Rede in der Universität Tal
Aviv zum Thema:
"90 Jahre
Republik Österreich"
Österreichs
Bundespräsident Dr. Heinz Fischer
Meine Damen und
Herren!
Der 12. November 2008 war in Wien
ein Tag wie jeder andere:
Ein bewölkter, verhältnismäßig
warmer Spätherbsttag.
Und doch war es kein gewöhnlicher
Tag, denn es war der 90. Geburtstag
der Republik Österreich.
Ich bin an diesem Tag zu Fuß von
meiner Wohnung in der Josefstadt in
mein Büro in der Hofburg gegangen,
dieser jahrhundertealten, ehemaligen
Residenz der Habsburger, wo der
österreichische Bundespräsident
seinen Amtssitz hat.
Ich wohne genau gegenüber dem
Theater in der Josefstadt, das seine
jetzige Form Direktor Max Reinhardt
verdankt, dem Mitbegründer der
Salzburger Festspiele, der hier in
der Josefstadt in den 20-iger und
30-iger Jahren mit einem
hervorragenden Team von
Schauspielerinnen und Schauspielern
und mit außerordentlichem Erfolg
arbeitete, ehe er 1938 mit einem
beträchtlichen Teil seines Ensembles
vor den Nazis flüchten und
emigrieren musste.
Wenn ich die Rathausstraße
überquere, dann ist das der Ort, an
dem Sigmund Freud seine erste Praxis
hatte, bevor er auf die legendäre
Adresse Berggasse 19 übersiedelte.
Ich komme am Parlament vorbei, in
dem ich 38 Jahre gearbeitet habe und
dessen Präsident ich 12 Jahre
hindurch vor meiner Wahl zum
Bundespräsidenten gewesen bin. Ein
Parlament, in dem sich die 90jährige
Geschichte der Republik Österreich
in ihrer ganzen Vielfalt wie in
einem Brennglas gespiegelt hat.
Ich überquere den Karl-Renner-Ring
und gehe am Burgtheater vorbei, in
dem in den letzten Jahren der
Monarchie ein Lustspiel namens
„Wilddiebe“, mehrere Jahre am
Spielplan stand, das von einem
jungen Journalisten und
Schriftsteller namens Theodor Herzl
geschrieben wurde.
Zuletzt gehe ich durch die
Löwelstraße zum Ballhausplatz.
Rechter Hand liegt der Heldenplatz,
zu dessen Geschichte auch ein Tag
der Schande gehört, nämlich der 15.
März 1938. An diesem Tag verkündete
Adolf Hitler mit sich
überschlagender Stimme nach dem
Einmarsch deutscher Truppen in
Österreich die sogenannte Heimkehr
Österreichs in das Deutsche Reich.
Eine riesige Menschenmenge jubelte
Hitler hysterisch zu, während
gleichzeitig bereits
Massenverhaftungen und schwere
Misshandlungen von Juden und
politischen Gegnern stattfanden.
Rund zwei Wochen später ging der
erste Transport in das
Konzentrationslager Dachau. Auch
mein Schwiegervater wurde 1938 ins
KZ Dachau verschleppt.
Und neben dem Heldenplatz liegt der
Leopoldinische Trakt der Wiener
Hofburg, wo sich das Büro des
Bundespräsidenten befindet.
Meine Damen und Herren!
An diesem 12. November 2008 hat
Österreich im Rahmen einer
Feierstunde mit der gesamten
Staatsspitze versucht, Bilanz über
die wechselvolle 90 jährige
Geschichte der Republik zu ziehen.
Der November 1918 brachte ja nicht
nur einen Wechsel der Staatsform,
also von der Monarchie zur Republik.
Vielmehr hatte der große
jüdisch-österreichische
Schriftsteller Stefan Zweig Recht,
wenn er schreibt, dass mit dem Ende
der Monarchie eine Welt versunken
ist und eine Neue geboren wurde.
Diese Geburt war allerdings extrem
schwierig.
