Israelitische Kultusgemeinde Wien:
Wegen Schüssel geschlossenNachdem
bereits am 27. Mai bis zu 35 Mitarbeiter beim Arbeitsmarktservice
(AMS) zur Kündigung angemeldet wurden, war die Stimmung in der
Kultusratsitzung von 3.Juni vom ersten Moment an äußerst bedrückend.
Das Budget 2004 wurde präsentiert: Drastische Kürzungen von 25-50
Prozent in allen Bereichen der IKG Wien.
Schwerwiegende Entscheidungen mussten getroffen werden, um derart
drastische Sparmaßnahmen realisieren zu können - die Marathonsitzung
dauerte bis 3 Uhr morgens. Die beschlossenen Kürzungen beinhalten
Einschränkungen der G'ttesdienste im Stadttempel und des
Religionsunterrichtes; die Stipendien werden in allen Schulen um 50
Prozent reduziert - ebenso die Subventionen religiöser, sozialer und
kultureller Vereine, womit das Überleben dieser Vereine und somit
auch die Versorgung mit koscheren Lebensmitteln massiv gefährdet
wird.
Konkrete
Kündigungen und Schließungen werden aufgrund einzuhaltender Fristen
erst in der Kultusratssitzung vom 24.Juni 2003 bekanntgegeben.
Bei einem Pressetermin am 4.Juni 2003 vor dem Wiener Stadttempel
- über dem Eingang wehte ein Transparent mit einem Davidstern und
der Aufschrift "Wegen Schüssel geschlossen" - bekundeten
IKG-Präsident Ariel Muzicant und der Präsident des European Jewish
Congress (EJC), Michel Friedman, ihr Entsetzen über die
Vorgangsweise der Regierung. Das Unvorstellbare sei nun Realität
geworden: In Westeuropa müsse erstmals eine jüdische Gemeinde
beginnen, ihre Strukturen zu liquidieren. Und das, weil eine
Regierung historisch versagt habe und in der Gegenwart nicht adäquat
reagiere.
Schüssel akontiert
Am 3.Juni 2003 hatte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel beim
Pressefoyer nach dem Ministerrat lediglich erklärt, dass es bei der
Überbrückungshilfe für die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) um
"Akontierungen" gehe. Auf die Frage, warum man sich nun zu dieser
Maßnahme entschlossen habe, verwies der Kanzler auf die
Zuständigkeit von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer.
In dem von Gehrer vorgelegten Ministerratsvortrag wird noch
Folgendes im Wortlaut festgehalten: "Österreich erbringt seit
Jahrzehnten vielfältige Förderungen und ist auch weiterhin bereit,
über diese bestehenden Förderungen hinaus die Israelitische
Kultusgemeinde zu unterstützen. Dazu erscheinen folgende Schritte
geeignet:
- Kontaktaufnahme mit den Bundesländern mit dem Ziel, dass
diese Akontozahlungen auf ihre in der Vereinbarkeit vom 12.Juni
2002 zugesagten Leistungen schon vor der Herstellung der
Rechtssicherheit erbringen.
- Als direkte Überbrückungshilfe seitens des Bundes wird der
Israelitischen Kultusgemeinde ein zinsenloses Darlehen in Höhe von
772.000 Euro jährlich für die Jahre 2003 bis höchstens 2005 als
Akontozahlung auf die vom Allgemeinen Entschädigungsfonds nach
Entscheidung über die von der IKG eingebrachten Anträge
zugesprochenen und nach Herstellung der Rechtssicherheit
ausgezahlten Gesamtsumme gewährt.
- Zukunftsprojekte der IKG in den Bereichen Bildung,
Sicherheit und Soziales werden - wie auch in den vergangenen
Jahren - durch das BMBWK, das BMI und das BMSG unterstützt.
Wesentlich erscheint, dass die IKG alles dazu beitragen wird,
um rasch einen Rechtsfrieden im Interesse der Opfer zu finden."
Die IKG weist das unmoralische Angebot zurück
Wiens Kultusgemeinde ist offen für konstruktive Vorschläge
betreffend Restitution und Existenzsicherung und teilt mit:
I. Der Vorstand der IKG Wien erklärt sich entsetzt und
angewidert, dass die Anonymität des Internets dazu missbraucht wird,
in österreichischen Medien
antisemitische Hetze zu verbreiten; dennoch erklärt der
Vorstand, sich nicht von der Vertretung der jüdischen Interessen in
unserem Lande abbringen zu lassen. Zugleich fordert der Vorstand der
IKG alle demokratischen und antirassistischen Kräfte Österreichs
dazu auf, hier in unzweideutiger Weise Stellung zu beziehen.
II. Das über österreichische Medien verbreitete Ansinnen, der IKG
eine "Überbrückungshilfe" auf Kosten der schon 60 Jahre auf
Entschädigung wartenden jüdischen Naziopfer zu leisten, wird vom
Vorstand der IKG einstimmig zurückgewiesen.
Von der Immoralität eines solchen Ansinnens abgesehen, würde eine
solche Maßnahme die Existenz der jüdischen Gemeinde nicht einmal
kurzfristig, geschweige denn langfristig sichern können.
III. Der Vorstand der IKG beharrt nach wie vor auf der
angemessenen Entschädigung für erlittene Vermögensschäden und
dem Beschluss der notwendigen Maßnahmen seitens der Republik zur
Existenzsicherung der jüdischen Gemeinden in Österreich.
Der Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
Wien, am 4. Juni 2003
Forum: Wiens jüdische Gemeinde - pleite?
Quelle: DIE GEMEINDE / Juni 2003 - Sivan 5763
hagalil.com
22-06-03 |