannschaft im besonderen
initiierten und mitgetragenen
Debatten ist immer eine
Auseinandersetzung mit dem
Gegenstand und/oder den Folgen von
Flucht und Vertreibung der deutschen
Minderheiten aus Osteuropa infolge
von Nationalsozialismus und Zweitem
Weltkrieg. Problematisch an dem
Agieren der Landsmannschaften in
diesen Debatten ist dabei nicht, den
Gegenstand Flucht und Vertreibung
als solchen zu thematisieren und
sich um eine adäquate Einordnung und
Interpretation zu bemühen. Zu
kritisieren ist vielmehr die Art und
Weise, in der diese
Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit geschieht. Hier ist
der ehemaligen
Bundestagsvizepräsidentin Antje
Vollmer voll zuzustimmen, wenn sie
sagt, dass eine politische
Organisierung entlang des Themas
»Vertreibung« zu verstehen sei als
das Interesse an der Wachhaltung des
Erfahrenen - allerdings »nicht im
Sinne des Mitleids, sondern im Sinne
einer offenen Rechnung.«7
Denn es geht in dem maßgeblich von
den Vertriebenenverbänden
initiierten neuen deutschen
Opferdiskurs gerade nicht um die
Auseinandersetzung mit dem
individuellen Schicksal und Leid der
betroffenen Menschen, sondern um den
Versuch einer Interpretation von
Flucht und Vertreibung als kollektiv
zu sanktionierendes Unrecht. Dabei
steht nicht die Aufklärung über die
Vergangenheit im Zentrum, sondern
das Bestreben nach Schaffung und
Formung einer kollektiven
Opferidentität:
»Die
Deutung der Vergangenheit wird dabei
nicht nur zum Streitfall, sondern
sie kann auch, national wie
international, zum Ziel politischer
Einflussnahme werden - sei es, um
bestimmte Inhalte kollektiver
Identität zu beeinflussen, sei es,
um politische Gegner mit
historischen Argumenten zu
bekämpfen, sei es, um in den
internationalen Interessenkonflikten
Ansprüche historisch zu
rechtfertigen.«8
-
7
Antje Vollmer: Tiefe
Resignation. Interview in:
Süddeutsche Zeitung v. 9.2.2002.
-
8
Peter Steinbach, Geschichte und
Politik - nicht nur ein
wissenschaftliches Verhältnis,
in: Aus Politik und
Zeitgeschichte. Beilage zur
Wochenzeitung Das Parlament v.
6.7.2001, S. 7.
Durch
die Kollektivierung der
individuellen Geschichte(n) soll der
historische Kontext revidiert
werden. Einerseits werden so die
Ursachen von Flucht und Umsiedlung
negiert, andererseits zugleich die
Legitimität ihrer Folgen in Frage
gestellt. Denn die Delegitimation
der antifaschistischen Neuordnung
Europas nach der Niederschlagung des
Nationalsozialismus durch die
Alliierten wird erst durch die
Zerlegung der Geschichte in
scheinbar unzusammenhängende Zufälle
möglich; erst wenn Flucht,
Vertreibung und Umsiedlung der
Deutschen nicht mehr im Kontext des
Nationalsozialismus gedacht werden,
besteht die Möglichkeit der
moralischen Entlastung und damit der
Forderung nach ihrer kollektiven
Sanktionierung als Unrecht. Auf
diese Weise findet zugleich auch
eine Entpolitisierung der Geschichte
statt, denn sie wird nicht mehr in
ihren kausalen Zusammenhängen und
Kontexten dargestellt und
interpretiert, sondern lediglich
empirisch-segregiert erfasst. Der
diesem Prozess innewohnende Hang zur
Moralisierung, der sich am
deutlichsten daran zeigt, dass von
Vertriebenenseite nur äußerst selten
sachlich über Flucht und Umsiedlung
der Deutschen gesprochen werden kann
ohne dabei in Termini des
Größenwahns zu verfallen, ist aber
notwendigerweise auch Teil der
bewussten politischen Strategie.
Denn diese im Sinne einer
enthistorisierten Politik
entpolitisierte Argumentation
erhofft sich gerade durch ihren
Appell an das Gefühl und an die
Moral Zustimmung. Es handelt sich
dabei um einen Prozess, den Sabine
Moller als Entkonkretisierung
beschrieben hat; eine auf die
Entkontextualisierung folgende
Moralisierung, bei der alles mit
allem vergleichbar wird, weil die
Fakten bis zur Sinnleere entstellt
sind. Die Komplexität der
Wirklichkeit wird durch emotionale
Regression auf omnipräsent
scheinende Fragmente reduziert. So
greift jede Analogie, da ihre
Adressaten sich keines erkenntnis-
und bewertungstheoretischen
Kontextes der Aussage mehr bewusst
sind, sondern lediglich nach den
ontologischen Kriterien von »Gut«
und »Böse« scheiden, die als
analytische Kategorien per se
unbrauchbar sind.10
Ursache eines solchen Reflexes ist
nicht zuletzt die marginale
Transparenz der Befassung mit dem
Nationalsozialismus, der eines
Artefaktes gleich behandelt wird,
ohne sich seiner Realität in
historischer und politischer
Dimension bewusst zu sein. Denn
hätte es wirklich eine Aufarbeitung
der Vergangenheit im Sinne Adornos
gegeben, bei der man »das Vergangene
im Ernst verarbeite, seinen Bann
breche durch helles Bewußtsein«,
wäre die Befassung mit dem Thema
Flucht und Vertreibung in der
Gegenwart eine gänzlich andere.
-
9
Vgl. Sabine Moller: Die
Entkonkretisierung der
NS-Herrschaft in der Ära Kohl,
Hannover 1998.
