Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Seit nunmehr 21 Jahren stehe ich der Verwaltung der
Israelitischen Kultusgemeinde Wien als Amtsdirektor bzw.
Generalsekretär vor und habe in dieser Zeit den enormen Aufschwung
miterleben und mitgestalten dürfen, der das jüdische Gemeinwesen zu
dem gemacht hat, was es heute in der Welt darstellt: Eine physische
und geistige Heimat für die hier lebende jüdische Bevölkerung,
Überlebende der Schoah und deren Nachkommen ebenso wie Zuwanderer
aus der ehemaligen Sowjetunion.
Es ist dies eine Heimstätte mit Beispielcharakter, würdig der
reichen historischen Traditionen des Wiener Judentums und der
wichtigen Rolle, die es vor dem Sturz des Landes in die
nationalsozialistische Barbarei in der österreichischen Gesellschaft
inne hatte, eine Heimstätte mit all den religiösen, erzieherischen
und sozialen Einrichtungen, derer sie bedarf, aber aufgebaut und
erhalten unter unsäglichen finanziellen Opfern und dem Preis ständig
steigernder Defizite.
Wenn nunmehr der Vorstand der Kultusgemeinde aus einer dramatisch
gewordenen finanziellen Situation heraus und unter dem Eindruck der
beharrlichen Weigerung der Bundesregierung, die bisher gesetzten
Schritte auf dem Gebiet der Restitution durch Entschädigung der
Kultusgemeinde für das in der Nazizeit entzogene Gemeindevermögen zu
vollenden, daran gehen muss, das Gebäude Kultusgemeinde Stock für
Stock, also Leistung für Leistung abzutragen, so ist dies ein
furchtbarer Schlag für jeden einzelnen von uns. Wenn Schließungen
von religiösen Einrichtungen und von Schulen anstehen, wenn selbst
der Gottesdienst im Wiener Stadttempel, dem Symbol jüdischer
Existenz in dieser Stadt, durch Kündigung des Kantors und des Chors
dramatische Einschränkungen erfährt, drängen sich mir als Historiker
erschreckende Visionen auf, die ihre Parallelen in der jüngsten
Vergangenheit des Landes haben: Als sich die wenigen in Wien
lebenden Juden in den Jahren bis 1945 im verwüsteten Wiener
Stadttempel zum Gebet zusammenfanden, gab es keinen Kantor und
keinen Chor und wo einst Sulzers Melodien den Raum füllten, waren
die von unterdrücktem Weinen, Schluchzen und stiller Trauer
getragenen Gebete kaum zu vernehmen. Und mit ganzer Entschlossenheit
sage ich mir dann, dass dem nicht wieder so sein darf, dass wir
aufschreien und die Verantwortlichen laut und vernehmlich zur
Besinnung rufen müssen.
Ich kann nicht glauben, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, dass
die oben gezeichnete Schreckensvision Ihre Vision von der Zukunft
einer jüdischen Gemeinde in Osterreich ist, und weil ich es nicht
glauben kann, erlaube auch ich mir. Sie auf die historische
Verantwortung aufmerksam zu machen, die auf Ihren Schultern lastet.
Lassen Sie der jüdischen Gemeinde das zuteil werden, was ihr - 58
Jahre nach Beendigung der nationalsozialistischen
Schreckensherrschaft! - letztendlich zusteht: Recht und
Gerechtigkeit.
In der Hoffnung, keine Fehlbitte getan zu haben, verbleibe ich
mit dem Ausdruck vorzüglicher Wertschätzung,
Dr. Avshalom Hodik
Generalsekretär
Forum: Wiens jüdische Gemeinde - pleite?