Gerechtigkeit erhöht ein Volk,
aber die Sünde ist der Leute Verderben
(Spr.14.34)
Über das Verhältnis eines Volkes zu seinen Verbrechern
Herbert Schneider, Richter an der Zentralen Stelle der
Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg
Das Motto dieses Vortrages, ist
ein Spruch aus der Weisheit Salomos. Dieser verweist uns auf den
Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit, die Menschen untereinander üben
oder vernachlässigen und der Gerechtigkeit vor Gott.
Die Weisheitssentenz setzt voraus,
daß die Übeltaten der anderen uns in einem tieferen Sinn etwas angehen,
als wir uns in trivialer oder sozialwissenschaftlicher Rationalität
eingestehen. Denn es ist nicht eine Gerechtigkeit der jeweils einzelnen,
deren Summe dann das Volk erhöht - so einfach und so privat ist
Gerechtigkeit nicht zu haben.
Gerechtigkeit, die ein Volk erhöht,
ist auch nicht das exklusive Werk von Gerechten, die selbst vorab
bestimmen, wer dazu gehören darf, sondern ein Gemeinschaftsprojekt des
ganzen Volkes, in welchem darauf Bedacht genommen wird, kein Glied,
keine Gruppe zu vernachlässigen, zu diskriminieren und an den Rand zu
drängen. Erleidet die nach menschlichen Maßstäben und Möglichkeiten
gerechte Ordnung gleichwohl Schaden, so ist die Untat immer zugleich
auch die Frage an die Rechtsgenossen nach ihrer Ordnung und nach ihrem
Verhalten. Der zweite Teil des Mottos zeigt uns die Kehrseite der
Gerechtigkeit: in der Sünde werden aus dem Volk "Leute", d.h. Einzelne,
die allein schon durch ihre Verweigerung gegenüber dem
Gemeinschaftsprojekt außerhalb der Gerechtigkeit stehen.
Das Judentum kennt den Begriff des
Gerechten. Er hat auch eine Entsprechung bei den Christen. Gemeinsam ist
beiden Varianten sicher eines: Gerechtigkeit oder Rechtfertigung wird
durch selbstbezügliche Fehlerfreiheit des Individuums verfehlt, vielmehr
nur erlangt durch Hingabe - die Haltung, die nicht nur
"sozialverträgliches", d.h. begrenztes, abgesichertes Engagement
mobilisiert, sondern weiß: nur wenn wir den Ernstfall miteinbeziehen und
uns vorbehaltlos dem anvertrauen, der uns den Maßstab der Gerechtigkeit
gibt, können wir die Abgründe überwinden.
Die Zeit, bevor die Nazis zur Macht
kamen, war durch einen extremen und orientierungslosen Individualismus
weiter Kreise geprägt. Diesem standen starke Gruppen mit einer großen
Sehnsucht nach Einheit, nach Selbstfindung und Führung gegenüber, auch
mit Vorstellungen von Heil, in denen Zeitlich-Politisches und
Überweltlich-Quasireligiöses eine merkwürdige Verbindung eingegangen
waren. Romano Guardini hat dies in seiner gleich nach dem Krieg
erschienenen Schrift ("Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und
Politik") eindrücklich dargestellt, ebenso Ernst Wiechert in seiner
Münchner "Rede an die deutsche Jugend" im Herbst 1945.
Diese Sehnsucht als Triebkraft der
Entwicklung näher zu charakterisieren, könnte uns tief in die Geschichte
führen. Wir müssen uns auf die Betrachtung der Situation beschränken,
bevor der Ruf nach dem Heil Erfolg hatte, den Zustand des Bewußtseins
also, der die Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit schon zuvor
geprägt hatte:
Eine Vorstellung von Freiheit,
die sich in der Sicherung des Gemeinwesens gegenüber äußeren Feinden
erschöpft und ein Reservat deutscher Innerlichkeit schützt.
Der Gedanke, daß Deutschland
letztlich ganz auf sich selbst gestellt ist und der Einzelne entweder
ganz in der "Volksgemeinschaft" aufgeht oder aus ihr ausgestoßen wird.
Eine Angst vor Überfremdung,
die nicht mehr nur "Welsches" und "Ultramontanes" abwehrte, sondern seit
einigen Jahrzehnten eine biologistische Komponente erhalten hatte. Diese
war nicht nur rassistisch, sondern auch eugenisch, konnte also auch
Angehörige der eigenen Rasse treffen.
