Von Leonas Zalys, Kauno diena vom 26. März 1999
Vor zehn Jahren sprachen die internationalen Medien von Litauen
als von einem Land, das als erstes die Entschlossenheit gezeigt hatte, eine
ein halbes Jahrhundert währende Okkupation abzuschütteln, und das seinen
Willen zum selbständigen Handeln und zur Rückkehr in die Familie der
zivilisierten Völker Europas bekundete. Damals nannte man unser Land
"Totengräber der Sowjetunion", "Eisbrecher in die Freiheit, das auch anderen
den Weg bahnt", und so weiter.
Heute spricht man von Litauen weltweit vor allem als von einem Land,
dessen Menschen fast die gesamte hier ansässige jüdische Bevölkerung
vernichteten. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich der Blick auf unseren
Staat stark verändert: die Bewunderung für die Litauer ist in Schauder,
ja Ekel vor ihnen umgeschlagen.
In den letzten Jahren sind weltweit Hunderte, bestimmten Quellen
zufolge sogar Tausende von Publikationen erschienen, in denen es um den
Genozid an den Juden in Litauen während des Zweiten Weltkrieges geht.
Diese Artikel enthalten nur Vorwürfe: "Litauen schafft es nicht, sich
seiner blutigen Vergangenheit zu stellen", "Litauen läßt
Kriegsverbrecher unbestraft" usw.
Doch in all diesen Publikationen werden andere Tatsachen im
Zusammenhang mit dem Holocaust verschwiegen (oder absichtlich
ignoriert), sagte vorgestern der Rechtsanwalt Povilas Zumbakis.
Er sprach auf einem Seminar zum Thema "Die juristische Problematik der
Kriegsverbrechen", das die Juristische Fakultät der
Vytautas-Magnus-Universität [in Kaunas] zusammen mit der
Generalstaatsanwaltschaft ausgerichtet hatte. Zumbakis betonte, diese
Artikel enthielten bewußt keinen Hinweis darauf, daß Litauen damals
besetzt war und demnach als Staat gar nicht existierte. Es werde
verschwiegen, daß nur eine Handvoll Litauer an der Vernichtung der Juden
beteiligt war und daß viele Litauer Menschen beistanden, die in Not
geraten waren. Auch werde die Tatsache ignoriert, daß Litauen nicht
weniger als dreimal besetzt gewesen sei (von den Sowjets, den Nazis und
wieder den Sowjets) und daß seine Bevölkerung besonders schwer unter dem
von fremden Mächten und ihren Helfershelfern begangenen Genozid zu
leiden hatte (Litauen verlor fast eine Million Menschen).
Zumbakis sagte weiter, Litauen feindlich gesinnte Kräfte hätten einen
Plan aufgestellt, um unser Land als einen durchwegs verachtenswerten
Staat darzustellen. Der Angriff auf Litauen begann gleich nach der
Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Wußte man denn vor zehn Jahren
nichts vom Holocaust in Litauen? Das war durchaus kein Geheimnis. Der
Totalangriff auf unser Land ist ein Racheakt dafür, daß Litauen seine
Unabhängigkeit erkämpft hat. Es ist wohl nicht schwer zu begreifen, wem
diese Unabhängigkeit wie ein Stachel im Fleisch sitzt.
Der US-Rechtsanwalt Zumbakis, der sich mit dem juristischen Problemfeld
von Kriegsverbrechen beschäftigt und derzeit an der
Vytautas-Magnus-Universität lehrt, richtete etliche Vorwürfe an die
amerikanische Justitia. Nach seinen Worten ist die Haltung der
amerikanischen Führung mehr als merkwürdig. In den Vereinigten Staaten
lebten zahlreichen Kriegsverbrecher, sowohl Nazis als auch NKWD-Leute,
die sich bis zu den Ellenbogen mit Blut befleckt hätten. Die
US-Regierung interessiere sich aber so gut wie gar nicht für diese
Verbecher, solange sie Franzosen, Italiener oder Russen seien. Völlig
anders sei die Haltung gegenüber Personen, die aus Ost-, Süd- und
Mitteleuropa gekommen seien, also Letten, Litauer, Ungarn, Kroaten,
Rumänen usw. Aber Genozid hätten doch sowohl die über den Atlantik
geflüchteten NKWD-Leuten als auch die Nazi-Komplizen in Frankreich,
Italien und anderen von Hitler besetzten westeuropäischen Ländern
begangen!
Mit zweierlei Maß kann keine Gerechtigkeit erlangt werden, wenn man
sich für die Verbrechen der einen interessiert und die Übeltaten der
anderen ignoriert.
