hagalil.com - bet-debora.de

http://www.hagalil.com

Theorie und Realität

Adina Ben-Chorin

Nach der Französischen Revolution und Emanzipation rangen die frühen jüdischen Reformer damit, die modernen Ideen in ihre religiösen Überzeugungen aufzunehmen: das Konzept von den Rechten und Pflichten des Individuums, die Betonung der Rolle des Intellekts und die neue Beziehung zur politischen, sozialen und religiösen Umwelt, an der sie nun so viel mehr teilhatten.

Fast 200 Jahre später schlägt sich die gesamte jüdische Welt, Orthodoxe wie Nicht-Orthodoxe gleichermaßen, jedoch immer noch mit denselben Problemen herum. Jonathan Romain, ein englischer Reformrabbiner, legte die moderne liberale/Reform-/progressive Position knapp und unmißverständlich in seinem Buch "Glaube und Praxis" ("The Reform Synagogues of Great Britain", 1991) dar: "Reform glaubt, daß Gesetze begreiflich, Gebete verständlich, Rituale bedeutsam und Frauen gleichberechtigt sein sollten und daß unsere Nächsten ebenso geliebt werden sollten wie wir uns selbst lieben." (S. 245)

Im Folgenden geht es um einen Aspekt in dieser Haltung, nämlich den der Frauen und ihres Platzes, bzw. ihrer Rolle in einer heterogenen, religiösen Gemeinschaft, die ich fortan der Einfachheit halber als "progressive" bezeichnen werde, da alle der oben genannten Bewegungen in der World Union for Progressive Judaism (WUPJ) zusammengefaßt sind. In welchem Maß findet sich das Konzept von der Gleichheit der Geschlechter in der wirklichen Welt wieder? Es lohnt, einige spezifische Probleme genauer anzusehen.

Rechte und Pflichten

Die Mechiza abzuschaffen war eine symbolische Geste, die es schließlich ermöglichte, Frauen zum Minjan zu zählen. Erst vor kurzem haben alle progressiven Gemeinden dies getan. Obwohl sich Frauen stärker zu Hause und willkommen in den progressiven Gottesdiensten fühlen, bleibt immer noch die Frage, inwieweit sie bereit sind, eine aktive Rolle im Gottesdienst zu übernehmen: Alijot und andere Ehrungen, den Gottesdienst leiten, aus der Tora und der Haftara lesen. Mangel an Zutrauen, kulturelle Normen, Trägheit, frühe orthodoxe Prägung und Erinnerungen genauso wie männlicher Widerstand bleiben weiterhin Hindernisse. (In vielen Gemeinden werden diese Funktionen ausschließlich von Rabbinern und Kantoren wahrgenommen.)

Professionelle Gemeindeleitung

Die erste Rabbinerin, Sally Priesand, wurde 1972 am Hebrew Union College in Cincinatti ordiniert. (Die private Ordination von Regina Jonas in Deutschland 1935 war ein einmaliges Ereignis gewesen.) 1975 folgten das Leo Baeck College in London und 1981 das Hebrew Union College in Jerusalem mit Frauenordinationen, etwa zeitgleich begannen sich auch Kantorinnen in den USA auszubilden. Eine Sonderausgabe der Zeitschrift der Central Conference of American Rabbis (Reform) über "Women in the Rabbinate" ("Frauen im Rabbinat", Sommer 1997) hebt die Erfolge und besonderen Beiträge hervor, die Frauen als "Frauen" für das Rabbinat geleistet haben. In der Ausgabe wird jedoch auch darauf hingewiesen, daß Frauen weiterhin unter einem Mangel an Akzeptanz, Gegnerschaft und Diskriminierung von seiten der Kollegen und Laienfunktionäre zu leiden haben. Erst neuerdings werden ihre eigenen, besonderen Bedürfnisse anerkannt, die sie lange Zeit kaum deutlich machen konnten. Schon früh drängten Frauen in den Bildungsbereich, ein Feld, auf dem sie sich erfolgreich entfalteten und ihnen die Gemeinden sowohl in Amerika als auch in Europa eine erhebliche Verantwortung zubilligten. Die Analen der amerikanischen Reformbewegung verzeichnen hervorragende Predigerinnen und Lehrerinnen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, während in England Lily Montagu eine Ausnahmeerscheinung blieb.

Liturgie

Im Allgemeinen tendieren progressive Gemeinden dazu, jeweils ihre eigenen lokalen Gebetbücher herauszugeben. Parallel zum Hebräischen (dessen Anteil von Ort zu Ort beträchtlich variiert) stehen Gebete in der Landessprache. Bei den Übersetzungen geschahen die meisten "Modernisierungen" des traditionellen Textes. (Bei der israelischen Liturgie verhält es sich genau umgekehrt). Der englische Reform-Siddur enthält das traditionelle Gebet für die Gemeinde nach der Toralesung. In diesem heißt es auf hebräisch: "Sie (maskulin), ihre Frauen, Kinder usw.", was vorgibt, daß die Betergemeinschaft nur aus Männern besteht. Im Englischen ist der Text jedoch "korrigiert". Die meisten dieser Gebetbücher enthalten eine Anthologie mit neuen, alternativen Texten. Autorinnen scheinen jedoch nicht allzu häufig vertreten zu sein.