Die tiefe Überzeugung,
besonders edel und darum zu Höherem, nämlich zur Hegemonie berufen zu
sein.
Die Vorstellung von einem
Reich, in dem die tausendjährige Geschichte des Auseinanderfallens von
Idee und Realität schlagartig und dann auf immer aufgehoben sein sollte.
Die Überzeugung, mit all dem
auf der Seite der Wahrheit und im Einklang mit dem Sinn der Geschichte
zu stehen.
Dieser Hintergrund ist geeignet, ein
ganzes Volk auf Vordermann zu bringen. (Man kann diese mentale
Ausrichtung der Massen nur mit einem Ausdruck vom Kasernenhof treffend
benennen). Abweichler haben da einen schweren Stand: Zum Beispiel
Demokratie leben, auch wenn nationale Kreise es für schädlich halten.
Oder: wirtschaftliche Interessen mit Streik durchsetzen. Oder: Gewalt
von rechts nicht als etwas Ehrenwertes behandeln.
Die Rechtswirklichkeit der Weimarer
Zeit war damit durch ein völkisch-nationales Vorverständnis des Rechts
einseitig geprägt. Gewalt außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols genoß
Duldung. Selbst Demokraten begannen, vorsichtig zu agieren, um sich
nicht in die Ecke der Volksfeinde stellen zu lassen. Offenheit und
Toleranz waren Fehlhaltungen, Pluralität ein Mißstand.
Solchermaßen vorbereitet, fehlte
eigentlich nur noch die autoritäre Instanz, die die Grenze zwischen
Freund und Feind im Innern verbindlich festlegte. Sie kam, diese
Instanz, sie war willkommen und darum wurde sie gerufen. Die Vorstellung
von guten und bösen Mitbürgern und wie man mit letzteren zu verfahren
hatte, war den Menschen nicht fremd. Und sie wollten die klare
Scheidung. Die Ausgrenzung brachte vielen Vorteile. Sie bot starken
ideologischen Halt, vielen sicher auch ein gutes Gewissen, jedenfalls
das falsche Gefühl, von allem, was da geschah, moralisch nicht tangiert
zu sein. Sie legitimierte Vorurteile, bestätigte Überzeugungen. Sie
verunsicherte und korrumpierte diejenigen, die bisher abseits standen,
und sie entmutigte die Ausgegrenzten. Damit war das Gemeinschaftsprojekt
Gerechtigkeit erledigt. Professoren schufen den wissenschaftlichen
Unterbau, praktische Juristen entwickelten viel Kreativität bei der
Umsetzung. Wer nicht eingesperrt oder vertrieben war, fühlte sich wohl.
Ein Gefühl, das sich so tief einprägte, daß sich in der Bundesrepublik
viele noch lange wehmütig daran erinnerten.
Wenn wir heute Betroffenheit über die
Verbrechen der NS-Zeit vermissen und in deren Bekundung oft nur eine
unglaubwürdige Pflichtübung sehen, müssen wir daran denken, daß ehedem
die Voraussetzung für eine Betroffenheit, nämlich die Wahrung der
metaphysischen Verbundenheit aller Menschen untereinander, systematisch
zerstört worden war. Diese Zerstörung war so nachhaltig, daß nach dem
Ende des Terrors die Verbundenheit mit den Mördern größer war als mit
den Opfern. Man muß NS-Verbrecher von Gefangenenfürsorge und
Resozialisierung nicht grundsätzlich ausschließen, aber man kann klare
Prioritäten setzen, und die hätten anders aussehen müssen, als es der
Fall war.
