hagalil.com - bet-debora.de

http://www.hagalil.com
Debora in Osteuropa

Ruth Fruchtman

Der freiwillige Jude und die marginale Jüdin: die Juden des ausgehenden Jahrhunderts, auf der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Der Jude, der sich freiwillig entscheiden kann, wie er sein Judentum gestaltet, ob er es überhaupt annimmt; die marginale Jüdin und Außenseiterin, die einen eigenen Weg sucht und die Konsequenzen ihres Alleingangs auf sich nimmt. Wie freiwillig und marginal sind die Jüdinnen und Juden Osteuropas? 

Rabbinerin Katalin Kelemen aus Budapest erzählte den folgenden Witz: "Mr. Kohn, aus Tel Aviv, kommt in Budapest am Westbahnhof an. Er ist auf der Suche nach Budapester Juden, wo sind sie alle? Auf der Straße spricht er jemanden an, fragt ihn, ob er welche kenne. Ja, antwortet der Mann, sehen Sie dieses Gebäude hier, gleich nebenan? Also, im dritten Stock wohnt Herr Kovaćs (Kovaćs ist wie Kohn auf ungarisch). Ach, wunderbar! sagt Mr. Kohn enthusiastisch, ich will ihn sofort besuchen. Ja, gern, aber passen Sie bloß bitte auf, wenn Sie mit ihm sprechen. Sie müssen sehr vorsichtig sein. Wir wissen nämlich, daß er Jude ist. Aber er selbst, er weiß es nicht." Und so geht es uns auch, erzählt Katalin Kelemen, das ist unsere Geschichte und meine Geschichte, die Geschichte unserer jüdischen Identität und die Geschichte einer ganzen Generation.

Es ist auch die Geschichte ganz Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Shoa und den vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft, ob in Rußland, Tschechen, Polen oder Ungarn. Katalin Kelemen, Tochter einer assimilierten jüdischen kommunistischen Familie, fand erst durch ihre Begegnung mit Mitgliedern der Englischen Reformbewegung, Ende der 80er Jahre, den Zugang zum religiösen Judentum. Zum ersten Mal wurden sie und ihre Freunde als Juden wahrgenommen, die echte spirituelle Bedürfnisse hatten und auch das Recht, als Juden anerkannt zu werden. Sie schätzten die Toleranz und Offenheit, die die Mitglieder der Reformbewegung ihnen entgegenbrachten. So etwas ist uns aus orthodoxen Kreisen in Ungarn noch nie begegnet, selbst bis heute nicht, sagte sie. In einer bewegenden Predigt erzählte sie von ihrem Weg zum Judentum: vom mühsamen Erlernen des Hebräischen, von ihrer Unsicherheit, der ersten Schritte, und zuletzt von ihrer Berufung als Rabbinerin. Ihre Progressive Reformgemeinde Sim Shalom (Schenk‘ uns Frieden) wurde 1992 in Budapest ins Leben gerufen. Sie haben sich den Namen ausgesucht, aus dem Bedürfnis heraus zur Ruhe zu kommen: "Nach dem Trauma, der Verwirrung einer Identitätssuche, unserer fehlenden jüdischen Identität wollten wir ein wenig Ruhe genießen. Nach den umwälzenden Ereignissen 1989 wollten wir mit der Außenwelt und mit anderen ungarischen jüdischen Gruppen in Frieden leben. Wir wollten Frieden machen, auch mit uns selbst." Die intellektuelle Verbindung zum Judentum - das Studium von Talmud und Tora - war für die Mitglieder kein Problem. Viel schwerer war der Zugang zum Gebet und zur Liturgie, zur Sprache der Gebete, der Bruch mit der kommunistisch geprägten Erziehung, durch die der Gottesdienst tabuisiert wurde. "Wir suchen lebendige Rituale, die für uns eine Bedeutung haben, innerhalb der traditionellen jüdischen Rituale." Rabbinerin Kelemen erzählte die Geschichte eines Mannes, der nach vierzig Jahren für seine verstorbene Mutter endlich Kaddisch sprechen wollte; mit den Mitgliedern von Sim Shalom zusammen gelang es ihm zum ersten Mal in der Synagoge zu beten.

