Bedrohlich:
Antisemitismus ohne AntisemitInnen
Das Neue am "neuen" Antisemitismus
sind neben dem Fehlen von deklarierten AntisemitInnen die Reaktionen
auf ihn. Die Verleugnung des Phänomens macht es noch bedrohlicher.
Von Heribert Schiedel
Context XXI 2-3/2004 Ariel
Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien,
ging Anfang Februar angesichts des in Europa immer offener zutage
tretenden Antisemitismus an die gleichgültige Öffentlichkeit: "Wie
lange müssen wir uns noch gefallen lassen, dass unsere Kinder auf
dem Schulhof bespuckt werden und hinter Stacheldraht lernen müssen?"
Muzicant wies auf den "täglichen Stress" hin, dem Juden und Jüdinnen
in Österreich ausgesetzt sind und sprach von einer brisanten
Mischung von alten Nazis, Globalisierungsgegnern, linken
Intellektuellen und Skinheads, die den "neuen" Antisemitismus
tragen. Die heftigen Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten
und zeigten unfreiwillig, wie groß die Bedrohung tatsächlich ist.
Die konservative Tageszeitung Die Presse
titelte am 3. Februar mit "Ariel Muzicant attackiert die EU und
Österreich" und wusste von "schwere(n) Angriffe(n) gegen Prodi, die
EU und Österreich" zu berichten. Damit war die alte rhetorische
Figur des (jüdischen) Nestbeschmutzers in Stellung gebracht. Ob
Waldheim oder Haider, stets wurde aus der Kritik an antisemitischen
Äußerungen ein Angriff auf Österreich, seine Bürgerinnen zu Opfern.
Dass Antisemitinnen sich von Juden und Jüdinnen verfolgt fühlen, ist
eine der subjektiven Wahrheiten ihres Wahns. Dass aber alle zur
Verteidigung der österreichischen Heimat vor jüdischen Angriffen
zusammenrücken sollen, zeigt den Ernst der Lage an.
Verfolgende Unschuld Am 13. Februar antwortete
Günther J. Wolf im Anzeiger für den Bezirk Bludenz auf die
"unqualifizierten Aussagen eines sogenannten Würdenträgers und
Kulturrepräsentanten, der immerhin österreichischer Staatsbürger
ist". Der eigentlich banale Hinweis auf die österreichische
Staatsbürgerschaft Muzicants hat in Wahrheit System. Er zielt vor
dem Hintergrund des jüdischen Angriffs aufs Gemeinwohl auf den
Verdacht der nationalen Illoyalität der Juden und Jüdinnen, jener
(ohnehin nur abstrakten) Staatsbürgerinnen bis auf Widerruf. Schon
1970 stellte die Österreichische Volkspartei dem
sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Bruno Kreisky den "echten
Österreicher" Klaus gegenüber. Und Jörg Haider meinte (in der ZiB 2
am 16. 3. 2001), dass Muzicant "kein guter Österreicher" sei.
