Rabbinerinnen
In
ihrem Eröffnungsvortrag zur Konferenz
Bet-Debora, bezeichnete sich Daniela Thau als eine "Rabbinerin
im Abseits". Das Gefühl, im Abseits zu stehen, hatten mehrere
Tagungsteilnehmerinnen. Sind Rabbinerinnen und gelehrte jüdische Frauen nur
eine Randgruppe? Werden ihre Existenz und ihr Auftreten nur als ein
politisch korrektes Zugeständnis der Männerwelt geduldet? Und bleiben, wenn
es darauf ankommt, die alten Strukturen letztlich ungebrochen?
Was ich von
Regina Jonas gelernt habe
Rabbinerin Sybil
Sheridan
An einem Tage im Oktober des
Jahres 1993 veränderte sich mein Leben. Dr. Hermann Simon, der Direktor des
Berliner Centrum Judaicum, kam ans Leo Baeck College nach London und brachte
ein Geschenk mit: eine Fotografie und das Zertifikat über die Ordination von
Regina Jonas, die 1935 in Deutschland Rabbinerin geworden war.
Drei Dinge lernte ich an diesem Tage:
Wir versammelten uns zu etwa vierzig
Leuten in einem Konferenzraum im Sternberg Centre, wo Rabbiner Prof.
Jonathan Magonet, der Vorsitzende des Leo-Baeck-Colleges, eine Rede hielt.
Dann wurden die Dokumente übergeben und im Raum herumgereicht. Als ich das
Bild von Rabbinerin Jonas sah, wie sie in ihrer formellen Robe dastand,
überfiel mich ein ganz eigenartiges Gefühl: Ich sah mich selbst. Meine
Eltern kamen als Flüchtlinge von Deutschland nach England. Hätte es keine
Schoa gegeben, wäre mein Leben, wäre meine ganze Erziehung deutsch gewesen.
Als ich geboren wurde, und in den fast vierzig Jahren, die unsere beiden
Ordinationen voneinander trennten, hätte es zweifellos noch mehr
Rabbinerinnen gegeben. Statt mich selbst als eine rebellische Pionierin zu
sehen, eine von wenigen, eine Außenseiterin des mainstream-Judentums
und des mainstream-Rabbinats, hätte ich meinen Platz in einem Rahmen
einnehmen können, der inzwischen mit Sicherheit zur Normalität gehören
würde: als Rabbinerin. Ich hätte mich in ihr widergespiegelt. Hätte es keine
Schoa gegeben, hätte es in den letzten sechzig Jahren Rabbinerinnen in der
liberalen Entwicklung des europäischen Judentums gegeben – wie anders wäre
wohl das Judentum heute? Die Lücke, die Veränderung alles Jüdischen, die die
Schoa hinterließ, betraf nicht nur den Verlust an Menschen und Kultur: sie
warf das Judentum um ein Jahrhundert zurück, ein Jahrhundert, aus dem wir
eben erst wieder heraustreten. Das war die erste Lektion.
Als Dozentin am Leo Baeck College und
eine der ersten Frauen, die dort ordiniert wurden, hatte man mich gebeten,
das Geschenk Dr. Simons entgegenzunehmen und eine Dankesrede zu halten. Ich
arbeitete sehr intensiv an dieser Rede, denn ich spürte, daß dies in der Tat
eine bedeutsame Angelegenheit war. Dr. Simon sagte ein paar Worte, wandte
sich Rabbiner Prof. Magonet zu und überreichte ihm das Zertifikat. Dieser
dankte ihm, und beide setzten sich. Mich hatten sie völlig vergessen. Eine
weitere Rede folgte, dann war das Treffen zu Ende. Ich konnte nicht das
Geringste sagen, ohne daß es nicht völlig absurd ausgesehen hätte, aber das
ganze Unternehmen war als solches ohnehin ziemlich absurd. Da standen wir,
eine mehrheitlich aus Frauen bestehende Zuhörerschaft, und feierten die
erste Rabbinerin mit Reden und Übergaben – von ausschließlich Männern. Nach
der Zeremonie sprach ich Rabbiner Magonet direkt darauf an. Er sagte mir, er
sei viel zu sehr beschäftigt gewesen, um daran zu denken, denn am selben
Abend sollte das erste Ehrendoktorat des Leo Baeck Colleges vergeben werden,
und er habe noch so viel vorzubereiten.
Die Präsentation Rabbinerin Jonas
fand in einem modernen Seminarraum statt. Wir saßen einfach in einem Kreis
in einer sehr informellen Atmosphäre. Eine halbe Stunde später fand die
Vergabe der Ehrendoktorwürde in einem großen, aufwendiger ausgestalteten
Saale statt. Die Dozenten des Colleges kamen feierlich herein, in vollem
akademischen Habit, zu den Klängen eines Streichquartetts, das an diesem
Abend wiederholt spielte. Reden des Empfängers der Ehrendoktorwürde lagen in
einem Heft gedruckt vor und wurden jedem in dem zum Bersten gefüllten
Auditorium ausgehändigt. Es war eine große Veranstaltung.
Was ich nicht verstehe: Warum wurden
beide Zeremonien nicht miteinander verknüpft? Ohne die zweifellosen Meriten
des Ehrendoktors schmälern zu wollen: Hatte nicht die Präsentation Dr.
Simons eine weitaus größere Bedeutung? Also lernte ich Folgendes: Trotz der
vielen ordinierten Frauen, trotz des angeblichen Eintretens für die
Gleichstellung beider Geschlechter von Seiten des Leo Baeck Colleges war den
Frauen noch nicht der Durchbruch in den mainstream gelungen.