-
10
Vgl. Chantal Mouffe: Über das
Politische. Wider die
kosmopolitische Illusion,
Frankfurt a M 2007.
Der
Charme des Opferstatus hingegen ist
so verlockend, dass schon fast als
Vaterlandsverräter und
Nestbeschmutzer geziehen wird, wer
es wagt auf die Inkorrektheit der
Klassifizierung von Flucht und
Vertreibung als Unrecht hinzuweisen.
Nicht nur, dass die Umsiedlung der
Deutschen in Konsequenz auf den
Nationalsozialismus erfolgte. Sie
wurde in dem bis heute gültigen
Potsdamer Abkommen (Artikel XIII)
völkerrechtlich verbindlich
festgelegt. Dass mit einer
Anerkennung von Flucht, Vertreibung
und Umsiedlung als Unrecht auch
materielle Konsequenzen verbunden
sein würden, ist aufgrund des
Rechtscharakters des Begriffs
evident. Wie diese Konsequenzen im
einzelnen aussehen könnten, darauf
gab der über Monate anhaltende
Kampf
gegen die so genannten Benes-Dekrete
— von denen nur einige wenige
überhaupt die Behandlung der
deutschen Minderheit zum Gegenstand
hatten, während sie im Kern die
Staatlichkeit und Souveränität der
Tschechoslowakei und in deren Folge
die der heutigen Tschechischen
Republik garantierten - einen
Vorgeschmack. Unabhängig von der
normativen Bedeutung dieser
Diskussion in Bezug auf den
EU-Beitritt der Tschechischen
Republik verdeutlichte ein Großteil
der entsprechenden politischen
Erklärungen den besonders bei
konservativen Kräften bestehenden
Unwillen, die geschichtliche
Realität anzuerkennen und sich mit
den historischen Reaktionen auf die
nationalsozialistische Volkstums-
und Vernichtungspolitik abzufinden.
Und das hieße anzuerkennen, dass
trotz allen individuellen Leids und
aller individueller Ungerechtigkeit
die Umsiedlung der Deutschen die
notwendige Konsequenz auf eine
NS-Politik war, in der eben jene
deutschen Minderheiten (bzw. wie es
damals hieß: Volksdeutschen) soziale
und politische Konflikte geschürt
hatten, die eine wesentliche
Voraussetzung für die Zerschlagung
der osteuropäischen Nationalstaaten
darstellten. Diese Politik bildete
die Grundlage der NS-Außenpolitik,
zumindest so lange, wie diese ihre
Interessen nicht auf kriegerischem
Weg verfolgt hat. Die Umsiedlung der
Deutschen sollte im seinerzeitigen
Verständnis das künftige
Konfliktpotenzial in Osteuropa
verringern. Denn die deutsche
Volkstumspolitik war letztlich ein
zentraler Aspekt der Vorbereitung
und Umsetzung der deutschen
Eroberungs- und Vernichtungspolitik.
Durch die Moralisierung und
Fragmentierung der Geschichte wird
zugleich auch die historische
Volkstumspolitik in ihrer
tatsächlichen Relevanz
marginalisiert und moralisch
entlastet, was die Möglichkeit der
Exekution völkischer Konzepte in der
Gegenwart sichert.12
Zentral
ist dabei, dass die geteilte
deutsch-tschech(oslowak)ische
Erinnerung zugleich auch auf eine
»zerklüftete Erinnerungslandschaft«
(Eva Hahn/Hans Henning Hahn)13
in Deutschland verweist, was
letztlich auch der ausschlaggebende
Grund dafür sein dürfte, dass
bundesdeutsche Regierungen sich
bisher so schwer getan haben mit
eindeutigen Absagen an die
Politik der Vertriebenenverbände.
Denn obgleich die bundesdeutsche
Politik seit der osteuropäischen
Transformation von 1989/90 faktisch
darauf zielt, den
außenpolitischen
Handlungsspielraum der
Vertriebenenverbände zu minimieren
(etwa durch die Grenz- und
Nachbarschaftsverträge mit den
osteuropäischen Nachbarn), gilt dies
mitnichten für das
erinnerungspolitische Feld, das
geprägt ist von einem Lavieren und
einer Politik der konsequenten
Inkonsequenz: jeder Kritik an den
Vertriebenenverbänden, so sie
überhaupt geäußert wird, folgen
Relativierungen und Zugeständnisse
an die Verbände, deren
erinnerungspolitische Hoheit über
den Komplex Flucht und Vertreibung
nicht generell in Frage gestellt
wird, obgleich dies aufgrund von
sozial- und
geschichtswissenschaftlichen
Erkenntnisse dringend geboten wäre.
Buchbeschreibung: [Geteilte
Erinnerung] [Bestellung]
-
11
Vgl. Theodor W Adorno: Was
bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit, in: Ders.:
Eingriffe. Neun kritische
Modelle. Gesammelte Schriften,
Band 10.2, Frankfurt a.M. 1997,
S. 555.
-
12
Vgl. hierzu ausführlich: Samuel
Salzborn: Heimacrecht und
Volkstumskampf. Außenpolitische
Konzepte der
Vertriebenenverbände und ihre
praktische Umsetzung. Mit einem
Vorwort von Wolfgang
Kreutzberger, Hannover 2001, S.
144
ff.
-
13
Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Eine
zerklüftete
Erinnerungslandschaft wird
planiert. Die Deutschen, »ihre«
Vertreibung und die sog.
Benes-Dekrete, in: Transit.
Europäische Revue H 23/2002, S.
103ff.
Fortsetzung folgt (Teil 3/3)...