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[Mein Judentum]

Schalom Ben-ChorinMEIN JUDENTUM

Von Schalom Ben-Chorin

Martin Buber schloß seine 1951 gehaltene Rede 'Judentum und Kultur' im Blick auf die Wurzeln unserer jüdischen Existenz mit den Worten:
'Erkennen wir uns selber: Wir sind die Hüter der Wurzeln. Wir sind es. Wie können wir es werden? Wie werden wir, die wir sind?'
Mit dieser Frage scheint mir die Existenz der heutigen Juden - und damit auch meine eigene - klar umrissen.

Mein Judentum habe ich im Laufe meines Lebens als das Vorgegebene und Aufgegebene empfunden. Jude ist man sicher von Geburt. Die Halacha, das kanonische Recht des Judentums, statuiert: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wird. Damit ist wohl die Herkunft, in mutterrechtlicher Urtümlichkeit, umrissen, aber noch nichts über die geistige Gestalt der Existenz ausgesagt.

Es mag frappierend wirken, daß das Gesetz die Volkszugehörigkeit zu Israel von den Müttern herleitet: 'Vom Weibe geboren und unter das Gesetz getan.' In dieser knappen Aussage ist aber der zweite Teil nicht zu übersehen: unter das Gesetz getan, das meint, der Thora unterstellt. Die Thora, sicher mehr als Gesetz, Weisung, Führung im Leben, will erlernt werden. Das war in den Jahrtausenden Israels primär das Männerwerk, so daß die geistige Existenz von den Vätern herrührt. Der betende Jude ruft den Herrn mit den Worten an: 'Unser G'tt und G'tt unserer Väter.'

Ein großer jüdischer Dichter des Wiener Kreises, Richard Beer-Hofmann, schrieb in seinem berühmten 'Schlaflied für Mirjam' im Jahre des ersten Zionistenkongresses 1897:

Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt
Blut von Gewesnen - zu Kommenden rollts.
Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz.
In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein?
Du bist ihr Leben - ihr Leben ist dein.

Die Hinterfragung als die Dauerkraft des Judentums

In diesen Versen ist das Generationsbewußtsein artikuliert, das das Wesen jüdischer Tradition und damit jüdischer Existenz ausmacht. Das Tradieren eines Heilsgutes verbürgt allein die Dauerkraft des Judentums. Wo dieses Heilsgut aber aus dem Bewußtsein geschwunden ist, also bei dem assimilierten Diasporajuden unserer Zeit oder bei dem säkularisierten und 'normalisierten' Israeli der Gegenwart (auch bei ihm!), wird diese Existenz fraglich, weil sie nicht mehr hinterfragt wird.

Das Volksbüchlein der Passah-Nacht, die Haggada, spricht gleichnishaft von vier Söhnen, vier Typen: dem Klugen, dem Bosen, dem Einfältigen und dem, der nicht zu fragen versteht. Dieser vierte Sohn der Haggada scheint mir typisch für die Situation des heutigen Judentums: der Jude, der nicht mehr zu fragen versteht, der nicht mehr die Grundfrage nach Sinn und Aufgabe seiner jüdischen Existenz stellt.

Vor einem halben Jahrhundert, in den Monaten August bis Oktober 1927, schrieb der französisch-jüdische Schriftsteller Edmond Fleg sein kleines Bekenntnisbuch 'Warum ich Jude bin'. Es ist in der Form eines Schreibens an seinen noch ungeborenen Enkel gehalten, dem er das Vermächtnis der Väter weitergeben wollte. Flegs Fragestellung ist heute weithin unbekannt. Wir tragen an dem unseligen Erbe einer grauenvollen Vergangenheit des Holocaust, der NS-Verfolgungen von 1933 bis 1945, zu schwer.

Die 'Endlösung der Judenfrage' hat in den 'Wohnungen des Todes', in Auschwitz, Maidanek, Treblinka und all den anderen Schreckensorten, nicht nur Millionen Juden vernichtet, sondern für Millionen Juden das Judentum vernichtet. Diese Endlösung hat dem Juden sogar die Würde des Martyriums geraubt, die ihm noch die Kreuzfahrer und die Inquisition belassen haben. Die namenlose Masse, die für die Gasöfen bestimmt war, wurde nicht auf ihr jüdisches Bekenntnis hin befragt. Die Karmeliternonne Edith Stein wurde ebenso vergast wie ein chassidischer Rabbi, ein begeisterter Zionist oder ein deutscher Jude, der noch 1914 bekannte: 'Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen.' Das Judentum wurde so zu einer ethnischen, ja 'rassischen' Einheit degradiert, und das schlug nach innen, so daß viele Juden von heute ihr Judentum nur noch als eine Vorgabe und nicht mehr als die Aufgabe erkennen.