Aus einer europäischen Großmacht mit
50 Millionen Menschen zwischen
Czernowitz und der Schweizer Grenze,
zwischen Krakau und Triest wurde mit
dem Ende der Monarchie ein auf 1/7
seiner Einwohnerzahl reduziertes,
geografisch und ressourcenmäßig
amputiertes Land. Für einen
beträchtlichen Teil der Einwohner
dieses neuen Staates, den die
meisten als nicht lebensfähig
erachteten, schwankte der Boden
unter den Füssen.
Gleichzeitig gab es aber auch neue
Hoffnung, neue Ideen und neue
Ideale.
Aber Idealismus ohne Arbeit,
Hoffnung ohne Brot – das war keine
gute Startrampe in eine harmonische
Zukunft. Die Arbeitslosigkeit wuchs
rapid und hatte verheerende Folgen
für den sozialen Zusammenhalt der
Gesellschaft.
Inflation und Wirtschaftskrise
fraßen die Ersparnisse auf und
stürzten die Menschen ins Elend.
Man begann nach Sündenböcken
Ausschau zu halten und für viele
dienten einmal mehr die Juden als
Sündenböcke.
Diese I. Republik, wie wir
Österreich zwischen 1918 und 1938
nennen, scheiterte nach weniger als
zwei Jahrzehnten. Zuerst verlor die
Demokratie bei vielen ihr Ansehen
und ihre Anziehungskraft. Dann wurde
sie 1933 zerstört – 5 Wochen nach
der Machtübernahme Hitlers in
Deutschland. Ein kurzer, aber
erbitterter Bürgerkrieg im Februar
1934 schlug tiefe Wunden.
Der lachende Dritte waren die
Nationalsozialisten, die enormen
Zulauf fanden. Die schon zuvor
verbreitete Parole des Anschlusses
an Deutschland gewann immer mehr an
Boden, und im März 1938 wurde der
auf schwachen Beinen stehende
autoritäre österreichische
Ständestaat von der Landkarte
gelöscht und unter beschämendem
Jubel dem sogenannten Dritten Reich
einverleibt.
Der Leidensweg der Jüdinnen und
Juden begann, und bald darauf auch
der II. Weltkrieg.
Insgesamt hatten allzu viele
Österreicher während der NS-Zeit
eine schreckliche und unverzeihliche
Rolle gespielt.
Es hat aber auch jene gegeben, die
tapferen und todesmutigen Widerstand
geleistet haben, und die von den
Nazis mit größter Brutalität und
Rücksichtslosigkeit bekämpft wurden.
Immerhin sind nach Angaben des
Dokumentationsarchivs des
österreichischen Widerstandes mehr
als 90.000 Österreicherinnen und
Österreicher während der NS-Zeit aus
politischen Gründen verhaftet
worden, und knapp 5.000 Personen
wurden – zusätzlich zu den etwa
65.000 jüdischen Opfern des
Nationalsozialismus - als
Widerstandskämpfer bzw. aus
politischen Gründen hingerichtet.
Was für die spätere Entwicklung des
Nachkriegsösterreich von besonderer
Bedeutung war, ist die Tatsache,
dass Christlichsoziale und
Sozialdemokraten, die einander vor
1938 in erbitterter Feindschaft
gegenüber standen, während der Zeit
des Nationalsozialismus – teilweise
sogar in den Baracken der
Konzentrationslager – über eigene
Fehler nachzudenken begannen,
gemeinsam den Verlust der Demokratie
beklagten, die Nazis klar und
eindeutig als verbrecherischen
Hauptfeind erkannten, und damit
politische und psychologische
Grundlagen für einen gemeinsamen
Neubeginn und Wiederaufbau nach
Kriegsende erarbeiteten.
Der Albtraum dauerte bis zum
Frühjahr 1945; bis zu jenem
Zeitpunkt, wo der totale Krieg von
Hitler und Göbbels in die totale
Niederlage mündete.