Der Nationalsozialismus ist, so
betrachtet, eine Verkehrung menschlicher Ordnung: Das System gibt nicht
die Antwort auf die Frage, was mit einem Rechtsbrecher zu geschehen
habe, sondern es macht einen Teil des Volkes vorab zu Feinden. Das ist
weit mehr und etwas ganz anderes als nur die Vernachlässigung und
Leugnung der Verbundenheit durch einzelne Glieder gegenüber anderen in
der Rechtsgemeinschaft. Nein, dieses System ist nicht nur schlecht oder
nicht ausreichend gerecht, es erhebt das Gegenteil von Ordnung, nämlich
die Ausgrenzung und Entrechtung, zu ihrem Prinzip, ist also keine
Ordnung. Das geschieht unter dem Vorwand der Problemlösung. Eine Gruppe
von Mitbürgem wird zum Problem erklärt. Es handelt sich dabei um nichts
anderes als die Projektion des eigenen Identitätsproblems eines Teils
des Volkes auf einen anderen Teil. Das Problem der eigenen Identität
kann so nur kaschiert werden. Auf dieser Basis konnte es dann nicht
ausbleiben, daß der Kreis der Auszugrenzenden und Auszusondernden über
die Gruppe der Juden hinaus auf andere Völker und schließlich auf
Gruppen der Restbevölkerung ausgedehnt wurde. Die Identitätsfindung war
so
nicht möglich. Sie wäre auch durch den "Endsieg" nicht geglückt, sondern
endgültig verbaut worden.
Das Ungeheuerliche, Unfassliche des
staatlichen Massenmordes stellte nach dem Zusammenbruch des Regimes den
Menschen des Tätervolkes eine sehr schwere Aufgabe, die sicher nicht
durch eine schnelle Kehrtwendung zu lösen war. Aber auch die
Auseinandersetzung im engen, überschaubaren Bereich von Familie und
Gemeinde fand nicht statt. Ich denke an die sog. Endphasen-Verbrechen,
in denen Träger offizieller Funktionen, aber auch engagierte Bürger,
Reste von Humanität und Vernunft mobilisierten, um sinnloses Töten und
Zerstören zu beenden und eben nicht bis zum letzten Atemzug ins
Verderben zu marschieren. Die meisten bezahlten mit ihrem Leben, das
ihnen ohne formal-rechtliche Mindestgarantien genommen wurde.
Über diese Tragödien wird bis heute meist geschwiegen. An ihnen aber
hätte sich Besinnung auf die eigene Verstrickung, auf die eigene
moralische Schuld, am leichtesten beginnen lassen, denn es war
unmittelbares Erleben und die Opfer waren Verwandte und Nachbarn. Von
dieser Auseinandersetzung hätte zwanglos ein gedanklicher Weg weiter zu
den größeren Zusammenhängen und damit zu den großen Verbrechen geführt.
Aber es war eine merkwürdige Haltung, die diese Verbrechen durch eine
kategorische Forderung nach Versöhnung mit einer Blockade des
Verschweigens umgab. Auch dies war eine Fehlentwicklung, die einer
Normalisierung des Rechtsbewußtseins zuwiderlief. Die
Nachkriegsgesetzgebung und -rechtsprechung trugen dieser Einstellung
gegenüber den Endphasen-Verbrechen übrigens durch Amnestiegesetze und
milde Urteile Rechnung. Ein besonderes Defizit an Urteilsfähigkeit
bewies der Gesetzgeber dabei, in dem er Straftaten vor und nach dem 8.
Mai 1945 als gleiche Kategorie behandelte.
Nach allem, was geschah, muß man
fragen, wie die Ordnung wiederhergestellt wird.. Genügt dazu der Erlaß
eines Grundgesetzes? Wie geht eine Mentalität, die zuvor das Recht
pervertierte, mit einem der Humanität verpflichteten Grundgesetz um? Hat
sich das Identitätsproblem verflüchtigt oder lebt es überall da fort, wo
die Gesellschaft ein Problem hat?
Etwa im Insistieren auf dem ius
sanguinis bei der Staatsangehörigkeit und in der Anfeindung derer,
die sich für humane Behandlung Fremder einsetzen? Diese Tendenzen
erscheinen noch nicht wirklich so bedrängend, daß bereits der Staat
die Ausgrenzung zum Prinzip erklärt. Aber viele Bürger führen diese
Tendenzen auf ihre Weise in Gedanken, Worten und Taten zu Ende. Und wo
sind die starken gesellschaftlichen Kräfte, die dem so entschieden
entgegentreten, daß jeder, der damit sympathisiert, isoliert ist?
Jedenfalls muß die Frage erlaubt sein, worin sich denn ggfs. der
entscheidende Mentalitätswandel manifestiert habe, wenn er denn
stattgefunden hat. Die Akzeptanz des Grundgesetzes allein reicht sicher
nicht aus. Man kann es gelten lassen und seine Vorteile genießen und
daneben und unter ihm inhumane Vorstellungen pflegen. Etwas anderes aber
ist die aktive Verwirklichung der Aufgabe, die das Grundgesetz stellt.
