Ruth Dreifuss militant:
Von
links im Stich gelassen - von rechts angegriffen
Ruth Dreifuss wird von links im Stich gelassen und von rechts angegriffen.
Nach Blochers Kandidatur steht die Bundespräsidentin allein da.
Von Markus Schneider
Sie sei nur Ministerin, aber eine
militante. Zu ihren Parteifreunden sagt sie gern: «Hört endlich auf, mich
mit Lionel Jospin zu vergleichen. Hört auch auf, Moritz Leuenberger mit Tony
Blair zu vergleichen.» Sie beide seien keine Parteiführer, nur Minister.
Militante Minister.
Wenn sie aber befürchten müsste, dass
sie auf Granit beisst? Wenn sie sehen würde, dass jemand anders an ihrer
Stelle mehr herausholen könnte? Oder wenn sie das Gefühl gewinnen würde,
dass man sich im Bundesrat nicht mehr zu einer sozial tragfähigen
Konkordanzpolitik zusammenraufen könnte? Was dann? Dann würde sie
zurücktreten, sofort.
Sie sei doch keine Gefangene ihres Amts, sagte La Ministre-militante Ruth
Dreifuss jedem, der es hören wollte. Und sie sagte ihre Worte so, dass man
ihr sie glaubte.
Ihre bürgerlichen Kollegen im Bundesrat jedenfalls haben sie verstanden.
«Sie drohte: Entweder gebt ihr mir beim flexiblen Rentenalter nach, oder ich
trete vor den Wahlen mit Protest zurück», ist im Departement Villiger zu
hören.
Die Antwort des Bundesrats erfolgte
nach den Wahlen, dafür aber Schlag auf Schlag. Am Mittwoch, 17. November,
lief Ruth Dreifuss ein erstes Mal auf. «Kaltschnäuzig», weiss die Zürcher
SP-Nationalrätin Christine Goll, sei ihr Vorstoss nach einkommensabhängigen
Krankenkassenprämien im Bundesrat abgewiesen worden.
Eine Woche später, am Mittwoch, 24. November, folgte bereits die zweite
Konfrontation: Die beiden FDP-Bundesräte Kaspar Villiger und Pascal
Couchepin forderten – orchestriert von einer «Blick»-Schlagzeile auf Seite 1
– das «AHV-Alter 66». Zwei Tage darauf eröffnete Christoph Blocher, er werde
als Bundesrats kandidieren – gegen Ruth Dreifuss, allenfalls gegen Moritz
Leuenberger.
Damit ist Ruth Dreifuss ihres letzten Mittels beraubt worden. Aus eigenem
Antrieb zurücktreten kann sie nicht mehr. Sie ist zur Militanz verdammt.
Nervös sei sie deswegen nicht geworden.
Sie werde überhaupt nie nervös, sagen ihre Leute. Dasselbe bezeugen ihre
politischen Gegenspielerinnen. «Frau Dreifuss will ihre Linie bei der AHV
durchziehen», staunt FDP-Nationalrätin Christine Egerszegi, die sachlich mit
ihr überhaupt nicht einverstanden ist, «ich bewundere das.»
Als Ministerin setzte sich Ruth Dreifuss militante Ziele, die sie als
normale Politikerin verteufeln würde. Das AHV-Alter für Frauen setzte sie
von 62 schrittweise auf 64 und – mit der von Ruth Dreifuss geplanten 11.
AHV-Revision – gar auf 65 herauf, was sicher nicht das Ziel der einstigen
Gewerkschaftsfunktionärin war.
Warum war sie bislang zu dem
«Sozialabbau für die Frauen» bereit? Weil sie an die Konkordanz geglaubt
hatte.
«Der Schlüssel zu unserem Regierungssystem ist die Freiheit», tröstet Ruth
Dreifuss ihre Parteifreundinnen gerne. «Die Partei hat ihre Rolle, ich habe
meine Rolle. Ich muss frei sein, im Kreis des Bundesrats das Beste
herauszuholen. Und die Partei muss frei sein, unabhängig von mir ebenfalls
das Beste zu erreichen.»
Beim AHV-Alter ging Ruth Dreifuss einen
politischen Kompromiss ein – und wurde verschaukelt. Nicht von ihrer Partei,
von ihren Kollegen im Bundesrat. Am Mittwoch, 8. April 1998, sprach sich der
Bundesrat über die 11. AHV-Revision aus. Es wurde beschlossen, dass das
AHV-Alter auch für Frauen auf 65 Jahre angehoben wird, was jährlich 400
Millionen Franken spart. Im Gegenzug erhielt Ruth Dreifuss aber den
Freipass, das Rentenalter für Frauen und Männer zu flexibilisieren, und
bekam einen Kostenrahmen von 900 Millionen Franken. Pikant: An der Sitzung
nahm – erstmals – der neue FDP-Minister Pascal Couchepin teil. Er soll sich,
wie es sich für den Neuling ziemt, aber ruhig verhalten haben.
