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Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 

"Ein Denkmal … 
nach meinen schwachen Kräften"

Fanny Neuda heute gelesen:
Zwischen Schulchan Aruch und Reform Sidur

In meinem Bücherregal, neben anderen Siddurim, meinem Tallit und den Schabbesleuchtern meiner Urgroßmutter stehen zwei schmale, schwarze Büchlein. Das eine deutlich älter als das andere; "Die fromme Zionstochter". Andachtsbuch für Israels Frauen und Mädchen, zur öffentlichen und häuslichen G'ttesverehrung an allen Wochen-, Fest- und Bußtagen und (gesperrt gedruckt !) für alle Verhältnisse des Lebens. Wien, 1898.

Es ist das Gebetbuch meiner Urgroßmutter, mein Erbe. Kaum beschreibbar daher die Enttäuschung, als ich das erste Mal die Seiten neugierig und andächtig aufgeschlagen habe und bald einsehen mußte, daß es, wenn überhaupt, dann höchstens auf Umwegen zu mir sprechen wird. Zu wenig fühlte ich mich als "schwaches, unerfahrenes und nur mit karger Einsicht begabtes Geschöpf" oder als "Frauenzimmer" und zuviel war mir von G'ttes Väterlichkeit die Rede. (Mittlerweile hat dieses Buch jedoch in meinem Leben einen festen Platz, der Inhalt ist zur Nebensache geworden.)

Das jüngere Büchlein. Fanny Neuda "Stunden der Andacht" Ein Gebets- und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Mädchen zur öffentlichen und häuslichen Andacht. Durchgesehen und durchgearbeitet von Martha Wertheimer 1936 Frankfurt am Main. Dieses Buch ist nicht geerbt. Es ist auf verschlungeneren Wegen in meine Hände geraten.

Wer ist sie?

Erstmals sind mir Neudas Gebete in der wunderbar erfrischenden Gebetssammlung von Pnina Navè Levinson "Esther erhebt ihre Stimme" begegnet. Dort steht über die Autorin: "Fanny Neuda, geb. Schmiedl, war weltweit die erste Jüdin, die nicht nur Gebete verfaßte, sondern ein Buch für alle Anlässe zusammenstellte: ,Stunden der Andacht…´ (Prag/Breslau, 1855). Sie widmete es der Frankfurter Baronin Louise von Rothschild. Das Buch wurde äußerst beliebt: es hatte bis in die zwanziger Jahre 28 Auflagen. Für die Beterinnen im Nazi-Deutschland veröffentlichte Martha Wertheimer eine veränderte Ausgabe. Eine englische Fassung war in Nordamerika verbreitet… Fanny Neuda lebte in Österreich von 1819 bis 1894: geb. in Eibenschitz (Mähren), gest. in Meran. Sie erhielt eine jüdische und allgemeine Bildung im Geiste der Mendelssohnschen Aufklärung. Ihr Bruder Ahron Adolf Schmiedl war ein bekannter österreichischer Rabbiner und Gelehrter. Ihr Mann Abraham Neuda (1812-54) war einer der ersten mährischen Rabbiner mit weltlicher Bildung. 1831 wurde er Nachfolger seines Vaters als Rabbiner der Stadt Loschitz. Wegen seiner deutschen Predigten und westlichen Bildung wurde er jahrelang von einigen angefeindet. Er starb mit 42 Jahren. Nun entschloß sich Fanny, ihm durch das Gebetbuch ,ein Denkmal liebender Erinnerung nach meinen schwachen Kräften zu setzen...´ Selbstbewußt vergleicht sie ihre Gebete mit denen von Männern, die für Frauen schrieben: ,Jenen ist es versagt, sich ganz in weibliche Empfindungen einzufühlen. Eine Frau hingegen kann in den Herzen ihrer Schwestern lesen.´"

Für mich waren Fannys "Stunden der Andacht" lange Zeit einfach ein altes Frauengebetbuch. Zwar "damals" über 80 Jahre lang ein Bestseller, aber von hier aus gesehen überholt. Uninteressant - bis ich einer Nachfahrin von Fanny Neuda nach einem G'ttesdienst bei Or Chadasch die Hand schüttelte.

Durch die Bekanntschaft mit einem unserer Mitglieder angeregt begann sich die liberale Rosch Chodesch-Gruppe mit den "Stunden der Andacht" zu beschäftigen. Allerdings hatten wir außer Kopien keine Bücher zur Verfügung. Ein mit dem Internet sehr vertrautes Mitglied unserer Gruppe schuf Abhilfe und so kamen bisher 4 Bücher in unseren Besitz.

