In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu
verstehen, daß jüdische und israelische Erinnerungen nicht in denselben
Bahnen verlaufen. Oft wird den Israelis vorgeworfen, daß sie nicht
imstande seien, den Holocaust zu universalisieren; daß sie ihn bloß als
das traumatische Ereignis der jüdischen Geschichte betrachteten und
keine universellen Lehren aus ihm ziehen könnten. Natürlich ist da etwas
Wahres dran. Wie könnte es für die Überlebenden und deren Angehörige
auch anders sein?
Kompliziert wird diese Sichtweise jedoch,
wenn man den Konflikt im Kosovo mitbedenkt. Dort hat der „Westen“
definiert, wer gut und wer böse sei, wer Licht und Dunkel, Zivilisation
und Barbarei verkörpere: Die Bösen sind die Serben. Für die meisten
Juden waren aber gerade die Serben die Guten in den Zeiten des
Holocausts. Sie waren es, die Juden vor Kroaten und Albanern retteten.
Und haben nicht tapfere Partisanen in Serbien den Deutschen hartnäckig
Widerstand geleistet? Wurde Belgrad nicht schon von den Nazis
bombardiert?
Diese Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
bestimmen das Bild von den Serben, wie es viele Juden und Israelis heute
noch sehen: Ein Bild, das natürlich nachhaltig gestört wurde von den
ersten Aufnahmen der Flüchtlingsströme aus dem Kosovo. Israelische
Nachrichtensprecher konnten denen von CNN, BBC und Sky
News nicht nachstehen, welche, ganz im Einklang mit den Politikern,
von einer Wiederholung des Holocausts sprachen. „Nicht noch einmal!“
schallte es aus allen westlichen Pressekonferenzen und
Nachrichtensendungen. Sogar das neue Deutschland kämpfte diesmal an der
Seite des Lichts gegen die Mächte der Dunkelheit, und dieses Deutschland
rechtfertigte sein Handeln mit dem Verweis auf seine Rolle in den Zeiten
der Finsternis. Der neue „militärische Humanismus“ der Nato befreite nun
nach mehr als fünfzig Jahren Auschwitz. Die Juden Europas wurden nun
endlich, auch unter Mitwirkung der Bundeswehr, gerettet. Konnte
Israel den Deutschen bei der Rettung der „Juden-Kosovaren“ da
nachstehen?
Überlebende des Holocausts kamen im
israelischen Fernsehen zu Wort und unterstützten die Auffassung, daß die
Serben, auch wenn sie einst Freunde der Juden waren, nun Nazis seien und
Moslems (die „aktuellen“ Juden) vertrieben und ermordeten. Für viele
Israelis war dieser Meinungsumschwung leicht nachzuvollziehen. Sie
demonstrierten und spendeten; auch wurde ein Feldlazarett nach
Mazedonien entsandt. Die Solidarisierung mit den Kosovaren erlaubt es
vielen Juden in Israel, ihr partikularistisches
Gedächtnis vom Holocaust mit einem universalistischen und
kosmopolitischen Humanismus zu verbinden – ohne daß diese Haltungen, wie
im Konflikt vor der eigenen Haustür, spannungsgeladen aufeinanderprallen
müssen.
Aber diese nachgerade ideale Lösung, in der
die Spannung zwischen lokalem und globalem Gedächtnis so elegant
aufgehoben werden kann, entpuppt sich als Rechnung ohne die
konkurrierenden Erinnerungen: Palästinenser, die im Fernsehen die
Flüchtlingsströme der Kosovaren sahen, erinnerten sich nicht an den
Holocaust der Juden, sondern an die palästinensischen Flüchtlinge von
1948, an deren Exil und deren Wunsch, in eine wirkliche oder imaginierte
Heimat zurückzukehren.
Eine ganz eigene Art der Erinnerungspolitik
betreiben die israelischen Rechten und manche ihrer Repräsentanten in
der israelischen Regierung: In diesem Milieu versteht man sehr gut, daß
es historische Rechte, Besitzansprüche und heilige Stätten auch dort
geben kann, wo man selber zur ethnischen Minderheit gehört.
