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Mischle 14-34
Gerechtigkeit erhöht ein Volk,
aber die Sünde ist der Leute Verderben
(Spr.14.34)

Über das Verhältnis eines Volkes zu seinen Verbrechern

Herbert Schneider, Richter an der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg

Das Motto dieses Vortrages, ist ein Spruch aus der Weisheit Salomos. Dieser verweist uns auf den Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit, die Menschen untereinander üben oder vernachlässigen und der Gerechtigkeit vor Gott.

Die Weisheitssentenz setzt voraus, daß die Übeltaten der anderen uns in einem tieferen Sinn etwas angehen, als wir uns in trivialer oder sozialwissenschaftlicher Rationalität eingestehen. Denn es ist nicht eine Gerechtigkeit der jeweils einzelnen, deren Summe dann das Volk erhöht - so einfach und so privat ist Gerechtigkeit nicht zu haben.

Gerechtigkeit, die ein Volk erhöht, ist auch nicht das exklusive Werk von Gerechten, die selbst vorab bestimmen, wer dazu gehören darf, sondern ein Gemeinschaftsprojekt des ganzen Volkes, in welchem darauf Bedacht genommen wird, kein Glied, keine Gruppe zu vernachlässigen, zu diskriminieren und an den Rand zu drängen. Erleidet die nach menschlichen Maßstäben und Möglichkeiten gerechte Ordnung gleichwohl Schaden, so ist die Untat immer zugleich auch die Frage an die Rechtsgenossen nach ihrer Ordnung und nach ihrem Verhalten. Der zweite Teil des Mottos zeigt uns die Kehrseite der Gerechtigkeit: in der Sünde werden aus dem Volk "Leute", d.h. Einzelne, die allein schon durch ihre Verweigerung gegenüber dem Gemeinschaftsprojekt außerhalb der Gerechtigkeit stehen.

Das Judentum kennt den Begriff des Gerechten. Er hat auch eine Entsprechung bei den Christen. Gemeinsam ist beiden Varianten sicher eines: Gerechtigkeit oder Rechtfertigung wird durch selbstbezügliche Fehlerfreiheit des Individuums verfehlt, vielmehr nur erlangt durch Hingabe - die Haltung, die nicht nur "sozialverträgliches", d.h. begrenztes, abgesichertes Engagement mobilisiert, sondern weiß: nur wenn wir den Ernstfall miteinbeziehen und uns vorbehaltlos dem anvertrauen, der uns den Maßstab der Gerechtigkeit gibt, können wir die Abgründe überwinden.

Die Zeit, bevor die Nazis zur Macht kamen, war durch einen extremen und orientierungslosen Individualismus weiter Kreise geprägt. Diesem standen starke Gruppen mit einer großen Sehnsucht nach Einheit, nach Selbstfindung und Führung gegenüber, auch mit Vorstellungen von Heil, in denen Zeitlich-Politisches und Überweltlich-Quasireligiöses eine merkwürdige Verbindung eingegangen waren. Romano Guardini hat dies in seiner gleich nach dem Krieg erschienenen Schrift ("Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik") eindrücklich dargestellt, ebenso Ernst Wiechert in seiner Münchner "Rede an die deutsche Jugend" im Herbst 1945.

Diese Sehnsucht als Triebkraft der Entwicklung näher zu charakterisieren, könnte uns tief in die Geschichte führen. Wir müssen uns auf die Betrachtung der Situation beschränken, bevor der Ruf nach dem Heil Erfolg hatte, den Zustand des Bewußtseins also, der die Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit schon zuvor geprägt hatte:

  • Eine Vorstellung von Freiheit, die sich in der Sicherung des Gemeinwesens gegenüber äußeren Feinden erschöpft und ein Reservat deutscher Innerlichkeit schützt.

  • Der Gedanke, daß Deutschland letztlich ganz auf sich selbst gestellt ist und der Einzelne entweder ganz in der "Volksgemeinschaft" aufgeht oder aus ihr ausgestoßen wird.

  • Eine Angst vor Überfremdung, die nicht mehr nur "Welsches" und "Ultramontanes" abwehrte, sondern seit einigen Jahrzehnten eine biologistische Komponente erhalten hatte. Diese war nicht nur rassistisch, sondern auch eugenisch, konnte also auch Angehörige der eigenen Rasse treffen.

