Lety u Písku:
Fortwährende Beleidigung der Ermordeten
Vor ca. einem Jahr wandten sich Noach Flug, Präsident des
"Internationalen Auschwitz Komitees", Günther Pappenheim, 1. Vizepräsident
des "Internationalen Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos", und der
Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, in einem
gemeinsamen Appell an die Regierung der Tschechischen Republik.
Sie forderten ein würdiges Gedenken an die im Holocaust
ermordeten Roma und Sinti in der Tschechischen Republik. Insbesondere sei
die Situation auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers für Roma
und Sinti in Lety u Písku, wo sich damals ein Betrieb zur Schweinemast
befand, untragbar.
Die damalige Beschreibung des Zustands als "eine tiefe Beleidigung gegenüber
allen Opfern und den Überlebenden der national-sozialistischen Verbrechen"
trifft leider noch immer zu, denn an dem Zustand vor Ort hat sich
anscheinend nichts geändert.
In dem nationalsozialistischen Konzentrationslager im südböhmischen Lety u
Písku, das im August 1942 eingerichtet wurde und an dessen Leitung
tschechische Polizeikräfte der Verwaltung des Protektorats Böhmen und Mähren
beteiligt waren, waren ca. 1300 böhmische Roma und Sinti inhaftiert.
Mindestens 326 Angehörige der Minderheit kamen an diesem Ort ums Leben, 241
davon waren Kinder. Über 500 weitere Roma und Sinti wurden von hier zur
Vernichtung nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Viele von ihnen wurden bei
der letzten großen Mordaktion an 2900 Roma und Sinti in der Nacht vom 2. auf
den 3. August 1944 in den Gaskammern erstickt.
Bereits seit dem Jahr 1974 wird auf dem ehemaligen Lagergelände eine
Großschweinemast betrieben. Von Beginn an fordern Überlebende sowie deren
Angehörige und tschechische Roma-Organisationen eine Beendigung dieses
internationalen Skandals. Auch das Europäische Parlament hat in einer
Entschließung vom 28. April 2005 von der Europäischen Kommission und den
Regierungen der Mitgliedsstaaten gefordert, "alle erforderlichen Schritte zu
unternehmen, damit die Schweinemast auf dem Gelände des ehemaligen
Konzentrationslagers Lety u Písku eingestellt und eine würdige Gedenkstätte
eingerichtet wird." Damit forderte das Europäische Parlament schon im Jahr
2005 die tschechische Regierung ganz konkret auf, die Würde der Opfer
wiederherzustellen.
Vor einem Jahr wandten sich die oben Genannten, unterstützt von weiteren
Opferverbänden, an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, damals Ratspräsidentin
der Europäischen Union: "Die Verantwortung nach dem Holocaust verpflichtet
Deutschland und Europa, diesen Teil der gemeinsamen Geschichte wach zu
halten und den Opfern Respekt zu erweisen. Die Tschechische Regierung hat
zwar im Jahr 1999 ihre historische Verantwortung gegenüber den Roma und
Sinti anerkannt, sie hat bisher aber nichts Konkretes unternommen, um diesen
unwürdigen Zustand zu beenden. Durch die Tolerierung dieses Zustandes wird
der rechtsextrem motivierten Gewalt gegen Angehörige der Roma- und
Sinti-Minderheit Vorschub geleistet. Es kann daher nicht verwundern, dass
tschechische Neonazis auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers
Lety sogar Demonstrationen durchgeführt haben, um ihre rassistische
Propaganda zu verbreiten".
Die Situation in Lety ist noch immer beschämend für einen demokratischen
Staat wie die Tschechische Republik und eine nachträgliche Verhöhnung der
Toten und aller Überlebenden des Holocaust.
Das englischsprachige Wikipedia ist bei dem
Stichpunkt Lety zu diesem andauernden Skandal ergiebiger als das deutsche:
..."Roma activists picked the pig farm as a symbol of the Czech stance
toward the Roma. They insist it is a source of shame for the country
internationally and have repeatedly asked the government to relocate the
farm. Their efforts gained further attention by a resolution of the European
Parliament in 2005 asking the Czech Government remove the farm. Opponents
have criticised the massive cost of the farm's relocation, and insisted it
has no impact on the actual life of Roma people. They claim that the real
intention of the activists is to extort money from the state and that the
farm's removal would lead to a worsening of already tense relations between
ethnic Czechs and Roma. In both 2005 and 2006, the Czech government
announced its intention to buy and liquidate the farm, but has recently
decided against it."...
http://en.wikipedia.org/wiki/Concentration_camps_Lety_and_Hodonín
In der Tschechischen Republik leben fast 200.000 Roma,
in Deutschland annähernd 80.000 Angehörige der "nationalen Minderheit der
Deutschen Sinti und Roma", in Europa wird deren Zahl zwischen 8 und 10 Mio.
