Gottesdienst und
Liturgie
Während der Tagung gab es vier
Gottesdienste, jeweils von mehreren Rabbinerinnen und Vorbeterinnen
geleitet:
- Schacharit-Gottesdienst mit
Katalin Kelemen (Budapest) und Katka Novotna (Prag);
- Kabbalat Schabbat mit Nelly Kogan
(Minsk) und Pamela Rothmann-Sawyer (Alameda);
- Schabbat "British Style" mit
Sylvia Rothschild (Orpington), Sybil Sheridan (London), Elizabeth Tikvah
Sarah (London) und Daniela Thau (Bedford);
- sowie einen
Rosch-Chodesch-Gottesdient mit Bea Wyler (Oldenburg) und Jane Kanarek
(Moskau).
Von den Gottesdiensten waren die
meisten Teilnehmerinnen tief bewegt, manche hatten jedoch auch gemischte
Gefühle dabei.
Und wenn die
Tora-Rolle fällt?
Petra Kunik
Am Ende stand der Eklat. Mit
diesem Satz beginnt die 'Allgemeine jüdische Wochenzeitung' ihren
Bericht über Bet Debora in Berlin.
Auch ich war dabei und für mich endete die Tagung mitten in einer
Frauenrunde (mit Quotenmann), fast alle aus der Schweiz.
Sonntagmittag saßen wir, die meisten
schon von ihrem Gepäck für die Heimfahrt umgeben, in einem Café in der
Oranienburger Straße im Freien. In der vorsichtig wärmenden Frühjahrssonne
warfen wir uns Pointen zu und lachten. Mit der Frage nach der momentanen
Lebensqualität in der Schweiz für jüdische Schwyzer wechselte die Stimmung.
Eine Mutter erzählte von ihrem 12jährigen Sohn der nach einer TV-Sendung
über 'Nachrichtenlose Vermögen von Holocaustopfer auf Schweizer Bankkonten '
von einem Schulkameraden gefragt wurde: "Bevor du dich neben mich setzt, sag
mir lieber gleich was ich dir schulde."
Beim Salat- oder Gemüserührei essen
wurde es ruhiger, doch danach wurden Adressen ausgetauscht und: "Ja wir
treffen uns", zugerufen und: "Tschüs und Schalom".
Ja, Schalom, Schalom mit dem
Schabbatgottesdienst ...
Ich saß, vom Kabbalat-Schabba-Feiern,
noch ein wenig verschlafen im voll besetzten Großen Saal des Centrum
Judaika.
Scheu bewegt sah ich mich auf der
einstigen Frauenempore um, nahm amüsiert die wenigen Männer unter den über
einhundert Frauen wahr, viele von ihnen mit Kippa und Tallit. Eine
Frauenempore voll Frauen hat auf den ersten Blick nichts Irreguläres. Oder
doch: Eine vollbesetzte Frauenabteilung mit betenden und nicht
gesprächig-schwatzenden jüdischen Frauen, sehr ungewohnt... !
Dem plakativen Vorwurf von orthodoxer
bis konservativer Seite, uns Anhängern und Anhängerinnen des Reformjudentums
ging es überwiegend um Bequemlichkeit, kann ich hier nur mit Kopfschütteln
entgegnen: 'Ich habe in den letzten fünf Jahren in den egalitären
Gottesdiensten und den Schiur-Abenden, besonders wenn ich aktiv beteiligt
war, mehr gelernt und mehr Judentum gelebt, wie in den 50 Jahren auf
der Frauenempore der Frankfurter Westend-Synagoge'.
Fünf Jahre, dazu fällt mir der
Hinweis von Eva Nickel im Plenum zu Beschnittenes und Ernten in Tora und
Talmud ein: Die frisch ge-
pflanzten Bäume genießen vier Jahre
lang besonderen Schutz, denn vier Jahre dürfen sie nicht abgeerntet werden.
Die Früchte es vierten Jahres gelten als dem Ewigen geheiligt und erst nach
fünf Jahren darf der Pflanzer über die Früchte frei verfügen.
Ich weiß den Zusammenhang von Evas
Redebeitrag nicht mehr, nur meine Notiz dazu lautet: 'Vier Jahre haben wir
uns für den egalitären Minjan, in der Frankfurter Einheitsgemeinde,
beständig engagiert. Unsere kleine Gruppe ist in den ersten zwei Jahren
belächelt bis verlacht wurden. Unsere Aktivitäten wurden pingelig beobachtet
und von Jahr zu Jahr wuchs die Akzeptanz. Nach vier Jahren stellte man uns
Gemeinderaum zur Verfügung und nach fünf Jahren hatten wir, zu den Hohen
Feiertagen, einen von der Gemeinde mit finanzierten Rabbiner unter uns.