Ein zweites Mal, innerhalb von
weniger als drei Jahrzehnten, musste
ein Wiederaufbau aus Schutt und
Trümmern beginnen.
Und obwohl die materiellen und
vielleicht auch die moralischen
Schäden wahrscheinlich größer waren
als im Jahr 1918, war der Start aus
Schutt und Trümmern im Jahr 1945 in
mancher Beziehung einfacher. Denn
ein vernunftbegabtes Wesen konnte
der Zeit vor 1945, der Zeit des
Krieges und des Holocaust nicht
nachtrauern. Allerdings waren viele
versucht, ihre eigene Verstrickung
in die Strukturen des
Nationalsozialismus zu verharmlosen
und den Nationalsozialismus als eine
Art höhere Gewalt darzustellen, die
über das Land wie ein Naturereignis,
dem man nichts entgegensetzen
konnte, hereingebrochen ist.
Tatsache ist aber, dass im Jahr 1945
ein wirklich neues Kapitel in der
Geschichte der Republik Österreich
begonnen hat.
Sozialdemokraten und
Christlichsoziale, die bei den
Nationalratswahlen im November 1945
rund 95% der Wählerstimmen und in
den nachfolgenden 25 Jahren zusammen
immer mehr als 80% der Wählerstimmen
erhielten, bildeten stabile
Koalitionsregierungen, die
erfolgreich am Wiederaufbau des
Landes arbeiteten.
Der Staatsvertrag von 1955 brachte
uns den Abzug der Besatzungsmächte
und damit die volle Freiheit und
Unabhängigkeit. Anschließend wurde
das Gesetz über die Neutralität
Österreichs beschlossen und
Österreich trat den Vereinten
Nationen bei.
Auch die Beziehungen zwischen
Österreich und Israel kamen in
geordnete Bahnen. Schon 1949 kam es
zur de facto Anerkennung des Staates
Israel durch Österreich und auch zur
Überführung der Gebeine Theodor
Herzls von Wien nach Jerusalem. 1956
kam es zur Herstellung vollwertiger
diplomatischer Beziehungen, und in
weiterer Folge zum Austausch von
Botschaftern.
Die Nahostpolitik von Bruno Kreisky,
insbesondere sein Eintreten für die
Anerkennung der PLO und für Rechte
der Palästinenser und auch die
Auseinandersetzungen um die Person
von Kurt Waldheim hatten erhebliche
Meinungsverschiedenheiten zur Folge
und warfen Schatten auf die
bilateralen Beziehungen. Aber die
zunehmende Beschäftigung mit den
Fakten der Geschichte, die
verstärkte Einsicht in Schuld und
Verantwortung und vielleicht auch
die Tatsache, dass zwischen 1968 und
1986 rund 270.000 Juden aus der
Sowjetunion über Wien nach Israel
ausgewandert sind, erwiesen sich als
verbindende Elemente zwischen
unseren beiden Ländern, die über
manche Schwierigkeiten hinweg
halfen. Heute kann man von sehr gut
entwickelten und vertrauensvollen
Beziehungen zwischen Österreich und
Israel sprechen, und wir tun alles,
damit das auch in Zukunft so bleibt.
Meine Damen und Herren!
Eine große Zäsur für die Entwicklung
Österreichs brachte der Fall des
Eisernen Vorhanges im Jahr 1989,
weil Österreich sowohl im Norden
(Tschechoslowakei) als auch im Osten
(Ungarn) als auch im Südosten
(Jugoslawien) an kommunistisch
regierte Staaten grenzte.
Diese fundamentalen Veränderungen in
Europa hatten zur Folge, dass im
Jahr 1995 3 neutrale, bzw.
allianzfreie Staaten, nämlich
Österreich, Schweden und Finnland
der Europäischen Union beigetreten
sind.