  • Die tiefe Überzeugung, besonders edel und darum zu Höherem, nämlich zur Hegemonie berufen zu sein.

  • Die Vorstellung von einem Reich, in dem die tausendjährige Geschichte des Auseinanderfallens von Idee und Realität schlagartig und dann auf immer aufgehoben sein sollte.

  • Die Überzeugung, mit all dem auf der Seite der Wahrheit und im Einklang mit dem Sinn der Geschichte zu stehen.

Dieser Hintergrund ist geeignet, ein ganzes Volk auf Vordermann zu bringen. (Man kann diese mentale Ausrichtung der Massen nur mit einem Ausdruck vom Kasernenhof treffend benennen). Abweichler haben da einen schweren Stand: Zum Beispiel Demokratie leben, auch wenn nationale Kreise es für schädlich halten. Oder: wirtschaftliche Interessen mit Streik durchsetzen. Oder: Gewalt von rechts nicht als etwas Ehrenwertes behandeln.

Die Rechtswirklichkeit der Weimarer Zeit war damit durch ein völkisch-nationales Vorverständnis des Rechts einseitig geprägt. Gewalt außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols genoß Duldung. Selbst Demokraten begannen, vorsichtig zu agieren, um sich nicht in die Ecke der Volksfeinde stellen zu lassen. Offenheit und Toleranz waren Fehlhaltungen, Pluralität ein Mißstand.

Solchermaßen vorbereitet, fehlte eigentlich nur noch die autoritäre Instanz, die die Grenze zwischen Freund und Feind im Innern verbindlich festlegte. Sie kam, diese Instanz, sie war willkommen und darum wurde sie gerufen. Die Vorstellung von guten und bösen Mitbürgern und wie man mit letzteren zu verfahren hatte, war den Menschen nicht fremd. Und sie wollten die klare Scheidung. Die Ausgrenzung brachte vielen Vorteile. Sie bot starken ideologischen Halt, vielen sicher auch ein gutes Gewissen, jedenfalls das falsche Gefühl, von allem, was da geschah, moralisch nicht tangiert zu sein. Sie legitimierte Vorurteile, bestätigte Überzeugungen. Sie verunsicherte und korrumpierte diejenigen, die bisher abseits standen, und sie entmutigte die Ausgegrenzten. Damit war das Gemeinschaftsprojekt Gerechtigkeit erledigt. Professoren schufen den wissenschaftlichen Unterbau, praktische Juristen entwickelten viel Kreativität bei der Umsetzung. Wer nicht eingesperrt oder vertrieben war, fühlte sich wohl. Ein Gefühl, das sich so tief einprägte, daß sich in der Bundesrepublik viele noch lange wehmütig daran erinnerten.

Wenn wir heute Betroffenheit über die Verbrechen der NS-Zeit vermissen und in deren Bekundung oft nur eine unglaubwürdige Pflichtübung sehen, müssen wir daran denken, daß ehedem die Voraussetzung für eine Betroffenheit, nämlich die Wahrung der metaphysischen Verbundenheit aller Menschen untereinander, systematisch zerstört worden war. Diese Zerstörung war so nachhaltig, daß nach dem Ende des Terrors die Verbundenheit mit den Mördern größer war als mit den Opfern. Man muß NS-Verbrecher von Gefangenenfürsorge und Resozialisierung nicht grundsätzlich ausschließen, aber man kann klare Prioritäten setzen, und die hätten anders aussehen müssen, als es der Fall war.