Sinti und Roma verschiedener Staatsangehörigkeiten geschätzt.
Als Sinti und Roma werden die weltweit verbreiteten aber überwiegend in
Europa lebenden Minderheitenangehörigen bezeichnet. Dabei steht "Sinti" für
die mitteleuropäischen Gruppen und "Roma" (Menschen) als Sammelname für
Gruppen überwiegend südosteuropäischer Länder. Zwischen ihnen bestehen
Unterschiede, die sich ebenso durch die jeweilige Familientradition- und
Situation hervorheben können.
Man schätzt, dass die Sinti und Roma zwischen 800 und 1000 n. Chr. aus ihrer
Heimat Nordwest-Indien ausgewandert sind. Die meisten Menschen ließen sich
auf dem Balkan und in Mittleren Osten und in Osteuropa nieder. Um ca. 1400
fand eine Wanderung Richtung Mitteleuropa statt. Zum ersten Mal in einem
Verzeichniss, wurden Sinti und Roma um 1407 in Hildesheim erwähnt.
Die Sinti und Roma stellen keine homogene Gruppe dar, sondern bilden sich
durch die traditionelle und kulturelle Überlieferung innerhalb der Familien.
Die eigene Sprache "Romanes", die aus dem altindischen Sprachs Sanskrit
stammt, ist Bestandteil der Kultur und wird in Abweichungen überliefert.
Überwiegend wird sie im Sprachgebrauch weitergeben, sei es in Geschichten,
Märchen oder Liedern. Die vielen Erzählungen werden durch die alten Menschen
an die Jugend weitergegeben und ermöglichen einen Einblick in das "geistig
und soziale" Leben der Minderheit, deren historischen Erfahrungen und
Volkskultur.
Die Kultur der Sinti und Roma zeichnet sich auch durch einen "reichen
Schatz" an musischen Fähigkeiten aus, welches sich besonders durch die
Eigenkomposition und Beeinflussung des spanischen Flamencos, der Wiener
Klassik und der ungarischen Musik zeigt.
Künstlerische Begabungen bei der Kupfer- und Goldschmiedekunst, der
Korbflechterei und der Holz- und Lederbearbeitung waren die Grundlage für
den Handel mit diesen Waren und dem selbstständigen Verdienst zur Deckung
des Lebensunterhalts. Um diese Arbeit ausführen zu können, war es - wie auch
für die selbstständig arbeitenden Angehörige der Mehrheitsbevölkerung -
teilweise notwendig‚ über Land zu fahren, welches jedoch keinem festen
Wohnsitz entgegenstand. Trotz alle dem besteht nun schon seit Jahrhunderten
das Vorurteil des "Wandervolks". Tatsache ist, dass die Menschen in
Deutschland oder anderen europäischen Ländern sesshaft sind und überwiegend
über die jeweilige Nationalität verfügen.
Der Vorsitzenden des tschechischen Roma Verbandes, Karel
Holomek, erläuterte die Lage 2006, im Foyer des Europäischen Parlaments
in Straßburg, folgendermaßen (Quelle Dokumentations- und Kulturzentrum
Deutscher Sinti und Roma Heidelberg): Die Verfolgung unserer Minderheit in
der Zeit des Nationalsozialismus, die im Holocaust gipfelte, ist eine
gemeinsame historische Erfahrung sowohl der deutschen Sinti und Roma als
auch der Roma-Gemeinschaften in den anderen europäischen Staaten. Dies gilt
in besonderer Weise für die Sinti und Roma aus dem damals so bezeichneten
„Protektorat Böhmen und Mähren“, in deren Namen ich heute spreche.
Wie in Deutschland und in Österreich, so waren auch die Sinti und Roma auf
tschechischem Territorium fest in die Gesellschaft integriert. Vor allem in
den ländlichen Gemeinden lebten sie dort schon lange Zeit als Handwerker
oder Kaufleute. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939 wurde
dieses Zusammenleben systematisch zerstört. Die Nationalsozialisten erließen
gegen die dort beheimateten Roma die gleichen diskriminierenden Erlasse und
Ausgrenzungsbestimmungen wie zuvor gegen die Sinti und Roma im Deutschen
Reich. So galten für das „Protektorat“ Eheverbote zwischen Deutschen und so
genannten „Zigeunern“, deren Ausweise man außerdem mit einem „Z“ eigens
kennzeichnete. Sinti und Roma wurden in KZ-ähnliche Lager verschleppt, wo
sie schwerste Zwangsarbeit leisten mussten. In zwei dieser Lager, dem
böhmischen Lety und im mährischen Hodonin, waren ab August 1942
ausschließlich Sinti und Roma inhaftiert. In der Lagerordnung wurde als Ziel
ausdrücklich benannt, die Roma „aus der Gemeinschaft auszuschalten“. In
diesen beiden Konzentrationslagern, für deren Bewachung und Versorgung
tschechische Behörden verantwortlich waren, herrschten unmenschliche
Lebensbedingungen. Über 500 Menschen starben dort aufgrund der mangelhaften
Ernährung und der zwangsläufig ausbrechenden Krankheiten wie Typhus.
