Gottesdienst und
Liturgie
Brauchen wir
Liturgie?
Elisa Klapheck
Während der Tagung wurden zwei
Fragen nicht behandelt. Die eine stand auf dem Programm: "Ist die Synagoge
der Ort der Emanzipation?" Die andere hatte uns Initiatorinnen im Vorfeld
der Tagung beschäftigt: "Brauchen wir Liturgie?"
Manche Fragen lassen sich nicht
sofort beantworten, sie müssen gelebt werden. Ich blicke inzwischen auf
mehrjährige Erfahrungen in bezug auf egalitäre Gottesdienste zurück. Ich
habe mich in einem Minjan in Berlin engagiert, in dem Männer und Frauen
gleichberechtigt sind, mit der Liturgie experimentieren, alternative Brachot
ausprobieren, in denen nicht nur von Gott, König und Vater die Rede ist,
sondern von "ihr", der "Gesegneten" und der "Quelle des Lebens". In diesem
Minjan wurden sogar neue liturgische Abschnitte eingeführt, wie ein
Coming-Out-Gebet für Lesben und Schwule, Gedichte und selbst verfaßte
Gebete. Gemeindepolitisch waren ich und andere Aktivist/innen erfolgreich.
Vor zwei Jahren stimmte die Repräsentantenversammlung - das Parlament der
Jüdischen Gemeinde Berlins - dafür, die "Synagoge Oranienburger Straße" für
"gleichberechtigte Gottesdienste" zur Verfügung zu stellen. Zu den Hohen
Feiertagen kommen inzwischen sogar rund 200 Menschen.
Aber ist diese Art von Religiosität
das, was wir im Herzen anstrebten und wofür wir uns eingesetzt haben?
Genauer: Sind Gottesdienste und Liturgie ein geeigneter Rahmen, in dem wir,
die wir fast alle aus eher nicht-religiösen Familien stammen und uns erst
mit den Jahren den religiösen Aspekten des Judentums zugewandt haben, uns
ausdrücken können? Oder griffen wir auf eine tradierte Form zurück, knüpften
gezwungenermaßen an ihr an, weil wir uns keine andere konkrete Form
vorstellen konnten, in der wir unsere Auffassung vom Jüdischsein
praktizieren können?
Tatsächlich bin ich inzwischen an
bestimmte Grenzen gestoßen und habe in bezug auf die Synagoge gemischte
Gefühle. Ein Großteil meines Elans war zweifellos von der Entdeckerfreude
getragen. Wenn ich ehrlich bin, muß ich jedoch zugeben, daß ich heute oft
keine Lust mehr habe, in die Synagoge zu gehen, daß ich meine Probleme mit
den Gott preisenden Psalmen, Gebeten und Segenssprüchen habe, und daß ich
mich, wenn ich sie spreche, als nicht wirklich authentisch empfinde.
Manchmal ertappe ich mich sogar bei dem Gefühl, etwas zu simulieren, was ich
selbst nicht bin.
Gebete, in denen Gott nicht männlich,
sondern weiblich angesprochen wird, machen es für mich nicht besser - im
Gegenteil. Meine Distanz zum Gebet und meine Forderung nach einem
selbstbestimmten Frau-Sein sind plötzlich miteinander verzwistet. Äußerlich
mache ich mit, innerlich möchte ich abtauchen.
Der intellektuelle Aspekt
Interessanterweise habe ich es jedoch
noch nie bereut, mich doch noch aufgerafft zu haben und in die Synagoge
gegangen zu sein. Es sind vor allem die Tora- und Haftara-Lesung, die mich
jedesmal wieder in den Bann ziehen. Hier lerne ich etwas, hier ist mein
eigener Geist gefordert, hier erlebe ich eine Inspiration, die mich die
kommende Woche beschäftigen wird. Es stört mich überhaupt nicht, wenn in den
biblischen Geschichten andere gesellschaftliche Normen als die meinigen zum
Ausdruck kommen. Ich liebe die Tora, ebenso liebe ich es, für mich Psalmen
aus dem Hebräischen zu übersetzen. Doch das Lesen von Psalmen hat einen
anderen Effekt auf mich als "Lernende" denn als "Betende". Als Lernende
erlebe ich den Psalm als ein von David komponiertes Werk - als das Werk
eines "Anderen", der auf seine Weise zu formulieren versuchte, was ich auf
meine Weise formulieren können möchte. Als Betende hingegen mache ich den
Psalm zu meiner eigenen Sprache. Und hier empfinde ich eine Grenze.