Der Nationalsozialismus ist, so betrachtet, eine Verkehrung menschlicher Ordnung: Das System gibt nicht die Antwort auf die Frage, was mit einem Rechtsbrecher zu geschehen habe, sondern es macht einen Teil des Volkes vorab zu Feinden. Das ist weit mehr und etwas ganz anderes als nur die Vernachlässigung und Leugnung der Verbundenheit durch einzelne Glieder gegenüber anderen in der Rechtsgemeinschaft. Nein, dieses System ist nicht nur schlecht oder nicht ausreichend gerecht, es erhebt das Gegenteil von Ordnung, nämlich die Ausgrenzung und Entrechtung, zu ihrem Prinzip, ist also keine Ordnung. Das geschieht unter dem Vorwand der Problemlösung. Eine Gruppe von Mitbürgem wird zum Problem erklärt. Es handelt sich dabei um nichts anderes als die Projektion des eigenen Identitätsproblems eines Teils des Volkes auf einen anderen Teil. Das Problem der eigenen Identität kann so nur kaschiert werden. Auf dieser Basis konnte es dann nicht ausbleiben, daß der Kreis der Auszugrenzenden und Auszusondernden über die Gruppe der Juden hinaus auf andere Völker und schließlich auf Gruppen der Restbevölkerung ausgedehnt wurde. Die Identitätsfindung war so nicht möglich. Sie wäre auch durch den "Endsieg" nicht geglückt, sondern endgültig verbaut worden.

Das Ungeheuerliche, Unfassliche des staatlichen Massenmordes stellte nach dem Zusammenbruch des Regimes den Menschen des Tätervolkes eine sehr schwere Aufgabe, die sicher nicht durch eine schnelle Kehrtwendung zu lösen war. Aber auch die Auseinandersetzung im engen, überschaubaren Bereich von Familie und Gemeinde fand nicht statt. Ich denke an die sog. Endphasen-Verbrechen, in denen Träger offizieller Funktionen, aber auch engagierte Bürger, Reste von Humanität und Vernunft mobilisierten, um sinnloses Töten und Zerstören zu beenden und eben nicht bis zum letzten Atemzug ins Verderben zu marschieren. Die meisten bezahlten mit ihrem Leben, das ihnen ohne formal-rechtliche Mindestgarantien genommen wurde. Über diese Tragödien wird bis heute meist geschwiegen. An ihnen aber hätte sich Besinnung auf die eigene Verstrickung, auf die eigene moralische Schuld, am leichtesten beginnen lassen, denn es war unmittelbares Erleben und die Opfer waren Verwandte und Nachbarn. Von dieser Auseinandersetzung hätte zwanglos ein gedanklicher Weg weiter zu den größeren Zusammenhängen und damit zu den großen Verbrechen geführt. Aber es war eine merkwürdige Haltung, die diese Verbrechen durch eine kategorische Forderung nach Versöhnung mit einer Blockade des Verschweigens umgab. Auch dies war eine Fehlentwicklung, die einer Normalisierung des Rechtsbewußtseins zuwiderlief. Die Nachkriegsgesetzgebung und -rechtsprechung trugen dieser Einstellung gegenüber den Endphasen-Verbrechen übrigens durch Amnestiegesetze und milde Urteile Rechnung. Ein besonderes Defizit an Urteilsfähigkeit bewies der Gesetzgeber dabei, in dem er Straftaten vor und nach dem 8. Mai 1945 als gleiche Kategorie behandelte.

Nach allem, was geschah, muß man fragen, wie die Ordnung wiederhergestellt wird.. Genügt dazu der Erlaß eines Grundgesetzes? Wie geht eine Mentalität, die zuvor das Recht pervertierte, mit einem der Humanität verpflichteten Grundgesetz um? Hat sich das Identitätsproblem verflüchtigt oder lebt es überall da fort, wo die Gesellschaft ein Problem hat?

Etwa im Insistieren auf dem ius sanguinis bei der Staatsangehörigkeit und in der Anfeindung derer, die sich für humane Behandlung Fremder einsetzen? Diese Tendenzen erscheinen noch nicht wirklich so bedrängend, daß bereits der Staat die Ausgrenzung zum Prinzip erklärt. Aber viele Bürger führen diese Tendenzen auf ihre Weise in Gedanken, Worten und Taten zu Ende. Und wo sind die starken gesellschaftlichen Kräfte, die dem so entschieden entgegentreten, daß jeder, der damit sympathisiert, isoliert ist? Jedenfalls muß die Frage erlaubt sein, worin sich denn ggfs. der entscheidende Mentalitätswandel manifestiert habe, wenn er denn stattgefunden hat. Die Akzeptanz des Grundgesetzes allein reicht sicher nicht aus. Man kann es gelten lassen und seine Vorteile genießen und daneben und unter ihm inhumane Vorstellungen pflegen. Etwas anderes aber ist die aktive Verwirklichung der Aufgabe, die das Grundgesetz stellt.