Individuation - Nicht Vorgabe sondern Aufgabe

Es ist aber nicht richtig, daß man Jude nur durch die Geburt wird. Die immer häufiger werdenden Fälle von Konversionen zum Judentum in Israel und in der westlichen Diaspora zeigen, daß es auch den Weg ins Judentum gibt, wobei dieses primär in seiner Sinnhaftigkeit erfaßt und erfahren wird. Für den Juden ist das Judentum die mit ihm geborene Aufgabe. Für den Nicht-juden kann das Judentum, dieses 'unbekannte Heiligtum' (Aimé Palliére), eine ferne Möglichkeit sein, ich spreche hier nicht theoretisch, sondern aus Erfahrung; ich kenne Menschen aus verschiedenen Völkern, Deutsche und Skandinavier, Holländer und Japaner, weiße und schwarze Amerikaner, die Juden wurden und ein erfülltes jüdisches Leben führen, dem lauen Juden zu Stachel und Vorbild. Auch das gibt es.

Was ist ihnen gemeinsam, den geborenen und den gewordenen Juden? Das Prinzip der Individuation. Es kommt darauf an, die Möglichkeiten zu entfalten, die in uns liegen. Das scheint mir der Sinn des Lebens zu sein. Des menschlichen Lebens im allgemeinen und des jüdischen Lebens im besonderen. Hier nun geht es um die Entfaltung der jüdischen Möglichkeit.

Israel ist das Bundesvolk G'ttes. Der Bund ist Stern und Kern jüdischer Existenz. Die Legende spricht davon, daß beim Bundesschluß am Berge Sinai alle Generationen Israels versammelt waren: die früheren, bis zurück zu Abraham, dem Vater des Glaubens und des Glaubensvolkes, die damals lebende Generation des Exodus - und alle kommenden Geschlechter Israels bis in die Tage des Messias hin. Das ist die Una Sancta Israels, die als ein Objektives vorgegeben bleibt, die aber immer wieder in das Bewußtsein der jeweiligen Generation und jedes Juden gehoben werden muß. Aber am Sinai standen auch noch andere, ein bunter Haufen von Hergelaufenen, die sich den ausziehenden Stämmen Jakobs angeschlossen hatten. Auch sie wurden in das Licht des Bundes gestellt und tasten sich nun zurück zu dem Israelfunken, der noch heute (und gerade heute) in ihrer Seele glüht.

In meiner Seele war der Funke fast erstickt. Aber der kalte Wind des Hasses auf uns Juden blies hinein und ließ den Funken auflodern und zu einem Feuer werden, das weiterbrennt und brennen wird, solange ich lebe.

Es war das Jahr 1923 in meiner Vaterstadt München, als der Hitlerputsch die Juden der Isar-Metropole erzittern ließ. Auch bei uns, in meinem kleinbürgerlichen Elternhaus, verschloß man Fenster und Türen, duckte sich, hielt sich still, bis der Sturm vorüber war. Ich war damals ein Knabe von zehn Jahren und erlebte diesen Schrecken tiefer, als mir zunächst bewußt sein konnte. Die Sinnfrage brach in mir auf: Warum? Warum werden wir gehaßt? Warum will man uns ans Leben? Warum sind wir anders als unsere Nachbarn? Fragen über Fragen drangen aus mir heraus und in mich hinein. Ich bekam keine zureichenden Antworten.

