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Gottesdienst und Liturgie

Während der Tagung gab es vier Gottesdienste, jeweils von mehreren Rabbinerinnen und Vorbeterinnen geleitet:

  • Schacharit-Gottesdienst mit Katalin Kelemen (Budapest) und Katka Novotna (Prag);
  • Kabbalat Schabbat mit Nelly Kogan (Minsk) und Pamela Rothmann-Sawyer (Alameda);
  • Schabbat "British Style" mit Sylvia Rothschild (Orpington), Sybil Sheridan (London), Elizabeth Tikvah Sarah (London) und Daniela Thau (Bedford);
  • sowie einen Rosch-Chodesch-Gottesdient mit Bea Wyler (Oldenburg) und Jane Kanarek (Moskau).

Von den Gottesdiensten waren die meisten Teilnehmerinnen tief bewegt, manche hatten jedoch auch gemischte Gefühle dabei.

 

Religiosität und Spiritualität von Frauen – Gefühle und Gedanken nach Bet Debora

Dr. Rachel Herweg

Mein Herz jubelt im Ewigen, erhöht ist mein Horn im Ewigen, geweitet mein Mund über meine Feinde, denn ich freue mich an Deiner Hilfe. Keiner ist heilig wie der Ewige, ja keiner außer Dir, es gibt keinen Fels wie unseren Gott (I Schemuel 2,1f). 

– Mit diesen Worten beginnt Channah ihr kraftvolles, selbstbewußtes Danklied, das wir Rosch ha-Schana als Haftara lesen. Channah ist das Vorbild der Beterinnen. Sie betet laut und froh, ihr ganzes Glück herausschmetternd – und sie betet, wie wir vorher erfahren können, leise, still und unter Tränen: 

Channah, die redete zu ihrem Herzen, nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme aber wurde nicht gehört (I Schemuel 1,13).

Beten Frauen anders als Männer? – Traditionell sind jüdische Frauen, anders als Männer, nicht dazu verpflichtet, zu festgelegten Zeiten festgelegte Gebetstexte zu sprechen. Wir haben vielmehr die große Freiheit, immer dann zu beten, wenn wir das Bedürfnis danach empfinden und zwar auf eine Art und Weise und mit den Worten, die unserer jeweiligen inneren Verfassung entsprechen.

Viele Teilnehmerinnnen von Bet Debora haben gesagt, daß für sie die gemeinsamen Gottesdienste – insbesondere der Gottesdienst am Schabbatmorgen - eine völlig neue Erfahrung waren. Ein eigener Geist, eine besondere Spiritualität und Atmosphäre hätten geherrscht, Gefühle von Heimat und Aufgehobensein, von Nähe und Verbundenheit seien spürbar gewesen. Manche fühlten sich innerlich "aufgelöst", andere euphorisch, einige haben geweint, andere sich spontan umarmt, getanzt; wieder andere waren verwirrt, und es gab auch Beterinnen, die sich unbehaglich, "am falschen Platz", in ihren religiösen Bedürfnissen mißachtet und "ent-grenzt" gefühlt haben. Ohne Zweifel haben die Gottesdienste emotional berührt und "etwas" in Bewegung gesetzt – auch in mir!

Diesem "etwas" - das bei mir ein starkes Gefühl von Sehnsucht ist - möchte ich weiter nachspüren, dranbleiben und "es" weiter in mir/für mich und mit anderen/für uns ent-wickeln. Ich möchte herausfinden, wonach ich mich sehne, wohin es mich treibt, was meine inneren, ehrlichen religiösen und spirituellen Bedürfnisse jenseits von gelernten und ansozialisierten Vorstellungen und Bildern sind.

Mehr Klarheit über uns selbst und unsere Gedanken gewinnen wir in Auseinandersetzung mit anderen – durch Zu- und Hinhören. Jacqueline Rothschild, Lilith Schlesinger und Jaakov Ben-Chanan, die alle in Berlin leben und mir zunehmend "ans Herz wachsen", waren spontan bereit, ihre persönlichen Gedanken und Empfindungen über die (Frauen-)Gottesdienste bei Bet Debora und darüber hinaus über weibliche Spiritualität im Judentum für unsere Publikation zu Papier zu bringen.