Ein für die Rechtskultur maßgebender Wandel der Mentalität müßte sich vor allem in der Einstellung zu den NS-Verbrechen zeigen. Das ist allenfalls zaghaft und oberflächlich der Fall. Er wird behindert durch Strategien, den Menschen den Rückzug in eine ahistorische Position ("Gnade der späten Geburt") zu ermöglichen.

Wo ist die Erkenntnis, daß die metaphysische Verstrickung der Menschen mit dem Schicksal ihrer Mitmenschen nicht nur auf der Abszisse der gemeinsamen Gegenwart liegt, sondern auch auf der Ordinate der Geschichte, mehr als nur Lippenbekenntnis?

Für das Rechtsdenken und -empfinden in der Nachkriegszeit war es charakteristisch, zusammengehörende Fragen grundsätzlich jeweils separat zu regeln, ein "Zusammendenken" gab es immer nur zum Zweck der Apologie.

Nach dem Krieg fehlte es u.a. an Menschen. Aber man setzte die, welche sich mit dem Regime in irgendeiner Weise arrangiert, abgefunden, oder sich ihm angedient hatten, nicht in Beziehung zu denen, die Deutschland hatten verlassen müssen. Die einen holte man nach und nach in ihre Positionen zurück, die anderen konnten unter bestimmten Bedingungen eine Geldentschädigung erhalten, wurden aber nicht zurückgerufen. Gerechtigkeit hätte alles daran setzen müssen, die Emigranten zurückzuholen und sie als Garanten eines besseren Deutschland an maßgebenden Stellen einzusetzen. Das wäre die beste Wiedergutmachung und der glaubwürdigste Neuanfang gewesen. Gerade im Bereich des Rechtswesens sind nur wenige Verfolgte auf wichtige Posten berufen worden. Beispiele sind der Stuttgarter OLG-Präsident Richard Schmid und der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem - u.a. - die Zentrale Stelle ihre Entstehung zu verdanken hat.

Die Asymmetrie wird eigentlich erst recht deutlich, wenn wir uns klar machen, daß im Grunde auf der einen Seite primär nicht überlebende Emigranten, sondern Ermordete standen, die Anspruch auf Wiedereinsetzung in ihre Rechte hatten, und daß die in die Funktionen Berufenen auf der anderen Seite Nutzen aus dem Fehlen dieser Anwärter und aus den schlechten Bedingungen der Emigranten für eine Rückkehr zogen. Das gilt generell und unabhängig von der Frage, ob der einzelne Wiederverwendete eigentlich moralisch-politisch tragbar war.

Bei der Verfolgung von NS-Straftätern war man im Beseitigen von Schwierigkeiten und Hindernissen nicht sehr einfallsreich. Die umständliche gerichtliche Voruntersuchung ließ man jahrelang bestehen. Alle Taten, außer Mord, ließ man verjähren In bestimmten Fällen wurde auch die Beihilfe zum Mord unverfolgbar. Die Ratifizierung des deutsch-französischen Zusatzabkommens zum Überleitungsvertrag wurde viele Jahre verzögert. Obwohl es für die meisten Verbrechen keine Tatortzuständigkeit gab und eine Wohnortzuständigkeit oft nicht bestimmt werden konnte unterblieb eine Gesetzesänderung, die die Zuständigkeit geschaffen hätte. Als Notbehelf richtete man eine Behörde - die Zentrale Stelle - ein, die Vorermittlungen so weit führte, bis eine Zuständigkeit bestimmbar war.

Für die Diener des "Dritten Reiches" hatte man allerdings nach einer gewissen Schamfrist eine kreative Idee: das Gesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes.