Zurück in's Judentum

Ich wußte wohl, daß wir Juden waren; aber das hatte wenig spezifische Inhalte. Ich habe Milieu und Situation im ersten Teil meiner Autobiographie 'Jugend an der Isar' beschrieben und kann hier nur zusammenfassend sagen: Die Paradoxie der assimilierten deutschen Juden, die man spöttisch als Dreitagejuden bezeichnete, war auch der dialektisch spannungsreiche Grund und Hintergrund meiner Kindheitsjahre. Dreitagejuden sagte man, da Juden unserer Prägung sich praktisch nur an drei Tagen des Jahres, an den beiden Neujahrstagen im Herbst, Rosch Haschana genannt, und am darauffolgenden Versöhnungstag, dem Jom Kippur, ihres Judentums inne wurden. Im übrigen feierte man die Feste, wie sie fielen, die Feste der Umwelt, vor allem Weihnachten - und in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928 fiel für mich die Entscheidung. Ich wollte dieses Fest, das für uns keineswegs die Botschaft von der Menschwerdung G'ttes in der Krippe von Bethlehem beinhaltete (man stand dem Christentum wohl noch ferner als dem Judentum), sondern nur Ausdruck einer gedankenlosen Angleichung an die Formen der umgebenden Wirklichkeit war, nicht mehr mitfeiern. Ich hatte erkannt, daß ich den Weg nach innen anzutreten hatte, den Weg zurück ins Judentum.

Diese Rückkehr führte paradoxerweise in den Verlust des Heims. Ich verließ mein Elternhaus, stand ratlos in der Winternacht auf der Straße und fand Zuflucht im Hause einer jüdisch-orthodoxen Familie, mit deren Sohn ich befreundet war. Nun begann für mich das, was ein großer Heimkehrer in das Judentum, Franz Rosenzweig, den 'Salto mortale in die Welt des Schulchan Aruch' genannt hat. Der Schulchan Aruch ist der berühmte rabbinische Kodex des Joseph Karo aus Safed aus dem 16.Jahrhundert, der bis heute für die jüdische Orthodoxie als normativ gilt. Ein Salto mortale ist immer ein halsbrecherisches Kunststück. Wenn ich mir dabei auch nicht den Hals brach, so doch gewisse Teile der Seele, falls man das sagen kann. Ich bin nicht ungebrochen aus diesem Versuch herausgegangen.

Die Religion der Tat

Judentum, so ist oft gesagt worden, ist primär Religion der Tat. Der Glaube, der lebendige Glaube, ist zwar die unabdingbare Voraussetzung für alles religiöse Tun; aber er wird wenig diskutiert und fast nicht definiert; denn die Ausführung der Gebote und das Erlernen dieses Systems absorbieren die seelischen und geistigen Kräfte. Das gilt vor allem für einen Rückkehrer, wie ich es war, der von einer äußersten Randposition in das Zentrum der Gesetzesfrömmigkeit übersiedelte. Ich machte alles falsch; denn was für meine Umwelt in diesen Kreisen Selbstverständlichkeit war, mir erschien es als ein dorniges Gestrüpp von Paragraphen und Formeln, von Gesetzen und Bräuchen. Ich lebte mich ein, schmerzlich und nicht ohne Vorbehalte. Und doch bin ich dankbar, daß ich diese selbstgewählte harte Schule der Einübung ins Judentum mitgemacht und durchgemacht habe. Man kann das Judentum nicht nur aus Büchern kennenlernen, sondern muß es als gelebte Wirklichkeit erfahren, mit der Schönheit des Sabbats und der Feste und mit den Härten eines Anspruchs, der oft unsere Möglichkeiten übersteigt, und der Gefahr einer Erstarrung in Traditionen, die den lebendigen Glauben zu ersticken drohen.

Volk, Lehre und Land Israels

Es war mir von Anfang an, das heißt seit meiner fragenden jüdischen Bewußtwerdung, klar, daß jüdische Existenz beides meint: Zugehörigkeit zur Bundesgemeinde des Glaubens und zum jüdischen Volk. Die Auseinanderreißung dieser beiden Elemente ist die permanente Gefahr der Mißinterpretation des Judentums. Ich habe später diese geschichtstheologische Erkenntnis in meinem Buch. 'Die Antwort des Jona' dargestellt. So ging bei mir der Rückweg in das Judentum mit der Hinwendung zum Zionismus Hand in Hand. Zum Mißvergnügen meiner orthodoxen Umgebung schloß ich mich gleichzeitig der 'Kadima' an, einem nationaljüdischen Pfadfinderbund. Es war mir klar, daß die volle Verwirklichung jüdischen Lebens nur im Lande Israel (wir sagten damals noch Palästina oder aber unter uns schon Erez Israel, Land Israel) möglich ist.