Mit Jacqueline und Lilith habe ich Gespräche geführt, die wir auszugsweise veröffentlichen; Jaakov hat seine Gedanken direkt aufgeschrieben. – Ich danke euch dreien sehr für eure offenen Beiträge!

 

Ein Gespräch mit Jacqueline Rothschild 
über Frauengebet und Halacha

Jacqueline, 1952 in einer holländischen Kleinstadt geboren. Filmcutterin, Geburtsberaterin mit über 10jähriger Praxis in Gruppenarbeit und Rebbetzin.

Jacqueline hat in ihrem Wohnzimmer ein Foto von Bet Debora aufgestellt, aufgenommen beim Gottesdienst am ersten (Donnerstag-)Morgen der Konferenz. Es zeigt sie selbst und zwei Rabbinerinnen, ihre Schwägerin Sylvia Rothschild und Sybil Sheridan, nebeneinander stehend ins Gebet versunken.

Rachel: Was bedeutet Dir dieses Bild - heute, hier und jetzt - im Rückblick? Welche Gedanken kommen Dir dazu?

Jacqueline: Es war wunderbar, vielen alten Freundinnen wiederzubegegnen. Zum Teil waren Frauen da, die ich drei Jahre nicht gesehen habe. Die gemeinsamen Gottesdienste haben mich persönlich emotional am meisten berührt. Sie alle hatten eine besondere Spiritualität – und zwar dadurch, daß eigentlich nur Frauen beteiligt waren.

Rachel: Was ist das Besondere für Dich, wenn Frauen gemeinsam beten?

Jacqueline: Das ist schwer zu beschreiben.

Rachel: Geht es um Vertrautheit?

Jacqueline: Nicht um Vertrautheit mit den Gebeten, denn viele Frauen sind ja gar nicht vertraut mit den Gebeten. Sie fühlen sich aber mit Frauen vertrauter, sicherer, weil sie nicht vorgeben müssen, mehr zu wissen, als sie wissen... Ich denke, es hat auch damit zu tun, daß das tägliche Gebet keine Pflicht und Routine für Frauen ist, daß es eben weitergeht als Pflicht und darum mit mehr Ruach passiert – mehr von Innen kommt, vom Herzen. Wenn Frauen zusammen beten, spüre ich mehr Verbundenheit untereineinander und auch mit Gott.

Rachel: Der gemeinsame Geist, von dem Du gerade gesprochen hast und der entsteht, wenn wir außerhalb der Pflicht beten, ist genau das, was mich beim Betrachten des Fotos so berührt: Wir beten freiwillig, aus einem seelischen Bedürfnis heraus und folgen dabei ganz unseren Empfindungen. Wir sind in Kontakt mit unseren Gefühlen und über sie verbunden mit den anderen Beterinnen. Ihr drei auf dem Foto seid Frauen, die religiös Praktizieren und unsere Gebete sehr gut kennen. Und ihr betet freiwillig, tut mehr als die Pflicht verlangt – und spürbar ist ein "mehr" an Spiritualität...

Jacqueline: Ja, genau, und andere Frauen kann das anstecken! Ich habe deutlich gespürt, daß es für viele Teilnehmerinnen das erste Mal war, in einer so großen Gruppe von Frauen zu beten - geborgen zu sein - aufgehoben zu sein... Und ich selbst habe es genossen, nur eine Beterin, eine ganz normale Beterin zu sein und nicht verantwortlich, nicht gefragt und gefordert als Rebbetzin - privat, bei mir und umgeben von mir vertrauten Menschen! - An jenem Gottesdienst, unserem ersten gemeinsamen Treffen nach der Eröffnung von Bet Debora, waren wir noch keine Gemeinschaft. Das Gemeinschaftsgefühl ist dann sehr gewachsen - gerade durch die gemeinsamen Gottesdienste und das gemeinsame Essen - eben eine jüdische Konferenz!... Übrigens habe ich diesen ersten Gottesdienst eigentlich mehr gemocht, als den großen Schabbatmorgengottesdienst. Den fand ich vielleicht zu kompliziert, zu viele Leute und dadurch für mich zu chaotisch. Für viele Beteiligte gab es zu viel Neues, zu viel Experimentelles – obwohl ich die Grundlage für diesen Gottesdienst am besten fand, weil sie mir am besten vertraut ist (= der englische Reformgottesdienst).