Daß zur Bewältigung der großen Aufgabe einer juristischen Aufarbeitung auch die Opferseite gehört, liegt auf der Hand. Hier schienen unterschiedliche Zuständigkeiten, besonders auch in der Gesetzgebung, nicht als störend. Niemand kam auf die Idee, die Ermittlung der Menschenversuche, der Tötung von Patienten oder der Sterilisation mit der Recherche nach den Schäden für die Betroffenen und ihre Hinterbliebenen zu verbinden. Bei den Ermittlungen wegen Tötungen in den Lagern fielen unzählige Erkenntnisse über die Zwangsarbeit an, und sie hätten im Rahmen der Ermittlungen systematisch vermehrt werden können. Aber in unserem Rechtssystem ist ein solches koordiniertes Vorgehen nicht vorgesehen und nicht geschaffen worden. Deshalb fielen wichtige Opfergruppen durch das Netz der Gesetze.

Wenn es um die rechtspolitische Bewertung des NS-Unrechts ging, wurden allerdings Verbindungen hergestellt. Da waren die Verbrechen an Deutschen das richtige Mittel zur Einordnung deutscher Verbrechen, als hülfe uns unser eigenes Leid aus unserer Verstrickung in das Unrechtssystem. Der Bereich der moralischen Verantwortung ist einer solch vordergründig-rationalistischen Saldierung nicht zugänglich.

Unser Rechtsbewußtsein begnügt sich weitgehend mit der Vermeidung von Vergehen als Grundlage für ein gutes Gewissen. Der humane Urgrund des Rechts verlangt aber mehr. Die Motivation zum aktiven Tun ist es, die Gemeinschaft stiftet und die Gesellschaft zusammenhält. Das Gute ist eben mehr als das unterlassene Schlechte. Dieses "Unschlechte" schon das Gute zu nennen, verdient allerdings das Etikett "banal". Niemanden mehr zu töten, zu versklaven oder zu quälen, kann nicht die Antwort sein auf das positiv getane Böse, auf die Massenverbrechen des Staates, auf das Mitmachen seiner Organe und Helfer und auch nicht auf die unbefohlenen, aber geduldeten, oft willkommenen Exzesse und Grausamkeiten. Und es ist noch weniger die angemessene Konsequenz auf das unheilbringende Wegsehen, auf Resignation und Passivität, eine Form der Beteiligung am Unrecht, die wir gern verdrängen, die auch kein Paragraph erfassen kann, die aber, wie Ernst Wiechert sagte, alle, die nicht eingesperrt oder vertrieben waren, mit dem Unrecht verbindet. Im NS-System, diesem Zustand der Amoralität, erhielten die ungeschriebenen Grundnormen des Humanen als einzig verbleibende Richtschnur eine besondere Bedeutung. Mangels einer Rechts- und Sittenordnung war man auf dieses Fundament zurückverwiesen, man geriet damit aber auch zugleich ohne weiteres in einen Gegensatz zum System. Denn Humanität ließ kein anderes Verhalten zu als aktives Eintreten für das Gute. Die Vermeidung von Vergehen konnte niemandem mehr ein gutes Gewissen verschaffen. Es ist gewiß ein hoher Anspruch, den Menschen vor die Alternative von Heroismus und moralischem Versagen zu stellen. Das Recht verlangt auch nicht den Heroismus und bestraft nicht das Versagen. Das ist das unvermeidliche Ungenügen jeder menschlichen Rechtsordnung. Aber zur richtigen Bewertung der Situation im Unrechtssystem und zur Bestimmung der richtigen Reaktion einer erneuerten Ordnung auf die Vergangenheit muß man darauf bestehen, daß dies die Alternative war, vor der jeder stand. Und nichts zeigt denen, die nicht die Opfer des Systems waren, ihre Abkehr von der Gerechtigkeit eindringlicher als diese ihre Lage, in der nur Selbstbetrug ein "gutes" Gewissen verschaffen kann.

Unsere heutige Ordnung stellt uns nicht mehr vor diese Alternative, ermöglicht und fordert aber mehr als die banale Vermeidung des Schlechten, vielmehr das positive Engagement gegen alle Entwicklungen, die noch, trotz aller Gesetze, den Zielen einer gerechten Gesellschaft zuwiderlaufen. Dieses Gute ist leider immer noch zu ungewöhnlich, noch zu mühsam, um es banal zu nennen. Das Gute: Es ist die Einsicht, die Konsequenzen hat, das beispielhafte Tun, das Maßstäbe setzt, die Umkehr, die sich durch Rücksichtslosigkeit gegenüber Tabus und Empfindlichkeiten auszeichnet und die den steilen, steinigen Weg zur Wahrheit nicht scheut.