Jisrael
Mein ambivalentes Verhältnis zur
Synagoge und Liturgie beschäftigte mich auch während der Gottesdienste bei
Bet Debora. Manche Momente berührten meinen Zentralnerv. Schon beim ersten
Morgengottesdienst traf mich plötzlich einen Stich, gefolgt von einem Gefühl
des Schmerzes, einer eingekapselten, uneingelösten, sich nunmehr
entzündenden Sehnsucht. Unversehens verlor ich die Kontrolle über mich
selbst, war froh, daß ich meinen Tallit umhatte, mit dem ich mein Gesicht
bedeckte und plötzlich ungebremst in den Stoff hineinweinte. Beim Kabbalat
Schabbat Gottesdienst machte ich die Stelle in der Liturgie aus, die mich so
unverhofft der schmerzvollen Sehnsucht hatte gewahr werden lassen. Es war
der Halbsatz im Kaddisch-Gebet: "Hu ja'asse schalom alenu we'al kol
Jisrael..." - "Jisrael", hämmerte es fortan bei und nach jedem Kaddisch in
meinem Kopf. Ich habe Politische Wissenschaft studiert. Jetzt verbanden sich
in dem Wort "Jisrael" erstmals zwei Welten, die ich nie in Einklang bringen
konnte: die Gesellschaft, mit deren politischen Normen und Idealen ich lebe,
und das "erwählte Volk", das den heiligen Gottesnamen in die Gegenwart
trägt. Alle diese Frauen und Männer, die hier für etwas Eigenes standen,
konstituierten "Jisrael" - ein wieder auferstehendes und selbstbewußtes
"Jisrael" - ein "Jisrael", in dem die Frauen sich selbst definieren, hier in
Berlin, hier in Europa.
Produkt der Moderne
Bevor wir Bet Debora initiierten,
dachte ich wie viele andere auch, daß das liberale Judentum in den USA und
Großbritannien "schon sehr viel weiter" sei, und daß wir, die auf dem
europäischen Kontinent im Zeichen der Schoa kein wirklich lebendiges
Judentums mehr gelernt hatten, im Grunde nur nachholen müßten, was dort
schon längst praktiziert wird. Meine Begegnungen mit den liberalen
Rabbiner/innen aus angelsächsischen Ländern relativierten jedoch diese
Sicht. Gewiß, in puncto kreativer Liturgie und Gottesdienstgestaltung können
wir viel von ihnen lernen. Man sollte sich aber vergegenwärtigen, daß der
Rabbiner als Hauptverantwortlicher des Gottesdienstes überhaupt erst ein
Produkt der Moderne ist - eine Anpassung an die christlichen Konfessionen,
in denen die Geistlichen in erster Linie als Prediger und Seelsorger
fungieren. Vor der Französischen Revolution lag der jüdische Gottesdienst
keineswegs in der Hand des Rabbiners. Hierfür war vielmehr der Chasan
zuständig; für den Rabbiner war es nicht einmal erforderlich, überhaupt zum
Gottesdienst zu kommen. Er war in erster Linie ein Rechts- und
Schriftgelehrter. Erst seitdem das Leben vieler Juden nicht mehr von der
Halacha bestimmt , sind kultische Bereiche wie Gottesdienst, Liturgie und
Rituale so stark ins Zentrum der rabbinischen Aufgaben gerückt.
Rabbinisch gelehrte Frauen
Als wir das Tagungsprogramm
formulierten, zählten wir neben den "Rabbinerinnen" und "Kantorinnen" bewußt
auch die "rabbinisch gelehrten und interessierten" Jüdinnen und Juden auf.
Damit meinten wir orthodoxe Frauen, die nicht Rabbinerin werden können,
ebenso wie Hochschullehrerinnen der Judaistik, aber auch die vielen Frauen
und Männer, die sich in den vergangenen Jahren selbst befähigten und heute
zum Teil rabbinische Funktionen ausüben, auch wenn sie nicht den
Rabbiner-Titel erworben haben. Nach der Tagung hat Bea Wyler uns, den drei
Initiatorinnen, einen zu saloppen Umgang und Respektlosigkeit gegenüber den
Rabbinerinnen vorgeworfen. Ich möchte ihre Kritik nicht zurückweisen,
sondern daraus ableiten, daß es offenbar verschiedene Positionen gibt. Ich
wünsche mir eine Enthierarchisierung des Rabbineramtes und daß wir zu einem
alten jüdischen Prinzip zurückkehren - nämlich zu lernen und diesmal nicht
zu einem "Priestervolk", wohl aber zu einem Volk von Schriftgelehrt/innen
werden und die Lehren in eine Praxis auch jenseits der Synagoge einbringen.
Dies bedeutet, daß Rabbiner/innen in der Zukunft weniger auf dem Gebiet
traditioneller Religionsausübung wirken, als in einer allgemeinen
Öffentlichkeit. Vielleicht ist sogar die einstmals historisch notwendige
Trennung von Politik und Religion auf Dauer nicht fruchtbar. Ich denke
nicht, daß wir unser Judentum im engen Bereich der Religionsausübung
belassen, sondern uns zu allen Fragen des gegenwärtigen Lebens aus einer
jüdischen Perspektive äußern sollten - seien es Abtreibung, Gen-Technologie
oder Bioethik, seien es Sozialpolitik, Zivilgesellschaft, "Gender"-Forschung
oder aber Kriegseinsätze - und damit den Gottesnamen in die aktuelle
Gegenwart hineintragen.
Brauchen wir also Liturgie? Und ist
die Synagoge der Ort, an dem sich ein emanzipativer Geist entfalten kann?
Dies sind gewiß notwendige Ausgangspunkte. Auf Dauer sollten wir uns jedoch
nicht auf sie beschränken.
Elisa Klapheck, geboren 1962 in
Düsseldorf, studierte Politische Wissenschaft und arbeitete als Journalistin
in Berlin. Daneben hat sie teils autodidaktisch, teils mit Hilfe von Lehrern
Tanach und Talmud gelernt. Seit 1998 ist sie Pressesprecherin der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin. Sie hat "Bet Debora" mit begründet und "Fräulein
Rabbiner Jonas - Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" (Teetz, 1999)
veröffentlicht.
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