Wenn die Serben nur 10 Prozent der
Bevölkerung im Kosovo stellen, der Kosovo aber die Basis ihrer
ethnischen und religiösen Identität schlechthin ist, dann erblicken
viele Israelis, die in Hebron und in Ostjerusalem auf dem Boden ihrer
historischen Ansprüche siedeln, in den Serben die Seelenverwandten.
„Solange ich mit euch bin, wird niemand es wagen, euch zu schlagen“,
hallt es auch in der israelischen Erinnerung. Wenn die Kosovaren einen
Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker haben, nur weil sie
eine ethnische Mehrheit bilden, dann haben auch Palästinenser das
Selbstbestimmungsrecht – und dies nicht nur in den von
Israel
besetzten Gebieten, die für das national-religiöse Milieu in
Israel
ebenso heilig sind wie für viele Serben das Kosovo, sondern auch in
manchen Gegenden Israels, in Galiläa etwa, wo die arabische Bevölkerung
die ethnische Mehrheit stellt. Wenn die Nato heute Serbien bombardiert,
kann sie morgen Israel
bombardieren: das ist für manchen ängstlichen oder aufrechten Rechten in
Israel
durchaus ein Argument.
Das israelische Gedächtnis löst hier das
jüdische Gedächtnis ab. Wo in den postnationalen Konflikten, die sich
über einen „militärischen Humanismus“ definieren, das Freund-Feind-Bild
mythologisch gezeichnet wird (Gut gegen Böse, Licht gegen Dunkelheit,
Zivilisation gegen Barbarei), was es den Beteiligten möglich macht, nun
endlich, nach mehr als fünfzig Jahren, das zu tun, was man damals nicht
tat, da sind in nationalen und ethnischen Konflikten die Freunde und
Feinde im konkreten Hier und Jetzt. Der rechte Außenminister Scharon
fürchtet ein terroristisches Großalbanien, welches für
Israel gefährlich werden könnte; Netanjahu fürchtet die
Konsequenzen einer Unabhängigkeitserklärung Arafats und die Reaktion der
Nato auf eventuelle israelische Konsequenzen.
Israelis und Juden haben nicht immer
dieselben Erinnerungen und politischen Interessen. Dazu kommt, daß in
Israel Wahlkampf ist und die Stimmabgabe der Einwanderer aus der
ehemaligen Sowjetunion entscheidend sein dürfte. Viele dieser
Einwanderer entdeckten ihre russische Identität erst nach ihrer Ankunft
– was auch bedeuten mag, daß sie es schwierig finden, begeistert zu sein
über die Bombardierung Serbiens. Für sie gehört die Ukraine den
Ukrainern, Estland den Esten, Serbien den Serben und
Israel den Juden. Deswegen ist es kein Zufall, daß es die
russischsprachigen Zeitungen waren, die Scharons Warnung vor einem
terroristischen Großalbanien mehr als ernst nahmen.
Natürlich ist es zu einfach, all diese
Aspekte auf eine bloße Wahlkampf-Spekulation zu reduzieren. Doch der Weg
vom Kosovo nach Hebron zeigt für
Israel, daß Erinnerungen nicht einfach
instrumentalisiert werden können und daß ein kollektives Gedächtnis
weder homogen noch hegemonial beherrschbar ist. Insbesondere erweist es
sich, daß die Spannungen zwischen dem lokalen und dem globalen
Gedächtnis eine der geistigen Wurzeln Israels ist und sein muß, und daß
jüdische und israelische Erinnerungen miteinander konkurrieren.
Gewiß wird es diese Spannung sein, welche die
politischen, ethischen und kulturellen Konflikte in
Israel für die nächste Zeit mitbestimmen wird. Eben deshalb
verfolgen die Israelis so gespannt die Bombardierung Serbiens und die
Flüchtlingsströme aus dem Kosovo. Und deshalb wissen sie auch nicht so
genau, wie die balkanischen Ereignisse zu beurteilen sind.
NATAN SZNAIDER
Der Autor ist Professor für Soziologie in Tel Aviv.