Ein für die Rechtskultur maßgebender
Wandel der Mentalität müßte sich vor allem in der Einstellung zu den
NS-Verbrechen zeigen. Das ist allenfalls zaghaft und oberflächlich der
Fall. Er wird behindert durch Strategien, den Menschen den Rückzug in
eine ahistorische Position ("Gnade der späten Geburt") zu ermöglichen.
Wo ist die Erkenntnis, daß die
metaphysische Verstrickung der Menschen mit dem Schicksal ihrer
Mitmenschen nicht nur auf der Abszisse der gemeinsamen Gegenwart liegt,
sondern auch auf der Ordinate der Geschichte, mehr als nur
Lippenbekenntnis?
Für das Rechtsdenken und -empfinden
in der Nachkriegszeit war es charakteristisch, zusammengehörende Fragen
grundsätzlich jeweils separat zu regeln, ein "Zusammendenken" gab es
immer nur zum Zweck der Apologie.
Nach dem Krieg fehlte es u.a. an
Menschen. Aber man setzte die, welche sich mit dem Regime in irgendeiner
Weise arrangiert, abgefunden, oder sich ihm angedient hatten, nicht in
Beziehung zu denen, die Deutschland hatten verlassen müssen. Die einen
holte man nach und nach in ihre Positionen zurück, die anderen konnten
unter bestimmten Bedingungen eine Geldentschädigung erhalten, wurden
aber nicht zurückgerufen. Gerechtigkeit hätte alles daran setzen müssen,
die Emigranten zurückzuholen und sie als Garanten eines besseren
Deutschland an maßgebenden Stellen einzusetzen. Das wäre die beste
Wiedergutmachung und der glaubwürdigste Neuanfang gewesen. Gerade im
Bereich des Rechtswesens sind nur wenige Verfolgte auf wichtige Posten
berufen worden. Beispiele sind der Stuttgarter OLG-Präsident Richard
Schmid und der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem - u.a. -
die Zentrale Stelle ihre Entstehung zu verdanken hat.
Die Asymmetrie wird eigentlich erst
recht deutlich, wenn wir uns klar machen, daß im Grunde auf der einen
Seite primär nicht überlebende Emigranten, sondern Ermordete standen,
die Anspruch auf Wiedereinsetzung in ihre Rechte hatten, und daß die in
die Funktionen Berufenen auf der anderen Seite Nutzen aus dem Fehlen
dieser Anwärter und aus den schlechten Bedingungen der Emigranten für
eine Rückkehr zogen. Das gilt generell und unabhängig von der Frage, ob
der einzelne Wiederverwendete eigentlich moralisch-politisch tragbar
war.
Bei der Verfolgung von NS-Straftätern
war man im Beseitigen von Schwierigkeiten und Hindernissen nicht sehr
einfallsreich. Die umständliche gerichtliche Voruntersuchung ließ man
jahrelang bestehen. Alle Taten, außer Mord, ließ man verjähren In
bestimmten Fällen wurde auch die Beihilfe zum Mord unverfolgbar. Die
Ratifizierung des deutsch-französischen Zusatzabkommens zum
Überleitungsvertrag wurde viele Jahre verzögert. Obwohl es für die
meisten Verbrechen keine Tatortzuständigkeit gab und eine
Wohnortzuständigkeit oft nicht bestimmt werden konnte unterblieb eine
Gesetzesänderung, die die Zuständigkeit geschaffen hätte. Als Notbehelf
richtete man eine Behörde - die Zentrale Stelle - ein, die
Vorermittlungen so weit führte, bis eine Zuständigkeit bestimmbar war.
Für die Diener des "Dritten Reiches"
hatte man allerdings nach einer gewissen Schamfrist eine kreative Idee:
das Gesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes.