Heute liegt der Beitritt Österreichs
zur Europäischen Union schon wieder
fast 1 1/2 Jahrzehnte zurück und die
EU ist inzwischen von 15 auf 27
Mitgliedstaaten angewachsen. Diese
15 Jahre waren für Österreich eine
Zeit weiteren wirtschaftlichen
Aufschwunges.
Das Bruttoinlandsproduktes
Österreichs betrug im Vorjahr (2007)
38.400 $/Kopf der Bevölkerung und
ist damit das viert höchste in der
Europäischen Union. Die
Exportleistung Österreichs liegt bei
über 145 Mrd. $, was bedeutet, dass
Österreich 42,3% seines
Bruttoinlandsproduktes im Export
erwirtschaftet.
Meine sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn ich zum Abschluss einen kurzen
Blick auf das Österreich an der
Wende vom Jahr 2008 zum Jahr 2009
werfe, dann habe ich zu berichten,
dass am 28. September 2008
Nationalratswahlen stattgefunden
haben, bei denen 5 Parteien in das
österreichische Parlament gewählt
wurden.
Die Sozialdemokraten bilden die
stärkste und die christdemokratische
Volkspartei zweitstärkste Partei.
Ich habe dem Obmann stärksten
Partei, Minister Faymann den Auftrag
erteilt, Vorschläge für die Bildung
einer neuen Bundesregierung zu
erarbeiten.
Auf der Basis dieser Vorschläge
konnte ich am 2. Dezember 2008 eine
Koalitionsregierung von
Sozialdemokraten und Volkspartei
unter dem Vorsitz von Bundeskanzler
Faymann ernennen und angeloben, die
im österreichischen Nationalrat über
eine stabile Mehrheit verfügt.
Es ist dies eine Bundesregierung,
die eine eindeutige und saubere
Position zu den Verbrechen des
Nationalsozialismus hat, die jede
Form von Antisemitismus mit aller
Entschiedenheit bekämpft, die in der
Lage ist, mit belastenden Themen aus
der Vergangenheit in sensibler Weise
umzugehen und für die sich aus dem
Wissen über den Holocaust die
Verantwortung für das „NIE WIEDER“
ergibt.
Ich darf darauf hinweisen, dass in
das Regierungsprogramm zum Beispiel
die zügige Einrichtung eines
Wiesenthal-Institutes in Österreich,
oder die Erneuerung der
Österreich-Ausstellung in der
Gedenkstätte Auschwitz, sowie
Maßnahmen zur Erhaltung und
Restaurierung jüdischer Friedhöfe
aufgenommen wurden.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren!
Mit der Bildung dieser neuen
österreichischen Bundesregierung
sind wir in das letzte Jahrzehnt vor
dem 100. Geburtstag unserer Republik
eingetreten.
Niemand kann die Geschichte vorher
sehen.
Aber wir kennen die Themen, die auf
der historischen Tagesordnung
stehen. Eine der Hauptaufgaben der
neuen österreichischen
Bundesregierung und auch der
Europäischen Union wird es sein, mit
den Problemen aus einer weltweiten
Finanz- und Wirtschaftskrise mutig
und sachgerecht umzugehen.
Die Weiterentwicklung des
europäischen Integrationsprozesses
ist ebenfalls eine zentrale Aufgabe
der neuen Bundesregierung.
Und auf der internationalen
politischen Agenda steht auch die
Schaffung eines gerechten und
dauerhaften Friedens zwischen
Israelis und Palästinensern, die
beide die Möglichkeit haben müssen,
in selbständigen Staaten in Frieden
und Sicherheit zusammen zu leben.
Es ist mein Wunsch und der Wunsch
Österreichs, dass Israel und
Österreich bei dem zuletzt genannten
Problem, aber auch bei allen anderen
Fragen von beiderseitigem Interesse
in vertrauensvoller, sachlicher und
erfolgreicher Weise zusammen
arbeiten. Die Voraussetzungen dafür
sind gegeben.
Ich danke Ihnen.
Tel Aviv, 16.
Dezember 2008 |