Die Bewältigung jüdischer Existenz außerhalb der starren Form der Orthodoxie konnte ich nur in einem langen Prozeß von Bindung und Lösung und wieder neuer Bindung, in ständiger Beschäftigung mit der Lehre des Judentums vollziehen. Auch heute noch, in der Mitte des siebenten Lebensjahrzehntes stehend, kann ich diesen Prozeß nicht als abgeschlossen bezeichnen. Ich meine, daß nur die immer weiter geführte Konfrontation der sich wandelnden Wirklichkeit mit den unwandelbaren Ansprüchen aus der Transzendenz der biologischen Evolution entspricht, der wir ohne unser Zutun ausgesetzt bleiben, solange Atem in uns ist.

Wer sich zu Israel bekennt, bekennt sich zu einem Volk und zugleich zu einem G'ttesbund, der im Bewußtsein dieses Volkes geschlossen wurde. Das dritte Element aber ist: das Land. Im Bundesschluß verheißt G'tt seinem Volk sein Land. So ist diese Dreiheit eine Einheit: G'tt, Volk und Land Israel. Das war für mich nicht nur ein Theologumenon, sondern Leitwort meines Lebens. 1935 entschied ich mich. Es war mir nach mehreren Verhaftungen klar, daß ich in München, das nun 'Hauptstadt der Bewegung' geworden war, nicht mehr länger bleiben konnte. Auch mein Studium hatte ich abbrechen müssen. Meine Schwester, die bereits in Argentinien Zuflucht gefunden hatte, sandte mir Visum und Schiffskarte nach Buenos Aires. Ich ließ beides zurückgehen; denn es wurde mir klar, daß meine Destination das Land Israel war.

München - Jerusalem

Im zweiten Teil meiner Autobiographie 'Ich lebe in Jerusalem' habe ich geschrieben, wie ich langsam in diese Stadt hineinwuchs und wie sie mir zuwuchs. Nun lebe ich seit über vierzig Jahren in Jerusalem; habe also ein Prozent ihrer Geschichte miterlebt, die bis in Urvätertage Abrahams zurückreicht, wo hier Melchisedek, der König von Salem (wohl eine Kurzform von Jerusalem), schon als Priester des höchsten G'ttes waltete.

Noblesse oblige. Die Adresse wurde oft zur Aureole. Man muß sich bemühen, vor allem im Auslande, kreditwürdig zu bleiben. Dem Jerusalemer wird ein hoher jüdischer Kredit eingeräumt; denn von Zion geht die Lehre aus und das Wort des Herrn von Jerusalem. Sind wir daher wirkliche Botschafter dieser Lehre und dieses Worts, wenn wir aus Jerusalem kommen, hier zu Hause sind? Das wäre eine hybride Simplifizierung. Jerusalem, so habe ich es empfunden, wurde für mich nicht nur der Wohnort für den größten Teil meines Lebens, sondern zugleich auch eine Verpflichtung. Aus der Stadt und ihrer Geschichte erwuchs mir vieles, was Leben und Werk formte. Hier entstand vor allem meine Trilogie 'Die Heimkehr', die die tragenden Gestalten des Neuen Testamentes, Bruder Jesus, Paulus und Mutter Mirjam, in meiner jüdischen Sicht darstellt und mit dazu beitragen durfte, das Gespräch zwischen Juden und Christen, vor allem im deutschen Sprachraum, anzuregen und zu vertiefen.

Im deutschen Sprachraum - das habe ich wahrheitsgemäß angemerkt, denn aus meiner Muttersprache bin ich nie ausgewandert. Sicher ist mir in den Jahrzehnten in Israel die hebräische Sprache, die Ursprache meines Volkes, zugewachsen, und doch blieb sie eine erlernte und leider nie ganz bewältigte. Nur wer sehr schlecht hebräisch spricht, behauptet, daß diese Sprache nicht ausreichend sei für alle Varianten moderner Terminologie. Sie ist unendlich reich und schön, diese Sprache - und wenn sie der Herr selbst zu seiner Selbstmitteilung wählte, dürfte sie auch für uns genügen. Aber wir genügen nicht immer der Sprache, können die feinsten Schwingungen nur dem Instrument der in uns gewachsenen Muttersprache entlocken.