Rachel: Du hast gesagt, es war spürbar, daß es für viele Frauen das erste spirituelle Erlebnis dieser Art gewesen ist. Was genau hast Du da gespürt?

Jacqueline: Zunächst einmal ist ein egalitärer Gottesdienst oder überhaupt ein Gottesdienst, den Frauen mitgestalten, natürlich ganz selten in Deutschland – auch in Berlin. Und dann ist es völlig neu und ungewohnt, an einem Wochentag, wo sowieso nur wenig Frauen beten, einen gemeinsamen Gottesdienst mit Toralesung zu haben. Und dieses besondere Erlebnis löst dann Gefühle aus. Ich denke auch, da waren Gefühle von Panik bei einzelnen Frauen: "Wo bin ich jetzt?, Ist das überhaupt erlaubt?" und vielleicht auch: "Was würde der oder die jetzt wohl über mich denken?", aber weil sich viele andere Frauen so benommen haben, als sei es die normalste Sache der Welt, hat es dieses Gefühl beruhigt...

Und dann hatte ich die ganze Woche auch das Gefühl, an einem besonderen Ort zu sein, einem historischen Ort, wo trotz Zerstörung und langem Brachliegen noch ein kleiner Funke da war, der es vermocht hat, die ganze Atmosphäre zu erwärmen und uns zu inspirieren...

Ich erinnere mich genau an meine Gedanken: Wie schön, daß es auch in Berlin sein kann! Frauen mit Tallit – da sind wir wieder bei dem Foto - die öffentlich beten, mitten in der Woche – bei sich und für sich allein und mit anderen verbunden. Dafür empfinde ich Dankbarkeit! Weißt Du, mein Rabbiner hat mich damals, bevor wir nach Deutschland kamen, gefragt, wie kommt es, daß Du nach Berlin gehst, glaubst Du wirklich, daß Du da auch so - im Tallit - beten kannst? Und es ist einfach schön, das es so ist, daß es hier in Berlin möglich ist, sich zu entscheiden, wo wir am liebsten beten wollen. Das ist für mich das Wichtigste von einer Einheitsgemeinde – die Entscheidungsfreiheit zu haben....

Rachel: Das Gebet im Tallit bedeutet Dir persönlich sehr viel?

Jacqueline: Ja, aber ich weiß auch, daß ich in meiner Position als Rebbetzin hier in Berlin Kompromisse machen muß.

Rachel: Viele Frauen fragen sich, ob wir "männliche Symbole" brauchen und betrachten den Tallit als typisch männliche Bekleidung. Wie siehst du das?

Jacqueline: Ich denke, daß ein Tallit per se keine männliche Bekleidung ist, aber als ich mir selbst einen Tallit ausgewählt habe, wollte ich keinen weißen mit schwarzen Streifen und habe mich für einen weißen mit weißen Streifen entschieden, weil ich das weiblicher fand. Es gibt auch viele bunte, seidene, gemalte Tallitot, aber ich wollte auch einen klassischen, traditionellen Tallit haben und nicht ein Kunstwerk. Das lenkt mich zu sehr ab.

Rachel: Wovon?

Jacqueline: Von den Funktionen, die ein Tallit hat. Nämlich: Konzentration auf die Mizwot, freigesetzte Zeit – eine Auszeit. Und nicht: "Seht her, ich trage einen Tallit, ich bin emanzipiert!", so wie ich das in England häufig gespürt habe. Einfach so etwas Schlichtes und Praktisches. Das ist eigentlich alles.