Folglich saß ich sehr versöhnlich und
erwartungsvoll in dem Schabbatgottesdienst, der abschnittsweise von
verschiedenen Rabbinen, Kantorinnen und Tagungsteilnehmer/innen gestaltet
wurde. Träumte mich ein wenig wehmütig auf die Frauenempore während meiner
Teeniezeit ... bis eine Unruhe mich zurückholte zu Bet Debora. Die Torarolle
wurde nicht durch den Raum getragen, sondern von Person zu Person in den
Reihen weitergereicht...
Wie ein Blitz schoß mir der Gedanke
durch den Kopf: 'Wenn sie fällt?' Und die Geschichte von der Torarolle, die
an Jom Kippur im Jahre 5347 in der Alt-Neu-Synagoge in Prag dem
Gemeindemitglied, welches die Ehre hatte, sie wieder in den Toraschrein
betten zu dürfen, aus den Händen glitt.
Sie fiel mit einem gequälten, langsam
verhallenden, seufzenden Knall zu Boden. Das war ein böses Vorzeichen! Die
Versammelten erstarrten. Schrecken erfaßte jeden in der Synagoge, die Frauen
begannen zu schluchzen. Auch der Hohe Rabbi Löw geriet in höchste
Aufregung... (Aus meinem Buch: Vom Hohen Rabbi Löw und seinem Golem)
Nein, ich will die Torarolle nicht! -
Und schon hatte ich sie im Arm und gab sie behutsam weiter.
Lebhaft stieg Ergriffenheit in mir
hoch, das wohlige Gefühl, als ich ausgelassen meinen 2 Jahre alten Enkel an
Simches Tora singend fast tanzend gleich meiner eigene Torarolle im Umzug
getragen
hatte, überfraute mich.
Gerade wurde die Torarolle
wohlbehalten auf die provisorischen Bima von Bet Debora niedergelegt und ich
war bemüht meine Gefühlswelt zu disziplinieren, da wurden die drei ältesten
unter uns Frauen aufgefordert, ihre erste alija anzunehmen.
Hier standen sie nun, die drei
ehemaligen Berlinerinnen, Hanna, Petach und Shoshanna, heute aus Petach
Tikwa, New York und Tel Aviv angereist, um den Lesepult und bekamen die
berachot
vorgeflüstert. Während eine baálat Kore für sie den ersten
Toraabschnitt lainte, hielten sich die Damen schüchtern an den
Händen.
Für die nächsten zwei Toraabschnitte
wurden Frauen aufgefordert, zur Bima zu kommen, die noch nie eine alija
hatten.
Während ich dachte, so ähnlich müssen
die Massen-Bar- und Bat Mizwah-Feiern der Reformjuden vor der Schoa hier in
Deutschland gewesen sein, stupst mich meine Freundin aus Frankfurt an:
"Jetzt trau dich doch ..."
Nein, ich hatte mich in meiner
Frankfurter Gruppe immer entzogen, einen Toradienst zu übernehmen...
Doch jetzt legte mir eine Frau schon
ihren Tallit um, meinen großen schwarzen Samt-Synagogen-Hut hatte ich auf
dem Kopf und ich ging, wenn auch zögerlich, die fünf Schritte zur Bima. Nach
meinem hebräischen Namen gefragt, mußte ich antworten, daß ich keinen habe.
Meine Mutter hatte es mir so erklärt:
"Nachdem ich den Namen Sara von den Nazis aufgedrückt bekam, sollen meine
Kinder nur einen Rufnamen bekommen."
Bei der Beerdigung meiner Mutter
mußte ich feststellen, daß auch sie, Gertrud, keinen hebräischen Vornamen
hatte. Meine Nachforschung ergab, daß Reformjuden in Deutschland ihren
Kindern keine hebräischen Vornamen gaben, das galt bei jüdischen Eltern bis
1933 als emanzipatorisch.
Ich überraschte mich selber, als ich
die Segenssprüche vor und nach meinem-unsrem Toraabschnitt mitsprechen
konnte, ein Ergebnis der Gottesdienste, die ich dank der Aufhebung des
Frauenbereichs hautnah, beziehungsweise ohrnah erleben durfte.
Wieder an meinem Platz zurück, nehme
ich die Glückwünsche verunsichert entgegen. Was hatte ich denn geleistet?
Das jedes Jahr auf der Frauenempore,
an der Seite meiner Mutter gehörte, wenn auch von mir nicht verstandene, Kol
Nidre - hat verbunden...
Will aber eine Frau, zum Beispiel in
der Frankfurter Westend-Synagoge, die Torarolle auch nur berühren, müßte
'frau' schon von der Frauenempore aus Bungee springen.
Um meine Tochter mit ihren beiden
Töchtern Miriam (18 Monate) und Marlene (7 Wochen) an ihr jüdisches Erbe zu
binden, müssen die alten Traditionen gegenwartsnah lebendig sein, muß auch
die moderne jüdische Frauen positiv ihre Identität im Judentum finden. Ohne
Halacha kein Judentum!