Ohne ein Einkommen 
gibt es auch keine Lehre
Im ejn Kemah - ejn Torah

Ken Schoen betreibt in den USA einen Altbuchhandel der teilweise besonderen Art. Er kauft unter anderem Gebetbücher aus Nachlässen und verschickt sie (gegen eine frei zu wählende Spende bei einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung), damit sie in Gebrauch bleiben. Auf die Frage, ob die Spende besser an Or Chadasch oder an Ohel Rachel - eine Einrichtung, die ärmeren Juden ein Schabbes-Mahl ermöglicht - gehen sollte, kam die Antwort in Brechtschem Deutsch "Zuerst das Fressen, dann die Moral". Seither sind 4 Exemplare liebevoll verpackt und avisiert und ebenso liebevoll entgegengenommen in Wien gelandet.

Eine Erkundung

Ich betrachte eines dieser Bücher. Ausgabe 1936. Auf der ersten Seite in schwarzer verblaßter Tinte "Zur Erinnerung an Deine Pforzheimer Verwandten. Ijar 5699 April 1939." Ich durchsuche die Seiten… Welche Seite springt auf? Ist etwas als Lesezeichen eingelegt? Gibt es Spuren, die mir zeigen können, welche Gebete für die Besitzerin wichtig waren? Seite 34 springt leicht auf, hat ein Eselsohr. Gebet für das Wohl der Heimat. "…und spende die Fülle Deines Segens unserem lieben Heimatlande, in dem unsere Wiege gestanden und unsere Toten schlafen. Breite aus die Hütte Deines Friedens über Israel und die ganze Menschheit, laß die Tage nahen, da Haß und Gewalttat schwinden, da alle Menschen Dich anbeten und aus jedem Munde Dein Lob erschalle. Amen!" April 1939. "Zur Erinnerung…" Und das Buch kam aus Amerika. Es ist mir lieb, weil es von einer gelungenen Flucht erzählt.

An den Frauen vorbei

Warum gibt es deutsch-jüdische Andachtsliteratur? Aufbauend auf der seit Ende des 16. Jahrhunderts existierenden Tradition der Tchinnes (persönlichen Gebeten, die neben den liturgisch vorgeschriebenen Gebeten eigenständig bestanden, von den jüdischen Frauen jedoch vornehmlich aus sprachlichen Gründen bevorzugt gebetet wurden) entstanden im 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Werke der jüdischen Andachtsliteratur, teilweise in funktioneller Anlehnung an erfolgreiche christliche Vorbilder. Durch die damals schwindende religiöse Observanz der jüdischen Männer in der sich assimilierenden bürgerlichen Schicht in Deutschland wurde die Verantwortung für das Fortbestehen der jüdischen Religion immer mehr in die Hände von Hausfrauen und Müttern gelegt. Diese Jüdinnen des deutschen Mittelstands sollten ihre Kinder - Knaben und Mädchen gleichermaßen - mit den Grundbegriffen einer Religion und praktisch gelebten Spiritualität vertraut machen, die sie oft selbst nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien gelernt hatten. Die Funktion der Andachtsbücher ist somit klar definiert: "Mit belehrenden und erbaulichen Texten versuchen sie, die jüdische Ehe- und Hausfrau zur Wahrnehmung der ihr zukommenden religiösen Schlüsselfunktion im Haus … sowie gleichzeitig auch zu intensiviertem Synagogenbesuch … zu ermuntern und zu ertüchtigen - eine wohl kaum realisierbare Doppelanforderung." (Bettina Kratz-Ritter, 1995) Gleichzeitig bleiben Frauen von den "das Judentum letztlich konstituierenden Faktoren wie Thora- und Talmudkenntnissen, Alija und Minjan weiterhin ausgeschlossen…" (ebenda)

Die Problemlage ist somit eine ähnliche wie sie die liberal-progressiven Strömungen des Judentums gemeinsam mit einem feministisch-theologischen Ansatz (besonders nach 1945 aufgreifen). Bei allerdings vollkommen unterschiedlichen Lösungsansätzen: Während die deutsch-jüdische Andachtsliteratur versuchte, das Judentum durch Überlastung der Frauenrolle zu retten, öffnet die liberal-progressive Position durch vollständige Gleichstellung den Frauen auch die traditionell männlichen Bereiche.

Was bleibt?

In diesen vielen, vielen Zeilen der Rabbinersgattin, die offensichtlich der Rekonstruktion einer patriarchalen Welt geschuldet sind, blitzt immer wieder etwas auf, das mir vorkommt wie die Stimme der "wahren" Fanny; eine Stimme, die in mir etwas zum Klingen bringt. In manchen Gebeten, oft nur in ein paar Zeilen, schimmert ein zeitloses, warmherziges Vertrauen zu G'tt und seiner Ordnung durch, eine Dankbarkeit und Liebe zu seiner Schöpfung, die mir in meiner heutigen Lebensumwelt sehr fehlt. Es sind diese kleinen, kostbaren Fundstücke in den sonst eher formalen Gebeten der Fanny Neuda, die eine Sehnsucht stillen und die sie mir heute noch lesbar machen.