Das Publikum war verdutzt. «Der Bundesrat entschied sich für die Option
Mehrausgaben», meinte FDP-Ständerätin Vreni Spoerry. «Ruth Dreifuss ist ein
Phänomen», staunte CVP-Nationalrat Norbert Hochreutener. In einer Zeit der
ausgehenden Mittel schaffe es die Sozialministerin immer wieder, den
Sozialstaat «leicht» auszubauen.
Ruth Dreifuss war nicht begeistert,
aber zufrieden. Mit 900 Millionen Franken pro Jahr in Aussicht, mit denen
sie ein flexibles Rentenalter gestalten könnte, zog sie in einen
Abstimmungskampf gegen ihre eigene Partei. Die SP wollte mit einer
«Auffanginitiative» das AHV-Alter für Frauen bei 62 Jahren konservieren.
So gut es ging, versuchte sich Ruth Dreifuss aus dem Abstimmungskampf
herauszuhalten. Aber sie unterzog sich dem Kollegialitätsprinzip und liess
ein paar offizielle Auftritte über sich ergehen, an denen sie brav gegen die
Initiative Stellung bezog. Prompt wurde ein Zitat von ihr vom bürgerlichen
Komitee, das die «AHV-Aushöhlungsinitiative» bekämpfte, für eine
Inserate-Kampagne missbraucht: «Die Initiative ist rückwärts gewandt, sehr
teuer und gibt keine Antwort auf die Zukunft», sagte SP-Bundesrätin Ruth
Dreifuss laut Inserat zur SP-Initiative.
Vor allem in der welschen Schweiz kam
es zu einer linken Protestwelle gegen die linke Ruth Dreifuss. Genossinnen
und Genossen schrieben offene Briefe, und die frisch gewählte SP-Präsidentin
Ursula Koch reagierte via «Tages-Anzeiger»: «Natürlich habe ich gehofft,
dass Ruth Dreifuss ihre persönliche Haltung zur Initiative dargestellt
hätte. Otto Stich hätte sicher anders gehandelt.»
Die Genfer SP-Bundesrätin dagegen verhielt sich kollegial – kollegial
gegenüber dem Bundesrat. Und die SP verlor die Volksabstimmung: 58 Prozent
sagten am 27. September 1998 Nein zu ihrer «AHV-Auffanginitiative».
Sechs Monate später, am Mittwoch, 31. März 1999, kam die 11. AHV-Revision
erneut vor den Bundesrat. Dabei erlebte Ruth Dreifuss eine ihrer
folgenschwersten Niederlagen im Siebnergremium: Die 900 Millionen Franken,
die ihr exakt ein Jahr zuvor zur Gestaltung des flexiblen Rentenalters
zugesprochen wurden, strich ihr die bürgerliche Bundesratsmehrheit auf 400
Millionen zusammen.
Ein paar Tage später demonstrierte die
Sozialministerin an der Pressekonferenz freimütig: sie war frustriert,
erzürnt, demoralisiert. Am 1. Mai erfolgte ihr nächster Auftritt, an dem sie
zeigte, wie sie sich vom Bundesrat hintergangen fühlte. Vor
Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in Grenchen nahm sie kein Blatt vor
den Mund: «Ich akzeptiere diese Wende nicht. Ich setze auf die politische
Vernunft und werde alles daran setzen, die Landesregierung auf den
sozialeren Weg zurückzuführen.»
Das Erstaunliche an der Rede bestand aus ihrem Echo. Es blieb aus. Die
bürgerlichen Parteien beklagten keine «Verletzung des
Kollegialitätsprinzips». Und auch ihre Partei hat nicht reagiert, was Ruth
Dreifuss und ihre Berater nicht begreifen konnten: «Sie hat der SP kurz vor
den Wahlen einen Ball zugespielt – doch die Partei nahm ihn nicht auf.»
Nur wenig später, am 13. Juni, erlebte
Ruth Dreifuss ihr Waterloo: Die Mutterschaftsversicherung, das Uranliegen
von Ruth Dreifuss, wurde vom Volk abgeschmettert – mit mehr als 61 Prozent
Nein-Stimmen.