Wie im Deutschen Reich, so wurden auch im „Protektorat Böhmen und Mähren“
Sinti und Roma systematisch erfasst. Auf der Grundlage des Himmler-Befehls
vom 16. Dezember 1942 wurden ab März 1943 etwa 4.500 Angehörige unserer
Minderheit von dort in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Im
dortigen Lagerabschnitt B II e, von der SS „Zigeunerlager“ genannt, bildeten
die Roma aus dem „Protektorat“ nach den deutschen bzw. österreichischen
Sinti und Roma den zahlenmäßig größten Anteil. Furchtbarer Höhepunkt dieses
gemeinsamen Verfolgungsschicksals war die Ermordung der letzten Überlebenden
dieses Lagerabschnitts in den Gaskammern in der Nacht vom 2. auf den 3.
August 1944.
Es ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass auch die Sinti und Roma
aus den Gebieten des ehemaligen „Protektorats Böhmen und Mähren“ entgegen
der Nazi- Propaganda allein aus rassischen Gründen, also auf der Grundlage
ihrer Geburt, verfolgt und vernichtet wurden. Diese grundlegende
Gemeinsamkeit mit dem jüdischen Verfolgungsschicksal wurde auch in meinem
Land nach dem Krieg vielfach aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt.
Sichtbarster Ausdruck dieser Missachtung unserer Opfer ist die Tatsache,
dass auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Lety ein großer
Schweinemastbetrieb errichtet wurde. Dennoch konnten seit dem Ende des
Kalten Krieges und dem damit einhergehenden politischen Wandel in meinem
Land einige Fortschritte hinsichtlich des Bewusstseins, dass Sinti und Roma
ebenso wie Juden Opfer des Holocaust wurden, erreicht werden.
Bereits im Jahr 1991 wurde mit dem Museum für Roma-Kultur in Brno unter
maßgeblicher Beteiligung von Roma-Vertretern eine Organisation gegründet,
die sich seither auch der historischen Aufarbeitung der planmäßigen
Ermordung der Roma im Zweiten Weltkrieg widmet. Diese Einrichtung beteiligte
sich ebenso an der Errichtung eines Denkmals für die Opfer des
Konzentrationslagers Lety, das im Jahr 1995 vom tschechischen
Staatspräsidenten Vaclav Havel enthüllt wurde.
Dennoch gibt es in der Tschechischen Republik bis heute keine wirkliche
öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust an den Sinti und Roma und
der eigenen Verstrickung in dieses in der Menschheitsgeschichte einzigartige
Verbrechen. Immer noch erfahren unsere Opfer kein würdiges Gedenken. Obwohl
wir heute wissen, dass drei Viertel der Sinti- und Roma-Bevölkerung im
damaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“ dem Holocaust zum Opfer fielen,
wird diese Tatsache nicht nur von Neonazis geleugnet. Dies ist die Kehrseite
der demokratischen Freiheit und der freien Meinungsäußerung, die wir nach
Jahrzehnten der Unterdrückung und der Diktatur in den Ländern Osteuropas
errungen haben. Bis heute geht die gesellschaftliche Benachteiligung unserer
Minderheit und der oftmals gewaltbereite Rassismus gegenüber den Roma einher
mit der Leugnung der an ihnen begangenen Völkermordverbrechen. Für die
nationalen Roma-Organisationen in Europa ist Auschwitz, das Synonym der
nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, ein wichtiger gemeinsamer
Bezugspunkt. Erst wenn auch unsere Holocaust-Opfer Bestandteil der
nationalen Erinnerungskulturen werden, kann die Vision eines europäischen
Hauses Wirklichkeit werden.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch kurz zum Ausdruck bringen, dass die
tschechischen Roma es begrüßen, wenn in Berlin bald das nationale Holocaust-
Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma errichtet wird, wie es der
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert.
24-07-2008 |