Zumbakis erinnerte an den Fall einiger bis heute nicht bestrafter
japanischer Militärärzte, die während des Zweiten Weltkrieges Amerikaner
"lebendig aufschnitten", um zu untersuchen, welche Schmerzen ein Mensch
ohne jede Schmerzmittel zu ertragen imstande sei.
Die US-Justiz interessiere sich für Kriegsverbrecher nicht nach der
Schwere der von ihnen begangenen Verbrechen, sondern nach ihrer
ethnischen Zugehörigkeit, stellte Zumbakis fest.
Rimvydas Valentukevicius, Leitender Staatsanwalt der Abteilung für
Sonderuntersuchungen der Staatsanwaltschaft, sprach von etwa 70
Genozid-Fällen in Litauen. Fünf von ihnen seien bis vor Gericht
gekommen, davon zwei wegen des von den Nazis verübten und drei wegen des
sowjetischen Genozids. In einem Fall sei ein Urteil gesprochen worden,
das die "Verdienste" der Stribai [einheimische Partisanenjäger auf
Sowjet-Seite in der Nachkriegszeit, d.Ü.] von Antazave beim Namen
nannte. Nicht wenige Probleme gibt es bei der Untersuchung der
verbrecherischen Handlungen der NKWD-Mörder "Sokolovninkai", die sich
als litauische Partisanen ausgaben, ganze Familien umbrachten und die
Schuld daran den Freiheitskämpfern zuschoben.
Auch der berühmte "Fall Rainiai" ist wieder in Bewegung geraten, bei
dem sowjetische Besatzer und ihre Helfershelfer viele Menschen
umgebracht hatten. Doch Rußland will nichts davon hören, Dokumente zur
Verfügung zu stellen oder Petras Raslanas, der der Beteiligung an dem
Massaker verdächtigt wird, an Litauen auszuliefern. Die Begründung:
Raslanas sei russischer Staatsangehöriger.
Liubomir Luciuk, (ukrainischstämmiger) Professor an der Kanadischen
Königlichen Militärakademie, merkte an, es sei geradezu erstaunlich, wie
wenig der Westen - Gesellschaft und Medien - über die Kriegsverbrechen
der Sowjets wisse und wie wenig Interesse er daran zeige. Der Sprecher
führte als Beispiel an, wie Israel auf das Ersuchen um Auslieferung
eines Kriegsverbrechers reagiere. So habe Polen vor kurzem darum
gebeten, Solomon Morel auszuliefern, der als Mitarbeiter der
sowjetischen repressiven Strukturen beschuldigt werde, gegen und nach
Ende des Zweiten Weltkrieges Verbrechen begangen zu haben, die als
Kriegsverbrechen einzustufen sind. Die Antwort Israels: die fragliche
Person werde nicht an Polen ausgeliefert, denn seit jenen Ereignissen
seien mehr als zwanzig Jahre vergangen. So entzog sich Morel der
Bestrafung.
Die Bürgerrechtsorganisation, in der Professor Luciuk sich engagiert,
vertritt die Haltung, daß alle Kriegsverbrecher, egal welcher
Nationalität, sich für die begangenen Verbrechen verantworten müssen.
Lithuanian Returns From USA Willingly. AP/BNS information
"Lietuvos rytas", 6 April (No. 77), p. 2
Chicago, April 5th. Another Lithuanian accused of collaboration
with the Nazis by the American justice intends to return to Lithuania in
order to avoid further legal procedures with the US authorities. The Chicago
resident Vincas Valkavickas, aged 78, has made an agreement with the Federal
authorities saying he will return to Lithuania in June.
"He is returning by his own will. He bought his ticket himself, and
nobody is going to deport him. He waned to die as an US citizen, but as
there is no such possibility he returns", said Valkavickas’ lawyer
Gerald(as) Venkus. Valkavickas was incriminated last year with having
served in the police during the German occupation and guarded 3700
Jewish prisoners who were later shot to death. After Valkavickas agreed
to leave voluntarily, the examination of his deportation case at court,
scheduled for Friday, was canceled. Valkavickas worked in a paint
factory for almost half a century and only two years ago applied for the
US citizenship. This is when the Nazi-hunting OSI of the Department of
Justice became interested in his past. Valkavickas is a widower but has
a brother in Lithuania with whom he intends to stay.
Newsstream - Investigations. News agencies’ information
"Lietuvos rytas", 7 April (No. 78), p. 2
The Lithuanian organs of justice have no proof or evidence yet to bring
an indictment against Vincas Valkavickas whom the American justice
accuses of collaboration with the Nazis. By order of the Office of the
Prosecutor General, the Genocide and Resistance Research Center of
Lithuania is collecting material about Valkavickas. A part of the
material has been submitted, but it is not sufficient to bring an
indictment. The 78-year-old Valkavickas from Chicago will return to
Lithuania in June to avoid further legal proceeding with the US
officials.