Da weibliche Bilder in der traditionellen Liturgie stark unterrepräsentiert sind, wurde dies einem wichtigen Gebiet für kreative Neuerungen, z.B. eine weibliche Gottessprache, das Nennen von Sara, Rebekka usw. neben Abraham, Isaak, usw. in der Amida; oder ein liturgisches Gedicht an die Schechina anstelle oder zusätzlich zum "Awinu Malkenu" zu den Hohen Feiertagen (israelische Liturgie). Europäische Gemeinden haben solche Neuerungen zögerlicher übernommen. Frauen tauchen dort in den Tora- und Haftara-Abschnitten zwar auf, aber oft als negative Symbolträgerinnen; sie sind untreu, undankbar oder Schlimmeres wie bei Hosea, Jesaja (1. Kap.) usw. Viele progressive Gemeinden erlauben sich, die Lesung ihren eigenen Bedürfnissen anzupassen, einige mehr, andere weniger.

Eigenartigerweise wurde eine frühe, 1845 in Berlin vorgenommene Veränderung in vielen progressiven Gemeinden bis zum heutigen Tage beibehalten. Es handelt sich um die Geschichten von Hagar (Gen. 21) und der Bindung Isaaks (Gen. 22), die zu Rosch Haschana mit der Schöpfungsgeschichte (Gen. 1) ersetzt wurden, ebenso wie die "Hanna"-Haftara. Ob aus ethischen oder ideologischen Gründen: Im Ergebnis wurde eine starke weibliche Präsenz aus dem heiligsten aller Tage entfernt.

(Siehe Lisa A.Edwards im CCAR Journal, oben.)

Rituale

Die erste europäische Reformer-Generation erachtete die Bar-Mizwa-Zeremonie insofern als belanglos und negativ, als der Junge das, was immer er gelernt hatte, mechanisch, auswendig nachbetete und sowieso zu jung war, um Gemeinde- oder Religionsverpflichtungen zu übernehmen (was ja der eigentliche Sinn der Übung sein sollte). Sie ersetzten die Bar Mizwa durch die Konfirmation in einem etwas höheren Alter, die darauf beruhte, die Grundsätze des Judentums gelernt und akzeptiert zu haben, statt einen Wochenabschnitt der Tora und eine obskure "Drascha" vorbereitet zu haben. Grundsätzlich sollten Mädchen eingeschlossen werden. In Wirklichkeit wurden sie es aber meist nicht.

Die Zeiten und Einstellungen haben sich inzwischen geändert: die meisten progressiven Gemeinden haben die Bar Mizwa wieder eingeführt und auch eine Bat-Mizwa-Zeremonie für Mädchen geschaffen. Fast ohne Ausnahme gleicht sie jener der Jungen und folgt demselben Vorgaben, was sie zu lernen haben. Für die Brit-Mila-Zeremonie ist natürlich schwierig, etwas Vergleichbares einzuführen, aber die gängige Auffassung ist, daß eine bedeutungsvolle Zeremonie für die Aufnahme in den Bund nicht nur das Recht eines Jungen, sondern auch das eines Mädchens ist.

Obwohl das Prinzip weiblicher Gleichberechtigung in der Synagoge und im jüdischen Leben eines der Anliegen der Reformer des 19. Jahrhunderts war, stellte es eben nur eines unter vielen dar, die eine dringende Aufmerksamkeit verlangten. Höhere Priorität genossen Ziele wie die Synagogen wieder attraktiver zu machen, eine Liturgiereform, die Bildung der Kinder und überhaupt jüdisches Wissen und Selbstbewußtsein zu stärken angesichts eines vorher nicht gekannten Ausmaßes von Kontakten mit der christlichen Umwelt. Daß Frauenfragen, wie etwa die Abschaffung der Mechiza, überhaupt anerkannt wurden, muß als lobenswert bezeichnet werden. Tatsächlich brauchte es noch mehr als ein Jahrhundert, bis man ernsthaft damit begann, die weibliche Rolle zu hinterfragen. Und das Ergebnis ist bis dato ein breites, widersprüchliches Spektrum von Einstellungen und Praktiken innerhalb der progressiven Welt.

Aus dem Englischen übersetzt von Jessica Jacoby

[INHALTSVERZEICHNIS BET-DEBORA JOURNAL]

[photo-exhibition] - [program] - [reactions]
[history of women in the rabbinate] - [women on the bima]
[start in german] - [start in english]

every comment or feedback is appreciated
iris@hagalil.com

http://www.hagalil.com





content: 1996 - 1999