Konsterniert waren die Welschen und sind es bis heute. «Ruth Dreifuss
reagierte unerträglich kühl», kritisiert das welsche Magazin «L’Hebdo» in
seiner jüngsten Nummer. «Sie fand keine Worte, um die abgrundtiefe
Enttäuschung der Linken und der Frauen auszudrücken. Sie sprach nicht wie
Delamuraz nach dem EWR-Nein von einem schwarzen Sonntag, im Gegenteil. Sie
stimmte den Refrain an, den man von ihr nur zu gut kennt: Kehren wir zurück
zur Arbeit und stellen wir uns Sisyphus glücklich vor.»
Nach der Niederlage bei der Mutterschaftsversicherung wandte sich Dreifuss
wieder der AHV-Revision zu. Zunächst erhielt sie eine Schonfrist. «Bis
Sommer 1999» hätte sie die Botschaft zur 11. AHV-Revision abschliessen
sollen. Doch weil in der Zwischenzeit die Wahlen vom 24. Oktober nahten,
verloren die übrigen Bundesräte die Lust, der SP zu einem willkommenen
Wahlkampfschlager zu verhelfen.
Prompt verschlief die SP das Thema.
Zwar gab es unter der Leitung der Zürcher SP-Nationalrätin Christine Goll
eine Arbeitsgruppe, die ein ausführliches Positionspapier ausarbeitete. Der
erste Satz lautete: «Die 11. AHV-Revision droht zu einer reinen Sparübung zu
verkommen, falls sich die bürgerliche Mehrheit des Bundesrates mit ihren
Vorschlägen durchsetzen kann» – und stellte die Lage von Ruth Dreifuss arg
verharmlosend dar. Die bürgerliche Mehrheit des Bundesrates hatte die
Sparübung bereits beschlossen. Höchstens der Druck der Partei und der
Öffentlichkeit hätte Ruth Dreifuss helfen können, die Meinung im Bundesrat
zu wenden. Doch nichts passierte. «Wir haben keine mediale Präsenz
erreicht», gibt Goll rückblickend zu.
Am Freitag, 8. Oktober, als Ruth Dreifuss die neuesten Krankenkassenprämien
präsentierte, spielt die Sozialministerin der SP kurz vor dem Wahltermin das
nächste Wahlkampfthema zu: Sie werde dem Bundesrat vorschlagen, die
unsozialen Kopfprämien abzuschaffen, und der SP-Gesundheitsinitiative einen
Gegenvorschlag mit einkommensabhängigen Prämien gegenüberstellen.
Vergeblich. Die Sozialdemokratische
Partei der Schweiz hat es verpasst, die kritische Lage ihrer Bundesrätin
wählerwirksam zu thematisieren. Ruth Dreifuss tat, was ihr übrig blieb: Mit
einer launischen Vorstellung in Viktor Giaccobos «Spätprogramm» gab sie den
einzigen vollends gelungenen Auftritt der SP im Wahlkampf 99.
Die Quittung: Die SP stagnierte bei den Wahlen – und ihre Sozialministerin
kam infolge des Wahlsieges der SVP unter zunehmenden Druck der bürgerlichen
Mehrheit im Bundesrat.
Einkommensabhängige
Krankenkassenprämien nach SP-Muster? Sicher nicht. Stattdessen trat Pascal
Couchepin auf den Plan und schlug vor, die heutigen Einheitsprämien neu
altersabhängig zu gestalten. Die Alten, die im Durchschnitt viel reicher als
die Jungen sind, sollen auch höhere Prämien zahlen als die Jungen, die im
Durchschnitt viel tiefere Krankheitskosten verursachen. Ruth Dreifuss fasste
die Gegenattacke auf, wie sie nicht unbedingt gemeint war: als Provokation.
Flexibles Rentenalter mit Mehrausgaben nach Dreifuss-Manier? Sicher nicht.
Stattdessen mahnten die beiden FDP-Bundesräte Villiger und Couchepin, sich
auf die schwierige Phase von 2010 bis 2025 bereits heute vorzubereiten.
Deswegen sollen die Renten künftig nur an die Teuerung, aber nicht mehr an
die Lohnentwicklung angepasst werden (Abschaffung des Mischindexes). Zudem
soll das AHV-Alter sogar auf 66 Jahre erhöht werden.
Ruth Dreifuss fasste auch diese Attacke
auf, wie sie wohl kaum gemeint war: als Kündigung der Konkordanz. Der Eclat
folgte zwei Tage darauf: Christoph Blocher kündigte die Konkordanz. Er will
in den Bundesrat. An Stelle von Ruth Dreifuss.
[facts.ch]