Ein Schriftsteller, sagte Thomas Mann in der Emigration, ist ein Mensch, der eine Sprache schwerer erlernt als andere. So gesehen darf ich das Prädikat des Schriftstellers voll für mich in Anspruch nehmen. Der Schriftsteller, der auf der Klaviatur seiner Sprache bereits zu gewisser Virtuosität gelangt ist, klimpert nur ungern auf den Tasten einer anderen. So blieb es vorrangig beim Deutschen für mich. Wenn ich auch in Alltag und Vortrag, in den Massenmedien und in der Literatur kein Fremdling im Hebräischen blieb und vor allem in den Bezirken der religiösen Tradition die hebräischen Quellen für mich erschloß, so blieb doch das Medium meiner schöpferischen Arbeit das Deutsche. Und dies wurde mir zum Schicksal - zum jüdischen Schicksal.

Gespräch mit dem Judentum?

Als nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland ein bisher ganz unbekanntes (und heute schon wieder fast vergessenes) Schuldgefühl aufbrach, erwuchs aus diesem Bewußtsein der Wunsch nach dem Gespräch mit dem Judentum. Ich habe es oft erlebt und gesagt, daß dieses Gespräch, das christlich-jüdische Gespräch in Deutschland, im deutschen Sprachraum, was noch mehr ist, als Gespräch aus der Schuld begann. So ergab es sich, daß ich in dieses Gespräch hineingezogen wurde, als ein Jude, der eine gemeinsame Sprache im philologischen Sinne mit dem Gegenpart sprach und nun eine gemeinsame Sprache in einem psychologischen Sinne finden mußte. Ob mir das gelungen ist, kann ich selbst nicht entscheiden. Ich habe aber viele Anzeichen dafür, daß der Versuch nicht mißlungen ist. Die Bereitschaft, die ich bei vielen Besuchen in der Bundesrepublik fand, etwas über das Wesen des Judentums nicht nur theoretisch, sondern aus der Existenz zu erfahren, war für mich beglückend, vor allem die Begegnung mit einer jungen, fragenden deutschen Generation, die mir sicher nicht weniger gegeben hat als ich ihr. Ich habe ihr etwas vom Geist des Judentums gegeben; sie hat mir den Glauben an den Menschen zurückgegeben.

Es war Paulus, an den ich bei meiner Tätigkeit oft erinnert wurde, so etwa als ich für ein Gastsemester im Sommer 1975 an der Universität Tübingen Vorlesungen hielt, die nun auch als Buch unter dem Titel 'Jüdischer Glaube' vorliegen. Was ist das Paulinische an dieser Existenz? Die Aufgabe, jüdische Inhalte in einer anderen Sprache als der hebräischen zu referieren. Bei Paulus trat die Verfremdung durch das Medium des Griechischen ein. Ich spürte sie und spüre sie, bei aller Vertrautheit, im Deutschen. Franz Rosenzweig sagte: 'Ubersetzen heißt zwei Herren dienen. Also kann es niemand. Also tut es jeder. ' Übersetzen ist in diesem Bereiche sicher weit mehr als ein philologischer Vorgang. Heterogene Denkstrukturen müssen übertragen werden. Das bleibt im Kern tragisches Unterfangen, eine Paradoxie, der wir uns nicht entziehen können.

Und nun muß ich meinen Hörern und Lesern meiner jüdischen Vorträge, Bücher und Aufsätze in deutscher Sprache noch einmal besonders danken. Dadurch, daß sie mich nötigten, jüdische Begriffe, die hebräische Begriffe sind, in deutscher Sprache aufzudecken, wurde ich genötigt, diese Positionen immer wieder neu und immer tiefer zu durchdenken. Nichts blieb mehr selbstverständlich, alles mußte ich mir selbst verständlich machen, um es anderen verständlich zu machen. So wurde mir im dialogischen Prozeß mein Judentum klarer, reiner, schöner und tiefer erschlossen, als es in monologischer Selbstbescheidung je möglich gewesen wäre. Von Martin Buber hatte ich die Dialogik, das dialogische Denken gelernt. Durch die mir zugewachsene Lebensaufgabe eines Dolmetschers zwischen Judentum und Christentum, zwischen Israel und Deutschland, ist die Dialogik unveräußerlicher Bestandteil meiner Existenz, meiner jüdischen Existenz, geworden.