Rachel: Mir gibt mein Tallit ein Gefühl von Geborgenheit, auch von Abgrenzung: in den Tallit gehüllt, bin ich bei mir und mit mir...

Jaqueline: Geborgenheit empfinde ich da überhaupt nicht, denn gerade als Frau, die einen Tallit trägt, fühle ich mich oft auf dem Präsentierteller, angestarrt, und das ist das Gegenteil von Geborgenheit... Bei Bet Debora war das anders. Da waren Erfahrungen möglich - ohne daß diese bewertet werden sollten! - In ganz Europa scheint unter jüdischen Frauen ein großes Bedürfnis zu bestehen, sich zu treffen und eigene Ausdrucksformen innerhalb und außerhalb der Tradition zu finden und weiterzugestalten – das war ja auch unser Ausgangspunkt bei der Planung des Rosch-Chodesch-Workshops...

Rachel/Jacqueline: Fassen wir doch einfach einmal zusammen, was uns damals durch den Kopf gegangen ist und wo wir heute stehen: Frauen bringen zur Zeit mit großem Nachdruck ihre religiösen und spirituellen Bedürfnisse an die Oberfläche. Von ihnen scheint eine größere Kraft auszugehen und ein größerer Wille zu Fort- und Neugestaltung als von Männern. Wir glauben, daß wir Frauen gerade dabei sind, Männer in ihrer traditionellen Rolle abzulösen. Dabei haben wir die Chance, nicht auf Halacha oder Minhag ha-Makom dringen zu müssen - respektive uns dahinter zu verstecken - sondern nach eigenen, unverstellten Ausdrucksformen zu suchen. Halacha ist ein sehr männliches Prinzip, weil Männer auch die Pflicht haben, es zu erfüllen; Frauen waren und sind hingegen oft gezwungen, Wege jenseits der Halacha zu finden, um zu ihren Zielen zu gelangen. Männer haben in der jüdischen Praxis ihr vorgeschriebenes Ziel und ihren vorgeschriebenen Weg. Frauen haben beides nicht und müssen darum Ziel und Weg gleichsam neu erfinden. Das gibt uns die Freiheit für undogmatische Wege und für Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis – aber auch die schwierige (vielleicht oft traumatische) Aufgabe, selbst ein Ziel zu formulieren und den Weg dorthin zu gestalten. Wir suchen Gott und Spirit jenseits der Halacha. Wir fragen, worum es wirklich geht: Geht es um Halacha oder um Gott? Geht es um Form oder Geist?!

Auch viele jüdische Männer lösen sich gegenwärtig von der Bindung durch Halacha – befreien sich, streben aber – so sehen wir das - (noch) nicht so offensiv wie wir nach neuen Wegen und Formen. Vielleicht brauchen sie eine Zwischenzeit, ein Aufatmen.

Neuer spiritueller Geist geht deshalb von Frauen aus, weil es uns nach Jahren, in denen Männer mit ihrer Praxis das öffentliche, synagogale religiöse Leben geprägt haben (und davon jetzt vielleicht auch müde oder an ihre Grenzen gelangt sind), nun möglich ist, selbst Raum einzunehmen. Wir gestalten in ein gewisses Vakuum hinein, denn beide, Männer wie Frauen haben in unserer modernen Welt durch Assimilation, durch technologischen und medizinischen Fortschritt ihre traditionellen Rollen verloren. Haben wir Mut, die Leere zu empfinden und verlassen wir uns auf unsere Intuition, sie auszufüllen!

 

Ein Gespräch mit Lilith Schlesinger über Wunsch - Traum und Intuition

Lilith, geb. 1927 in Wien; 1938 Emigration nach Belgien. 1942 geht sie in die Illegalität und überlebt, alleine auf sich gestellt, in den Ardennen. 1945 Alija; in Israel Militärzeit, Kibbuz und Geburt zwei ihrer drei Söhne. Seit 1958 lebt sie in Berlin und praktiziert heute als körperorientierte Gestalttherapeutin.