Ist es möglich, eine Aussage darüber zu machen, ob die Versuche, dem NS-Unrecht mit den Mitteln der Justiz gerecht zu werden, über diesen Zweck hinaus im allgemeinen Bewußtsein etwas bewirkt haben? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Aus der Sicht eines Mitarbeiters der Zentralen Stelle soll eine erkennbare Tendenz aus, den komplizierten Zusammenhängen angedeutet werden.

Die Zentrale Stelle wird am 1. Dezember 1998 vierzig Jahre alt. Sie ist zu einem Symbol für die Aufklärung der NS-Verbrechen geworden. Die Verfolgung der Verbrechen begann allerdings, zunächst durch alliierte Vorbehalte eingeschränkt, bereits im Herbst 1945. Die Ergebnisse befriedigen nicht. Aber auch da, wo der Abschluß der Verfahren nicht zu einer Ahndung eines Verbrechens führte, ist es meist weitgehend aufgeklärt, und das bedeutet mosaikartige Dokumentation weiter Bereiche des Geschehens in der NS-Zeit. Das Material steht nicht nur der Forschung zur Verfügung, es gibt auch Bürgern, die sich mit dem Tun ihrer Väter und Großväter beschäftigen wollen, aber auch Gruppen - den Geschichtswerkstätten, die sich z.B. mit Lagern in ihrem Wohnort beschäftigen - Auskunft und Gewißheit, die an die Stelle von Vermutungen tritt. Man hat den Eindruck, daß jetzt, nach so langer Zeit, eine neue Generation die Kraft hat, sich den Fakten zu stellen, sie wissen zu wollen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es ist immer wieder eindrucksvoll, zu sehen, wie ernsthaft diese Recherchen betrieben werden und welche Vorkenntnisse diese Menschen als Frucht ihrer Studien mitbringen. Man mag diesen Bemühungen keinen wissenschaftlichen Wert beimessen, aber sie zeigen einen Wandel im Bewußtsein an. Menschen, die dies tun, verändern das allgemeine Bewußtsein, auch wenn sie eine kleine Minderheit sind. Das Wertvollste daran ist, daß es freiwillig geschieht, aus innerer, nicht aus äußerer Notwendigkeit. Deshalb ist es wichtig, diese Arbeiten auch in Zukunft zu ermöglichen.

Was wir so lange vermißt haben und sich nicht entwickeln konnte - es ist jetzt unübersehbar aus dem Schatten der Verdrängung herausgetreten. Hier wird die mentale Verarbeitung nicht, wie von manchen befürchtet oder gewünscht, abgeschlossen, sondern sie tritt in eine neue und wichtige Phase. Wenn es je eine Hinwendung zur Gerechtigkeit im Sinn unseres Spruchs geben wird, dann nicht durch spektakuläre öffentliche Aktionen, sondern durch Besinnung und Erinnerung an das, was sich durch keine Verdrängung und keinen Schlußstrich aus unserem Leben verbannen läßt.

Dieser Vortrag wurde gehalten am 25. November 1998 in der ehemaligen Synagoge Affaltrach. Anlaß war die Präsentation der denkmalpflegerischen Dokumentation des jüdischen Friedhofs von Affaltrach durch Benjamin Nir und Martin Ritter.

Herbert Schneider war ursprünglich Richter am Amtsgericht Darmstadt und wurde als Ermittler abgeordnet zur Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (abgekürzt in der Regel als ZStL), deren stellvertretender Leiter er wurde.

Die ZStL stellt, nach erhobener Anklage den lokalen Staatsanwaltschaften ihr Material zur Verfügung. Zugleich bietet diese Behörde heute einer Vielzahl von Juristen, Historikern und sonstigen Wissenschaftlern einen wertvollen Datenbestand als empirische Grundlage für unterschiedlichste Forschungen.

haGalil onLine - Freitag 09-04-99

 
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