Jüdisches Denken denkt im Dialog

Buber hat uns in seinem philosophischen Hauptwerk 'Ich und Du' diese Dimension erschlossen. Sie scheint mir eine wesentlich jüdische Dimension zu sein. Jüdisches Denken ist dialogisches Denken. Milan Machovec hat, wie ich meine, mit Recht darauf hingewiesen, daß der G'tt Israels primär der redende G'tt ist. Menschliche Rede ist, so gesehen, Antwort auf den göttlichen Anspruch und Zuspruch. Dialogische Existenz im zwischenmenschlichen Bereich kann so transparent werden zur Imitatio Dei. Das hat schon vor über dreihundert Jahren der christliche Mystiker Angelus Silesius erkannt:

Nichts ist als Ich und Du
Und wenn wir zwei nicht sein
So ist G'tt nicht mehr G'tt
und fällt der Himmel ein.

Es darf uns nicht wundernehmen, daß der schlesische Mystiker Johannes Scheffler, der ursprünglich Protestant und später Katholik war, etwas ausspricht, was mir für das Judentum, im Sinne Bubers, so wesentlich scheint. In der Konfrontation mit christlicher Frömmigkeit ist mir oft bewußt geworden, daß wir nicht nur von derselben Wurzel herkommen (das zu erkennen sollte eine Selbstverständlichkeit sein), sondern auch in späteren Phasen, ohne voneinander zu wissen, zu ähnlichen, oft zu gleichen Erkenntnissen gelangen, Erkenntnissen nicht nur des Intellekts, sondern des Glaubens und der Seele.

Jude kann man nicht allein sein

Meine Bemühungen gingen und gehen aber nicht nur nach außen. Was wäre das Judentum und damit mein Judentum ohne die jüdische Gemeinschaft? Jude kann man nicht allein sein. Es ist sicher nichts Zufälliges, daß das traditionelle Judentum den Minjan, die Zehn-Männer-Gemeinschaft, für einen vollen G'ttesdienst fordert, daß die Liturgie vorwiegend im Plural gehalten ist. 'Unser G'tt' kommt viel häufiger vor als 'mein G'tt', und auch Jesus lehrt seine Jünger beten: 'Unser Vater im Himmel'. Aber sieht diese Gemeinschaft so aus, wie sie aussehen soll? Israel ist zweifellos ein überfordertes Volk. Ihm wurde gesagt: 'Ihr sollt mir sein ein priesterliches Reich und heilig Volk.' Die Wirklichkeit Israels ist davon ebensoweit entfernt wie die Wirklichkeit der Kirche von der 'Gemeinschaft der Heiligen', die sie darstellen sollte. Es kann sich bei absoluten Zielsetzungen dieser Art im Prozeß der Konkretisierung immer nur um eine schrittweise Annäherung handeln, wobei sich der Jude bewußt sein soll, daß der Mensch des Weges geführt wird, den er wählt. Diese talmudische Paradoxie, die das Verhältnis von Wahl und Prädestination umkehrt, hat mich von Jugend an beherrscht. Ich wählte einen Weg, den ich in einem Frühwerk als 'Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus' bezeichnete, und wurde weiter auf diesem Wege geführt. Im Lande Israel habe ich bald erkannt, daß die Alternative: Zion ohne G'tt, also ein rein säkulares Judentum, oder orthodoxe Gesetzesfrömmigkeit weder dem Wesen noch der Wirklichkeit entspricht.

BeEmunah schlemah!

Es ging und geht mir darum, eine dritte Position im Judentum sichtbar und lebbar zu machen. Der lebendige Glaube, das bedingungslose Vertrauen in G'tt, wie es in dem hebräischen Begriff Emunah zum Ausdruck kommt, ist weithin verschüttet. Lavamassen von intellektueller Dialektik einerseits und minutiöser Kasuistik andererseits haben sich über den Glauben Israels, die Quelle seines Lebens, gelegt. Man hat vergessen, daß nach einem talmudischen Wort alle 613 Gebote und Verbote des rabbinischen Kodex in einem Satz kulminieren sollen, der dem Propheten Habakuk entnommen ist: 'Der Gerechte lebt seines Glaubens.'

Wer im Glauben steht, in der Emuna, in diesem schlechthinnigen Vertrauen, der hat den Schlüssel zum Gesetz gefunden. Von vielen Hütern der talmudischen Tradition vergessen oder verdrängt ist diese Aussage doch talmudisch.