Es lagern sich die Abendschatten über die Erde. Und wie erquickend ist ihre Frische und Kühle nach einer heiteren Tagesglut; wie wohl tut die Abendruhe und Stille nach der Werktätigkeit und dem Geräusche des Tages, die friedvolle Dämmerung nach des Tages blendendem Glanze. Der nächtliche Himmel bevölkert sich mit Sternen, jenen leuchtenden, strahlenden Wesen, die so mild und beschwichtigend, als wären sie G'ttes vermittelnde, friedenbringende Boten, auf uns niederschauen, und unsere Blicke von dem Irdischen ab- und zu dem Himmlischen hinauflenken. Feierlicher Ernst erfüllet unsere Seele, und von tieferen heiligen Empfindungen durchströmt, erhebt sich unser Herz zu Dir, Unsichtbarer, Unbegreiflicher, der Du überall uns umgibst und gegenwärtig bist, im tiefsten Dunkel der Nächte, wie inmitten des Tages Licht und Helle.

Ich hebe meine Hände zu Dir empor, mein G'tt, und danke Dir aus tiefster Seele für alles, womit Deine Vaterhuld mich heute hat bedacht, für jede Segnung, mit der Du mich begnadigt, für jede Freude, mit der Du mein Leben geschmückt. Und auch für das Traurige und Betrübende, das Du auf meinen Weg gelegt, will ich Dich preisen; denn alles, was Du tust, ist wohlgetan!

Du hast diesen Tag geschaffen, mit allem, was er enthalten, Du führst nun auch die Nacht herauf, mit ihrer stärkenden Ruhe, mit ihrem erquickendem Schlafe, und über dem Schlafe wachest Du, der Du nimmer schläfst und schlummerst. Dein allsehendes Auge ruht auf den in Ohnmacht und Bewußtlosigkeit geschlossenen Lidern; Deine schirmende Hand streckst Du aus über das Lager des Schlummernden zum Schutze gegen die Gefahren, die im Dunkeln lauern! - Wie wohl tut mir der Gedanke: Du G'tt bist mir nahe, Du schirmest, Du wahrest und hütest mich! Ohne Zittern und Zagen gehe meine Seele zur Ruhe, der Herr ist bei dir, was könntest du fürchten! Stärket euch, ihr ermatteten Glieder, erhebe dich, mein erschöpfter Geist, wirf von dir, mein Herz, deine Kümmernisse und Sorgen, deine Lasten und Beschwernisse, und gib dich ganz und ungeteilt hin den Süßigkeiten der Ruhe.

Doch nur einem reinem Gewissen ist der Schlaf sanft und erquickend; drum, Vater, bevor ich mein Lager suche, flehe ich voll Demut und Inbrunst Dich an. Vergib und verzeihe mir, wenn ich heute vor Dir gefehlt und mein Tun und Lassen Dir mißfällig war. Blicke versöhnt auf meine Reue nieder, entziehe mir nicht Deinen Schutz und lass mich einer ungestörten, ungetrübten Ruhe genießen, und des Morgens wieder neu belebt und gekräftigt erwachen zu nützlicher Tätigkeit, und zu frommem Wirken und Schaffen, nach Deinem Wohlgefallen. Amen.

  • Kratz-Ritter, Bettina: Für "fromme Zionstöchter" und "gebildete Frauenzimmer". Andachtsliteratur für deutsch-jüdische Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Georg Olms Verlag (1995) Hildesheim, Zürich, New York
  • Levinson, Pnina Navè: Esther erhebt ihre Stimme. Jüdische Frauen beten. GTB (1993) Gütersloh
  • Meixner, Schulamit: Tchinnes. Die Lebenswelt der Frauen dargestellt in ihren Gebeten. Diplomarbeit (eingereicht). Universität Wien, Institut für Judaistik (2000)
  • Neuda, Fanny: Stunden der Andacht. Ein Gebets- und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Mädchen zur öffentlichen und häuslichen Andacht. Durchgesehen und durchgearbeitet von Martha Wertheimer. Kauffmann Verlag (1936) Frankfurt am Main.
  • Neuda, Fanny: Stunden der Andacht. Ein Gebets- und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Mädchen zur öffentlichen und häuslichen Andacht. 25. Auflage. Verlag Brandeis (o.D.) Prag, Breslau
  • Stern, M. E: "Die fromme Zionstochter". Andachtsbuch für Israels Frauen und Mädchen, zur öffentlichen und häuslichen G'ttesverehrung an allen Wochen-, Fest- und Bußtagen und für alle Verhältnisse des Lebens. 13. Auflage. J. Schlesinger´s Buchhandlung (1898) Wien, Budapest

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