Lilith war unsere erste Anmelderin für Bet Debora. Sie hat mir früher einmal erzählt, daß sie der tiefen Überzeugung sei, jüdisches Leben in Deutschland habe keine Zukunft. Für sie als Jüdin mit spirituellen Bedürfnissen ginge es hier vor allem darum, seelisch zu überleben, gleichsam geborgen und gut aufgehoben inmitten eines Kreises jüdischer Freunde und Bekannter, mit denen sie sich wohl fühlt und wo es gegenseitiges Vertrauen gibt. Mich, die 30 Jahre jüngere, hat das traurig und auch ein wenig mutlos gemacht, spüre ich doch in meiner Lebensmitte und nach jahrelangem Engagement als bewußt deutsche Jüdin (und nicht Jüdin in Deutschland) mitunter selbst deutlich Verschleiß und erfahre Grenzen jüdisch Leb-, Vermittel- und auch Entwickelbarem in diesem Land. Ich möchte von Lilith hören, wie sie Bet Debora erlebt hat, und ob sie einen Sinn darin sieht, hier weiterzuarbeiten...

Lilith: Bet Debora überstieg alle meine Hoffnungen. Ich erkannte plötzlich: Hier wird das gelebt, was ich mir so lange wünsche! Ich war hell begeistert: Ich muß nicht nach Toronto und nicht nach Jerusalem – hier können wir es realisieren! Und noch einmal in meinem Leben hatte ich das Gefühl: "Wenn ihr wollt, ist es kein Traum!"

Rachel: Bitte erzähle mir mehr davon. Wann hattest Du dieses Gefühl schon einmal, und was passierte damals?

Lilith: Nach der Schoa habe ich zusammen mit anderen jungen Leuten jüdische Kinder aus Verstecken und Klöstern geholt. Es brach mir immer wieder das Herz zu hören: "Morgen kommt meine Mama und holt mich ab..." Als dann der Sender Kol Zion la-Gola verkündete: Kommt junge Juden aus aller Welt!, wurde ich innerhalb von Minuten Zionistin. Ich wollte den Umgang mit der Waffe lernen, um nie mehr hilflos ausgeliefert zu sein. Und so kam ich am 6. Oktober 1948 mit dem letzten illegalen Schiff aus Frankreich in Palästina an...

Was ich Dir damit sagen will: Ich hörte auf meine innere Stimme, hatte eine Intuition und habe danach gehandelt – "wenn Du willst, ist es kein Traum", das heißt: Wenn ich etwas will, liegt es auch an mir, etwas dafür zu tun. Dabei folge ich meinem Gefühl. Das habe ich bereits getan, als ich mich ab 1942 alleine durchbeißen mußte: Ich habe mich im Wald versteckt mit viel Angst und Verzweiflung, mit Kälte und Hunger – bis ich beschloß, mich zu stellen, weil ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Ich wollte in ein Lager mit anderen jüdischen Mädchen, landete jedoch zu meinem Glück, nachdem ich leisen Stimmen im Wald gefolgt war, bei Leuten von der Résistance. Viel später, als der Rückzug der Wehrmacht begann, gelang es mir sogar, einen deutschen Offizier davon zu überzeugen, eine Brücke nicht zu sprengen und sich den Amerikanern zu stellen. Das war damals meine erste therapeutische Intervention. Gefühlsmäßig hatte ich erfaßt, wie ich mit ihm reden mußte...

Rachel: Und wie war das bei Bet Debora? Plötzlich hattest Du die Intuition, daß hier "etwas" real möglich ist und Du "danach" nicht mehr in Toronto oder Jerusalem suchen müßtest?