Für viele osteuropäische Juden ist das Judentum eine Entdeckungsreise, sagte Jane Kanarek, die als Rabbinerin und Dozentin im Rahmen des Projektes Judaicum ein Jahr an der Universität Moskau verbrachte. Jewish journeys – jüdische Reisen: die Ankunft, die Dauer und Intensität des Aufenthaltes sind unsicher. "Es gibt viel Extremismus", erzählte sie, "besonders in Moskau. Moskau gehörte nicht zum früheren jüdischen Ansiedlungsrayon und hat deshalb keine eigene jüdische Kulturgeschichte, im Gegensatz zu den anderen Gegenden Osteuropas und der früheren Sowjetunion. Eine jüdische Kulturtradition existiert in Moskau nicht, und daher halten die Leute sich an ganz extremen jüdischen Formen und Ritualen fest; sie glauben, sie seien authentisch, weil sie in ihren eigenen Familien keine jüdischen Traditionen haben, nach denen sie sich sonst orientieren können." Selbst in einem akademischen Zusammenhang gelingt es Jane Kanarek, ein lebendiges Judentum zu vermitteln: "Ich unterrichte jüdische und nicht-jüdische Studenten. Ich gebe Kurse in Biblischer Literatur, eine Einführung zum Judentum, eine Einführung in die Halacha und in den Midrasch. Vieles findet im Seminarraum statt; sie studieren mit einer akademischen Strenge, aber sie lernen das Judentum auch als eine lebendige Tradition kennen. Sie wissen, daß ich Rabbinerin bin, daß ich diese Traditionen aufrechterhalte und ein jüdisches Leben führe. Ich lade sie alle zum Schabbatessen ein, wir feiern gemeinsam Purim und Chanukka, diese Woche ist Schawuot, und ich will mit ihnen zusammen den Tikkun Schawuot begehen: wir werden die ganze Nacht aufbleiben und studieren, aber dieses Mal werden sie die Lehrer sein und über die Themen ihrer Jahresarbeit referieren."

Die führenden Persönlichkeiten in den neuen Gemeinden und Gottesdienstgruppen sind Frauen. In Minsk waren am Anfang bis zu 90 Prozent der Mitglieder Frauen, jetzt sind sie um die 60 und die Männer um die 40 Prozent. Einer der Grundsätze unserer Arbeit beruht auf dem Prinzip der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, sagt Nelly Kogan, beim Gottesdienst wie bei allen unseren Aktivitäten sonst. Auch in Budapest seien Frauen in der Mehrheit, bestätigt Katalin Kelemen. Die Männer sind relativ emanzipiert und aufgeschlossen, aber es gibt Rivalitäten.

Und in Polen? Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich in Kraków mit dem dortigen, noch jungen Rabbiner. Ich erzählte ihm vom egalitären Gottesdienst in Berlin: er hörte mir höflich zu, als würde ich eine völlig unverständliche, exotische Sprache sprechen und sei außerdem leicht verrückt. Dann schenkte er mir ein geduldiges Lächeln. Die Gemeinde in Warschau ist orthodox aber demokratisch, sagt Agnieszka Ziątek, die an der Tagung teilnahm. Der neue Rabbiner ist ein junger Mann, aber Gemeindevorsitzende ist jetzt Helena Datner. Sie ist fortschrittlich und versucht sich durchzusetzen. In Polen sind alle Juden heute freiwillige Juden, sagt Agnieszka. Andere könne sie sich gar nicht vorstellen. Agnieszka Ziątek erfuhr mit fünfzehn, daß sie Jüdin war. Für viele polnische Juden aus der Generation ihrer Eltern, die sich 1968 entschieden hatten, in Polen zu bleiben, stellte sich bereits damals die Frage nach einer jüdischen Identität, für andere wiederum erst zehn Jahre später. Schon vor der Maueröffnung gab es während der achtziger Jahre eine bewußte Pflege jüdischer Bräuche, eine "jüdische Renaissance". Über die Ansichten jüdischer Frauen heute in Warschau berichtete Katarzyna Jutkiewicz in der Zeitschrift Midrasz *: Oben in der Galerie bleiben, oder die Mechitza (den trennenden Vorhang) unten aufhängen? Die Einstellung von vielen Frauen scheint noch allzu klassisch traditionell: frau soll ihre Kreativität in der Familie walten lassen und in den sozialen Bereichen, die ihr schon längst zugesprochen worden sind. Agnieszka Ziątek plädiert allerdings für die Teilnahme orthodoxer jüdischer Frauen an Bet Debora, befürchtet ihre Ausgrenzung: "Gerade die Unterschiede zwischen Juden sind unsere Stärke", betont sie, "alle Frauen können gemeinsam etwas Neues und Gutes schaffen. In jedem Land gibt es offene, aufgeschlossene Menschen, selbst unter den chassidisch orientierten." Eine aggressive Frauenpolitik befürwortet sie nicht: Frauen sollen beim Beten lieber eine eigene Gruppe bilden als mit den Männern zusammen sitzen und mit ihnen aufgerufen werden. Sie teilt auch nicht die Meinung, wie zum Beispiel von Elizabeth Tikwah Sarah vertreten, daß die Tora vielleicht geändert worden sei, daß man aus böser, frauenfeindlicher Absicht etwas weggelassen hätte. Sie ist überzeugt, daß die Schriften dreitausend Jahre lang wahrheitsgetreu abgeschrieben und weitergegeben worden sind. Warum sollte man sie ändern? Diese klugen Frauen, schimpft sie. Die Namen der Mütter – Sara, Lea, Riwka und Rachel - will sie zusammen mit Abraham, Isaak und Jakob nicht aussprechen. Die alten Schriften sind heilig und haben sich dreitausend Jahre lang gut gehalten. Möge sie recht haben, wer weiß es? Die Feststellung vor Kabbalat Schabbat, daß nicht jede Frau bei der Konferenz ihre eigenen Schabbatkerzen anzünden darf, - hauptsächlich wegen Feuergefahr – rührt sie vor Enttäuschung und Wut beinahe zu Tränen.