Daß zur Bewältigung der großen
Aufgabe einer juristischen Aufarbeitung auch die Opferseite gehört,
liegt auf der Hand. Hier schienen unterschiedliche Zuständigkeiten,
besonders auch in der Gesetzgebung, nicht als störend. Niemand kam auf
die Idee, die Ermittlung der Menschenversuche, der Tötung von Patienten
oder der Sterilisation mit der Recherche nach den Schäden für die
Betroffenen und ihre Hinterbliebenen zu verbinden. Bei den Ermittlungen
wegen Tötungen in den Lagern fielen unzählige Erkenntnisse über die
Zwangsarbeit an, und sie hätten im Rahmen der Ermittlungen systematisch
vermehrt werden können. Aber in unserem Rechtssystem ist ein solches
koordiniertes Vorgehen nicht vorgesehen und nicht geschaffen worden.
Deshalb fielen wichtige Opfergruppen durch das Netz der Gesetze.
Wenn es um die rechtspolitische
Bewertung des NS-Unrechts ging, wurden allerdings Verbindungen
hergestellt. Da waren die Verbrechen an
Deutschen das richtige Mittel zur Einordnung deutscher Verbrechen, als
hülfe uns unser eigenes Leid aus unserer Verstrickung in das
Unrechtssystem. Der Bereich der moralischen Verantwortung ist einer
solch vordergründig-rationalistischen Saldierung nicht zugänglich.
Unser Rechtsbewußtsein begnügt sich
weitgehend mit der Vermeidung von Vergehen als Grundlage für ein gutes
Gewissen. Der humane Urgrund des Rechts verlangt aber mehr. Die
Motivation zum aktiven Tun ist es, die Gemeinschaft stiftet und die
Gesellschaft zusammenhält. Das Gute ist eben mehr als das unterlassene
Schlechte. Dieses "Unschlechte" schon das Gute zu nennen, verdient
allerdings das Etikett "banal". Niemanden mehr zu töten, zu versklaven
oder zu quälen, kann nicht die Antwort sein auf das positiv getane Böse,
auf die Massenverbrechen des Staates, auf das Mitmachen seiner Organe
und Helfer und auch nicht auf die unbefohlenen, aber geduldeten, oft
willkommenen Exzesse und Grausamkeiten. Und es ist noch weniger die
angemessene Konsequenz auf das unheilbringende Wegsehen, auf Resignation
und Passivität, eine Form der Beteiligung am Unrecht, die wir gern
verdrängen, die auch kein Paragraph erfassen kann, die aber, wie Ernst
Wiechert sagte, alle, die nicht eingesperrt oder vertrieben waren, mit
dem Unrecht verbindet. Im NS-System, diesem Zustand der Amoralität,
erhielten die ungeschriebenen Grundnormen des Humanen als einzig
verbleibende Richtschnur eine besondere Bedeutung. Mangels einer Rechts-
und Sittenordnung war man auf dieses Fundament zurückverwiesen, man
geriet damit aber auch zugleich ohne weiteres in einen Gegensatz zum
System. Denn Humanität ließ kein anderes Verhalten zu als aktives
Eintreten für das Gute. Die Vermeidung von Vergehen konnte niemandem
mehr ein gutes Gewissen verschaffen. Es ist gewiß ein hoher Anspruch,
den Menschen vor die Alternative von Heroismus und moralischem Versagen
zu stellen. Das Recht verlangt auch nicht den Heroismus und bestraft
nicht das Versagen. Das ist das unvermeidliche Ungenügen jeder
menschlichen Rechtsordnung. Aber zur richtigen Bewertung der Situation
im Unrechtssystem und zur Bestimmung der richtigen Reaktion einer
erneuerten Ordnung auf die Vergangenheit muß man darauf bestehen, daß
dies die Alternative war, vor der jeder stand. Und nichts zeigt denen,
die nicht die Opfer des Systems waren, ihre Abkehr von der Gerechtigkeit
eindringlicher als diese ihre Lage, in der nur Selbstbetrug ein "gutes"
Gewissen verschaffen kann.
Unsere heutige Ordnung stellt uns
nicht mehr vor diese Alternative, ermöglicht und fordert aber mehr als
die banale Vermeidung des Schlechten, vielmehr das positive Engagement
gegen alle Entwicklungen, die noch, trotz aller Gesetze, den Zielen
einer gerechten Gesellschaft zuwiderlaufen. Dieses Gute ist leider immer
noch zu ungewöhnlich, noch zu mühsam, um es banal zu nennen. Das Gute:
Es ist die Einsicht, die Konsequenzen hat, das beispielhafte Tun, das
Maßstäbe setzt, die Umkehr, die sich durch Rücksichtslosigkeit gegenüber
Tabus und Empfindlichkeiten auszeichnet und die den steilen, steinigen
Weg zur Wahrheit nicht scheut.