Dritte Lektion: Nach der Präsentation
wandte sich Hans Hirschberg – ein Londoner, der entdeckt hatte, daß die
Zertifikate von Rabbinerin Regina Jonas noch immer in Berlin existierten –
insbesondere an die anwesenden Rabbinerinnen in einer Rede, die uns bis ins
Herz traf:
Warum habe sie das nicht
interessiert? Warum hatte sich niemand die Mühe gemacht und nach Spuren von
Leben und Sterben der Regina Jonas geforscht? Eine sprachlose Zuhörerschaft
antwortete wie aus einem Mund: Wir wußten nichts von ihr.
Fünfzig Jahre sind nicht eben eine
lange Zeit. Wie ist es möglich, daß eine Gestalt, die uns so nah ist und
eine solche bedeutsame Rolle für die Entwicklung im Modernen Judentum
gespielt hat, so vergessen wird? Hier muß man Fragen stellen.
Erstens: was ist mit ihren
Zeitgenossen? Obwohl Rabbinerin Jonas in Auschwitz starb, entkamen oder
überlebten ihr Lehrer Rabbiner Dr. Leo Baeck und viele andere Kollegen die
Nazi-Unterdrückung und fanden eine Zuflucht in England, in den Vereinigten
Staaten, in Australien. Warum haben sie sie nie erwähnt? Oder, falls sie es
taten: warum nahm von ihr niemand Notiz?
Ein Grund ist sicher, daß ihre
Ordination nicht anerkannt war. Ihre private Smicha in Offenbach von
Rabbiner Max Dienemann, der selbst am äußersten liberalen Ende der
Reformbewegung stand, würde Widerspruch hervorrufen, nicht nur derer, die
Rabbinerinnen ablehnten, sondern auch gegen ihn selbst und seine Ansichten.
Ein anderer Grund sind schlicht die Umstände: Warum sollten Überlebende über
sie reden? So viele hervorragende Lehrer und Führer gingen in der Schoa
verloren. Denjenigen, die ihrem neuen Leben, in einem neuen Land, in einer
neuen Weltordnung einen Sinn gaben, kann man vergeben, wenn ihre ehemalige
Kollegin nicht merklich in ihren Köpfen spukte.
Aber es gab auch andere, die in die
Umstände der Ordination von Frauen in England und in den Vereinigten Staaten
involviert gewesen waren, und die von ihr gewußt haben müßten. Weil sie
gegen die Ordination von Frauen eingestellt waren, scheint es, haben sie
geschwiegen – eine Vorgängerin zu erwähnen, hätte unweigerlich bedeutet,
ihre Sache verloren zu haben.
Aber dies sind nicht die einzigen
Schuldigen im Vergessen der Rabbinerin Regina Jonas. Ich selbst hatte von
ihr gehört. Und ich nahm die Information mit der gleichen grenzenlosen
Gleichgültigkeit hin – ganz wie andere Frauen, die zu jener Zeit studierten.
Wenn man bedenkt, daß wir nach passenden Rollenmodellen für Frauen im
Rabbinat fragen, scheint es bemerkenswert, daß wir nicht das geringste
Interesse daran zeigten, noch mehr über "die Frau in Deutschland, die auf
das Rabbineramt hin studierte" herauszufinden.
Und wir waren in England keinesfalls
die einzigen, die sie vergaßen. Und doch schrieb Rabbinerin Sally Priesand,
die erste Rabbinerin der Vereinigten Staaten, in ihrer rabbinischen
Abschlußarbeit und in ihrem Buch "Judaism and the New Woman" über sie. In
einer Bemerkung über das Leben von Regina Jonas räumte sie sogar ein, daß
sie – Priesand – "nicht die erste Rabbinerin war. Ich war eigentlich die
zweite Rabbinerin, damals, auch wenn ich die erste bin, die an einem
Theologischen Seminar ordiniert wurde". Und trotzdem würdigten alle
Priesand, als sie 1994 ihr zwanzigjähriges Jubiläum als Rabbinerin feierte,
als die erste. Kein Hinweis auf Rabbinerin Jonas. In den Staaten und in
England war sie vergessen.
Wie konnte so etwas sein? Ich kann
mir nur denken, daß unsere Gleichgültigkeit in den siebziger Jahren darin
ihren Grund hatte, so wie Männer sein zu wollen. Als wir um Anerkennung und
Achtung in der jüdischen Welt rangen, glaubten wir, wenn wir das Erbe einer
anderen Frau annahmen – einer Frau, die nicht allgemein als Rabbinerin
anerkannt wurde -, daß wir damit nur marginalisiert würden, und sich so
unser Unterschied zu unseren männlichen Kollegen nur noch mehr verstärken
würde.
Und so lernte ich, daß man der
Geschichte nicht trauen darf – daß, was vergessen ist, durchaus bedeutsamer
sein kann, als das, woran man sich erinnert. Ich hoffe nur, daß unsere
"neuerliche" Entdeckung von Rabbinerin Regina Jonas dieses Mal die wirklich
letzte sein wird.
Übersetzt aus dem Englischen von
Esther Kontarsky
Sybil Sheridan wurde als Kind
deutscher Emigranten in Lancashire geboren. Sie studierte Theologie an der
Universität von Cambridge, bevor sie sich am Leo Baeck College in London zur
Rabbinerin ausbilden ließ. Zur Zeit lehrt sie am Leo Baeck College
Lebenszyklen, Feste und Einführung in die Bibel. Sie ist Minister an der
Thames Valley Progressive Jewish Community in Reading Berkshire, Autorin der
"Stories from the Jewish World" (Macdonald, Neuauflage 1998) und
Herausgeberin von "Hear Our Voice. Women in the British Rabbinate" (SCM
1994), "Taking up the Timbrel" (SCM 2000). Rabbinerin Sheridan ist
verheiratet mit Rabbiner Dr. Jonathan Romain und hat vier Kinder.
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