Für die meisten Osteuropäerinnen bleibt die Halacha unantastbar. Das osteuropäische Reformjudentum richtet sich vor allem nach Israel und Europa und nicht nach den experimentierfreudigen Vereinigten Staaten, wo Kinder jüdischer Väter auch ohne Übertritt als Juden akzeptiert werden. In Minsk kann man mit einem jüdischen Vater vollberechtigtes Mitglied der Gemeinde werden, aber nur halachisch jüdische Paare werden unter der chupa getraut. Auch auf Kaschrut wird streng geachtet: mißtrauisch beäugt Agnieszka Ziątek die Bio-Margarine auf meinem Frühstückstisch. Ich bekomme schlechtes Gewissen, obwohl ich weiß, daß sie in Ordnung ist. (Weiß ich’s wirklich?) Und wie werden die Pfannkuchen hier gemacht? fragt sie. In Polen werden sie immer in Fett gebacken. In Öl, schwöre ich, und hoffe, daß es stimmt. (Soll ich mich in Detlevs Fruchtquelle, wo ich sie gekauft habe, hier um die Ecke, doch nicht erkundigen? Lieber nicht. Oder erst nach der Tagung.)

Tabu bleibt eben Tabu. Anders als in Wien, die Brücke zwischen Ost und West: für die energische, in Israel geborene Hadass Golandsky, Leiterin der Chadasch-Gemeinde, auch 1992 ins Leben gerufen, existieren Tabus, um vor allem angetastet zu werden. Kindermißbrauch gibt es in "netten jüdischen Familien" angeblich nicht, die Brit Mila betrachtet sie ebenfalls als einen Angriff auf die Person. "Das hat Aufruhr bei Chadasch verursacht und auch hier wird es Aufruhr geben, weil ich behaupte, daß die Beschneidung der erste sexuelle Mißbrauch ist. Wir haben vorhin in der Diskussion darüber gesprochen: wir sind nicht das auserwählte Volk, wir sind freiwillige Juden, und meine Frage ist, als Frauen können wir das leicht sagen, aber kann ein Mann wirklich behaupten, er sei freiwillig beschnitten worden? Das glaube ich kaum." Beide Themen sind heiße Eisen, die tatsächlich auf der Tagung wenig Zuspruch fanden.

Nichtsdestotrotz, ostjüdische Frauen sind genauso marginal und individuell wie ihre westlichen Partnerinnen. Bist du von mir sehr enttäuscht? fragt Agnieszka Ziątek, als wir nach der Tagung am Sonntagabend zum Bahnhof laufen. Wir tragen ihre Reisetasche: darin liegen einige Bücher, die sie bei mir zu Hause gefunden hat, über Kabbala-Praxis für den Alltag. Wieso? frage ich erstaunt. Weil ich nicht die Revolutionärin bin, die du dir vielleicht erhofft hast. Ich lache. Osteuropa ist im Umbruch.

*Midrasz 7-8, Warschau, Juli-September 1997

Ruth Fruchtman: Schriftstellerin, in London geboren. Seit 1976 in der Bundesrepublik Deutschland und seit 1986 in Berlin. Förderstipendien des Berliner Senators für Kulturelle Angelegenheiten. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien (Litfaß, Neue Sirene, WIR, ndl neue deutsche literatur). Zahlreiche Beiträge und Features für den Rundfunk ( u. a. Zwei auserwählte Völker, Juden und Polen, SFB, 1997; Land der zerstörten Träume – Israel-Palästina, SFB/Hessischer Rundfunk 1998).

[INHALTSVERZEICHNIS BET-DEBORA JOURNAL]

[photo-exhibition] - [program] - [reactions]
[history of women in the rabbinate] - [women on the bima]
[start in german] - [start in english]

every comment or feedback is appreciated
iris@hagalil.com

http://www.hagalil.com





content: 1996 - 1999