Ist es möglich, eine Aussage darüber
zu machen, ob die Versuche, dem NS-Unrecht mit den Mitteln der Justiz
gerecht zu werden, über diesen Zweck hinaus im allgemeinen Bewußtsein
etwas bewirkt haben? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Aus der
Sicht eines Mitarbeiters der Zentralen Stelle soll eine erkennbare
Tendenz aus, den komplizierten Zusammenhängen angedeutet werden.
Die Zentrale Stelle wird am 1.
Dezember 1998 vierzig Jahre alt. Sie ist zu einem Symbol für die
Aufklärung der NS-Verbrechen geworden. Die Verfolgung der Verbrechen
begann allerdings, zunächst durch alliierte Vorbehalte eingeschränkt,
bereits im Herbst 1945. Die Ergebnisse befriedigen nicht. Aber auch da,
wo der Abschluß der Verfahren nicht zu einer Ahndung eines Verbrechens
führte, ist es meist weitgehend aufgeklärt, und das bedeutet
mosaikartige Dokumentation weiter Bereiche des Geschehens in der
NS-Zeit. Das Material steht nicht nur der Forschung zur Verfügung, es
gibt auch Bürgern, die sich mit dem Tun ihrer Väter und Großväter
beschäftigen wollen, aber auch Gruppen - den Geschichtswerkstätten, die
sich z.B. mit Lagern in ihrem Wohnort beschäftigen - Auskunft und
Gewißheit, die an die Stelle von Vermutungen tritt. Man hat den
Eindruck, daß jetzt, nach so langer Zeit, eine neue Generation die Kraft
hat, sich den Fakten zu stellen, sie wissen zu wollen, sich mit ihnen
auseinanderzusetzen. Es ist immer wieder eindrucksvoll, zu sehen, wie
ernsthaft diese Recherchen betrieben werden und welche Vorkenntnisse
diese Menschen als Frucht ihrer Studien mitbringen. Man mag diesen
Bemühungen keinen wissenschaftlichen Wert beimessen, aber sie zeigen
einen Wandel im Bewußtsein an. Menschen, die dies tun, verändern das
allgemeine Bewußtsein, auch wenn sie eine kleine Minderheit sind. Das
Wertvollste daran ist, daß es freiwillig geschieht, aus innerer, nicht
aus äußerer Notwendigkeit. Deshalb ist es wichtig, diese Arbeiten auch
in Zukunft zu ermöglichen.
Was wir so lange vermißt haben und
sich nicht entwickeln konnte - es ist jetzt unübersehbar aus dem
Schatten der Verdrängung herausgetreten. Hier wird die mentale
Verarbeitung nicht, wie von manchen befürchtet oder gewünscht,
abgeschlossen, sondern sie tritt in eine neue und wichtige Phase. Wenn
es je eine Hinwendung zur Gerechtigkeit im Sinn unseres Spruchs geben
wird, dann nicht durch spektakuläre öffentliche Aktionen, sondern durch
Besinnung und Erinnerung an das, was sich durch keine Verdrängung und
keinen Schlußstrich aus unserem Leben verbannen läßt.
Dieser Vortrag wurde gehalten
am 25. November 1998 in der ehemaligen Synagoge Affaltrach. Anlaß war
die Präsentation der denkmalpflegerischen Dokumentation des jüdischen
Friedhofs von Affaltrach durch Benjamin Nir und Martin Ritter.
Herbert Schneider war
ursprünglich Richter am Amtsgericht Darmstadt und wurde als Ermittler
abgeordnet zur Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur
Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (abgekürzt
in der Regel als ZStL), deren stellvertretender Leiter er wurde.
Die ZStL stellt, nach erhobener
Anklage den lokalen Staatsanwaltschaften ihr Material zur Verfügung.
Zugleich bietet diese Behörde heute einer Vielzahl von Juristen,
Historikern und sonstigen Wissenschaftlern einen wertvollen Datenbestand
als empirische Grundlage für unterschiedlichste Forschungen.
haGalil onLine - Freitag 09-04-99 |