Der Aron HaKodesch bestand aus
Akazienholz innen, außen überzogen mit reinem Gold und rund um den Deckel,
gleich einer Barriere, ein Kranz aus Gold. Die beiden Gesetzestafeln,
demzufolge aufbewahrt in der Lade aus zwei elementaren Charakteren. Gold und
Holz bilden hier eine Synthese. Statisch und beständig, von unwandelbarem
Charakter, das reine Gold. Doch zwischen den starren, schützenden
Goldplatten arbeitet das wertvolle Akazienholz.
Ich glaube Halacha, als Inbegriff
fortdauernder Aktion, hat die Möglichkeit der authentischen Sprache.
Wir sind gefordert uns als Individuum
dem kollektiven Judentum zu stellen.
Wir Frauen, für uns und unsere
Töchter auf der Suche nach mosaischer weiblicher Identität, müssen
enttäuscht feststellen, wie wenig Raum wir in der Tora einnehmen oder wie
wir von der chauvinistischen jüdischen Männerwelt in den Hintergrund
gedrängt wurden und werden. Sind wir verstummt? -
So brechen wir die jüdische
Überlieferung, denn das Hebräische Chawa, der Name des ersten weiblichen
Menschen in der Tora, bedeutet "sprechend Wissen geben".
Und folgt, unserer Mutter der
Menschheit, Chawa nicht Sara, die "geistige Mutter" des jüdischen Volkes?
In der Tora treffen wir freie,
selbstbewußt kreativ handelnde israelitische Frauen und nicht nur in vielen
Midraschim entdecken wir positive Vorbilder für die Frau im Judentum.
Sogar die mannhaften Makkabäer
bezogen für den jüdischen Frei-heitskampf heldenhafte jüdische Frauen als
Leitbilder propagandistisch mit ein. Nach dem Motto: "Männer ihr wollt doch
nicht hinter dem Mut von Frauen zurückstehen", wurde die Geschichte Judiths
während der Makkabäerzeit in Hebräisch aufgeschrieben. Die jüdischen
Heldinnen Judith und Esther werden in der makkabäischen Geschichtsschreibung
als Töchter Deboras beschrieben. Und gehören die Serarim chazonim auch nicht
zur Tora, so haben sie doch ihren Platz in unserer kollektiven jüdischen
Erinnerung.
Zurück zu Bet Debora; im Talmud lesen
wir: Wandere dahin, wo die
Tora heimisch ist, und wähne nicht, daß sie zu dir kommen werde. Nur im
Verkehr mit Lerngenossen(innen) erhältst du dich in ihrem Besitz. Verlaß
dich nicht auf deinen Scharfsinn.
Um zu lernen, sich auszutauschen, um
jüdische gleichgesinnte Frauen - das heißt Suchende zwischen Tradition und
Moderne zu treffen, war ich nach Berlin gekommen.
An Kabbalat Schabbat und beim
Schabbatgottesdienst war ich immer wieder von der mitreißend fröhlichen
singenden (hier bitte ergänze was Du willst) angezogen. Eine Chassidin unter
uns - Frauensolidarität mach sich in mir sentimental breit.
Wie erschrocken war ich, daß genau
sie ihre Traurigkeit formulierte und wie verletzt sie war, weil Ihre
religiösen Lebensnotwendigkeiten von uns immer wieder nicht be- und so nicht
geachtet wurden. Doch dann tobte diese mutige junge Frau nicht Türe hinter
sich zuschlagend aus dem Saal, sondern sie richtete füreinander einstehend
den Appell an uns, beim nächsten Treffen doch besser aufeinander zu
achten, damit sich jede jüdische Frau bei Bet Debora vertreten fühlen kann.
Ja, auf das nächste Treffen von Bet
Debora warte und freue ich mich schon.
Petra Kunik, geboren 1945 in
Magdeburg, lebt als Schriftstellerin in Frankfurt/M. Ihre Familie stammt aus
dem Bezugsdreieck Prag, Wien, Halberstadt. Ihre "Mameloschen" ist Jiddisch,
ihre Kindergartensprache Frankfurter Deutsch. Ausgebildet als Schauspielerin
schrieb sie mehrere Theaterstücke und Bücher für Kinder und Jugendliche,
u.a. "Der geschenkte Großvater" (Jüdische Kindheit im Nachkriegsdeutschland)
1989, "Keine gute Adresse - Judengasse" (Erzählung über 400 Jahre jüdische
Geschichte) 1992, und "Großmutter erzählt vom Hohen Rabbi Löw und seinem
Golem", 1998. Kürzlich erschien von ihr: "Mutige jüdische Frauen gestern und
heute".
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BET-DEBORA JOURNAL]
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