Das Gebet ist weithin im Judentum zur Routine erstarrt und bedarf wieder der Verlebendigung, von der die Frommen früherer Generationen beredtes Zeugnis ablegten: 'Wer sein Gebet zu etwas Statischem macht, dessen Gebet ist kein Flehen', lesen wir in den Sprüchen der Väter und vergessen wir in den Taten der Söhne.

Das doppelte Liebesgebot, G'tt und den Nächsten zu lieben, ist die aus zwei Zitaten geformte Quintessenz der Thora. Das wissen wir alle - und haben es beiseite geschoben.

Die institutionalisierte Religion des orthodoxen Establishments in Israel hat das Judentum auf einen öden Ritualismus reduziert. Dagegen versuchte und versuche ich anzukämpfen. 1957 habe ich mit einigen Freunden Kreise zur religiösen Erneuerung in Jerusalem und anderwärts gegründet. Daraus haben sich die jüdischen Reformgemeinden in Israel entwickelt, die sicher nicht das darstellen, was wir uns erträumt hatten, und doch neue Ansatzpunkte für die Überwindung der falschen Alternative: Säkularismus oder Orthodoxie bilden.

Es gehört zu den Geschenken, den Gnaden meines Lebens, daß mein Sohn diese Arbeit nun als seine Lebensaufgabe weiterführt. Ich hatte ihm im Jahr 1939 meinen Versuch über die jüdische Glaubenslage der Gegenwart als 'Antwort auf künftige Fragen' gewidmet. Er war damals ein dreijähriges Kind - aber er hat später diese Fragen gestellt und diese Antworten erwogen. Ich vermerke das dankbar; denn dieses Weitergehen vom Vater auf den Sohn bildet die Infrastruktur des Judentums. Wo die Kette der Tradition abgerissen ist, kann sie nur mühsam wieder aufgenommen werden, wenn überhaupt.

Wenn Du hineingehst und wenn Du herauskommst

Mein Judentum? Ich kann nicht abgetrennt davon sprechen wie von einem bestimmten und bestimmbaren Bezirk in meinem Leben und meiner Person. Es durchdringt alle Phasen meines Seins, und jede Aufspaltung in das Jüdische zu Hause und das Humane in der Öffentlichkeit lehne ich als Schizophrenie der Diaspora-Existenz ab. Mein Judesein und mein Menschsein sind eines. Das bedeutet aber nicht eine irgendwie geartete Überbewertung des Juden. Der Erwahlungsbegriff könnte leicht in diesem Sinne mißdeutet werden. Ich glaube an die Erwählung Israels, aber nicht in dem dümmlichen und falschen Sinne einer Höherwertung des Juden gegenüber anderen Menschen.

Was meint Erwählung Israels? Dieses Volk hat G'tt zum Modellfall für alle Völker erwählt. An ihm hat er Gericht und Gnade so deutlich, so sinnfällig vollzogen und in seinem Wort verkündigt, daß es die Völkerwelt vernommen und wohl zum Teil auch angenommen hat. Und doch sagt schon der älteste der Schriftpropheten, Amos: 'Seid ihr mir denn besser als die Mohren, ihr Kinder Israels, habe ich nicht die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir geführt...? Euch allein habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt, damit ich an euch heimsuche alle eure Verfehlungen.' Das ist die Erwählung Israels.

Es ist nicht besser als andere, aber mündiger und daher in der vollen Verantwortung stehend. Zwischen dem prophetischen Pathos und der Banalität der konkreten Judenheit klafft ein Abgrund. Er kann nur durch eine Doppelbrücke aus Glauben und Humor überdeckt werden. Franz Rosenzweig nannte den Humor den Milchbruder des Glaubens. Ausdruck solchen gläubigen Humors überliefert Friedrich Torberg im Namen Albert Einsteins in einem köstlichen Vierzeiler:

Schau ich mir die Juden an,
Hab ich wenig Freude dran,
Fallen mir die andern ein,
Bin ich froh, ein Jud zu sein.

info-order@hagalil.comMein Judentum
Selbstzeugnisse

Herausgeg. v. Hans Jürgen Schulz
Benzinger Verlag
Zürich - Düsseldorf 1999

 


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