Lilith: Genau. Seit mein jüngster Sohn in Toronto lebt, bin ich zweimal im Jahr dort gewesen und in Kontakt mit progressivem Judentum gekommen. Ich habe Reformsynagogen besucht, und besonders hat mich die feministische Bewegung angesprochen. In Jerusalem lernte ich dann die Gemeinde Kol ha-Neschama kennen, wo sich Neo-Chassidismus mit dem Gedanken des progressiven Judentums paart. In dieser Gemeinde, die ihre Gottesdienste selbst strukturiert und durchführt, habe ich mit 70 Jahren meine erste Alija le-Tora erhalten. Damals hatte sich in mir schon längst der Wunsch geformt, doch auch so einer Gemeinde in Berlin anzugehören!

Rachel: Und was hast Du unternommen, um diesen Wunsch zu verwirklichen?

Lilith: Ich begann ernsthaft zu lernen, inspiriert auch durch Bea Wyler, die uns während der zwölf Monate, als sie vor ihrer Ordination in Berlin war, wichtige Impulse gegeben hat. Ich habe da zum ersten Mal verstanden, das ich den tiefen Wunsch in mir trage, im Judentum nicht nur das Patriarchat zu sehen, wie ich es als Kind innerhalb einer orthodoxen Gemeinde in Wien erfahren hatte. Plötzlich begriff ich, daß ich Anteil habe an Rechten und Pflichten – ich gehöre dazu!

Bei Bet Debora habe ich viele Frauen kennengelernt, die das, was mir lange wie eine Fata Morgana erschienen war, in Europa bereits realisierten. Ich habe die diversen Gottesdienste miterlebt, die da gestaltet wurden, ihre Berichte über ihre Gemeinden und über die Art und Weise, wie nicht nur Gottesdienste, sondern auch Lernen für Frauen gehandhabt wird. Ich habe etliche Kontakte zu Frauen machen können, denen die gleichen Dinge wie mir wichtig geworden sind...

Rachel: ... auch beim Lernen und in Gottesdiensten Deiner eigenen inneren Stimme und Intuition zu folgen und nicht an überkommenen Bildern und Vorstellungen und Vorschriften zu kleben?

Lilith: Ja. Lernen aus dem Bauch und Religion aus dem Herzen. Für mich als Frau ist Lernen nur denkbar und möglich, wenn es über das Emotionale geht. Nur dann verankert es sich. Das ist meine Erfahrung. Ich bringe meine ureigenen Gefühle ein und integriere sie ins Lernen. Deshalb finde ich es auch so wichtig, daß Frauen mit Frauen lernen und Frauen Frauen unterrichten. Unser besonderer Zugang zum Lernen und Gestalten ist unsere Intuition! Und das war bei Bet Debora so deutlich spürbar. Da war eine große Aufbruchstimmung, der Wille zu neuer Gestaltung – und das hat mir selbst wieder neuen Antrieb gegeben...

Rachel: ...und das Gefühl: "Wenn ihr wollt, wenn du willst, ist es kein Traum!"

Lilith: Ja, hier schließt sich der Kreis. Heute, nach Bet Debora, sehe ich mehr denn je die Möglichkeit, progressives Judentum auch in Berlin leben zu können. Und das heißt, mich mit dem einzubringen, was ich als Frau bin. Als Lernende kann ich wieder auf einer aktiven Ebene an meine Ursprungsreligion anknüpfen und dabei entdecken, daß es viele Wege zu Gott gibt – aber eben nur einen Gott. Und diesen einen Gott kann ich suchen und ihm dienen, mit dem, was ich selbst einbringen kann. – Das hat mir Leben in Berlin wieder schmackhaft gemacht und den Ort, an dem ich seit 40 Jahren nolens volens lebe, sinnvoll. Denn lange dachte ich, daß wir als Juden, so wie unsere spanischen Glaubensgenossen, die nicht zu Marrannen werden wollten, den Cherem – Bann – gegenüber Deutschland aussprechen sollten. Für die Erkenntnis, jetzt hier wieder leben zu können, bin ich zutiefst dankbar und wünsche mir – ich hoffe – auf Wiederholung!

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