Vor dem Hintergrund seiner eigenen Aufwallung fragt
sich Wolf, ob "Herr Muzicant (...) Öl in ein schwelendes Feuer
gießen (wollte)" und "ob er nicht mit seinem unqualifizierten
Rundumschlägen hier mit der brennenden Lunte am Pulverfass
herumspielt." Weil es Antisemitinnen sind, die Juden und Jüdinnen
für den Hass, der ihnen entgegenschlägt, verantwortlich machen, ist
nun die obligate Distanzierung fällig: "Um hier nicht eines wie
immer gearteten Antisemitismus verdächtigt zu werden: Das was in
unseren Breiten den Juden unter dem Nazi-Regime angetan wurde, war
und bleibt ein himmelschreiender Frevel und ein Verbrechen an der
Menschheit." Aber bei der Frage, was getan werden muss, "dass so
etwas nie mehr geschieht", ist Wolf schon wieder beim Verhalten der
Opfer angelangt: "Dazu müssen sich alle Menschen - sowohl die Juden
als auch die Völker der Erde fragen, warum es ausgerechnet der
Antisemitismus ist, der in der Geschichte immer wieder neu aufflammt
und neue Nahrung erhält." Tatsächlich zeichnet es den Antisemitismus
aus, dass ihm die Verfolgungsgeschichte selbst zur Legitimation
neuer Verfolgung dient. Irgendwas muss ja dran sein, wenn die
"Völker der Erde" immer wieder Pogrome veranstalten: "Nun - es ist
eine Tragik: Das Thema Antisemitismus beschäftigt die Welt seit
Beginn der ersten und zweiten Zeitrechnung. Warum wohl?" Die Antwort
denken sich die Leserinnen selbst dazu. "... so genannte
antisemitische Vorfälle" Unter dem Titel
"Antisemitismus-Vorwürfe gegen Österreich sind haltlos" antwortete
das ÖVP-Organ Neues Volksblatt am 17. Februar auf die
jüdische Nestbeschmutzung. Während etwa das Forum gegen
Antisemitismus für 2003 von einer mehr als 30prozentigen
Steigerung der antisemitischen Vorfälle spricht, hält man sich hier
an das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Europäische
Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
(EUMC), die beide die "Behauptungen jüdischer Vertreter, wonach die
Zahl antisemitischer Zwischenfälle in Österreich zugenommen haben",
nicht bestätigen wollten. Die Berufung auf diese Entlastungszeugen
kommt nicht von ungefähr: Das EUMC hat seine Bereitschaft zur
Wahrnehmung von Antisemitismus jüngst etwa mit seiner Unterdrückung
der Ergebnisse einer Studie des Berliner Zentrums für
Antisemitismusforschung unter Beweis gestellt. Und die
heimischen Verfassungsschützer stützen sich in ihren Aussagen auf
Anzeigen. Der hartnäckigen, weil
entlastenden Legende, dass Antisemitismus auch jenseits seiner
nationalsozialistischen Artikulationsformen in Österreich strafbar
ist, hängt auch Manfred Maurer im Neuen Volksblatt an:
"Antisemitische Äußerungen sind freilich auch strafbar und wären
somit im Fall einer Anzeige in der Bilanz des Verfassungsschutzes.
Dort aber ist nur eine Rückläufigkeit antisemitischer Vorfälle
evident." Nun gäbe es zwar neben dem NS-Verbotsgesetz das Verbot der
Verhetzung (§283 StGB), jedoch wird es nur in den seltensten Fällen
judiziert. Der Grund dafür liegt neben der verwaschenen Formulierung
im StGB in der weit verbreiteten Unfähigkeit, Antisemitismus auch
jenseits vom offenen Aufruf zum Pogrom zu identifizieren.
Die Tatsache, dass hierzulande (fast) keine
Antisemitinnen sich vor Gericht verantworten müssen, wird zum Beleg
dafür, dass es gar keine gibt. In seiner Erfolgsmeldung belegt
Maurer auch gleich, dass diese Unfähigkeit, Antisemitismus zu
erkennen, einem bösen Unwillen entspringt: "Österreich wird also
nicht das große Thema der Antisemitismuskonferenz (in Brüssel, Anm.
H. S.) sein können. Vielmehr wird es zunächst um eine klare
Definition gehen müssen. Denn nicht alles, das antisemitisch genannt
wird, ist rassistischer Judenhass. Viele, wenn nicht die meisten so
genannten antisemitischen Vorfälle haben etwas zu tun mit der
aktuellen israelischen Politik. Nein, die (Un)Taten Scharons
rechtfertigen keine Verbrechen. Aber man wird darüber reden müssen."
Ist der Antisemitismus einmal auf den rassistischen Judenhass
reduziert, dann wird man wohl auch über den blutrünstigen
Kindermörder Sharon, der die nur sogenannten antisemitischen
Vorfälle provoziert, reden dürfen. Und das, ohne dass man gleich als
Antisemitin erscheint.
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