antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info
haGalil onLine - http://www.hagalil.com

  

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus

Aktiv gegen Nazi-Propaganda!
Jüdische Weisheit
 
Archivierte Meldungen aus den Jahren 1995 - 1999

 

Süddeutsche Zeitung

Aleksandar Tišmas Romanzyklus:
Elend, das aus dem guten Willen wächst

Von Claus-Ulrich Bielefeld

Was geschieht nach der Apokalypse? Das Leben geht weiter. Mit stoischer Ruhe und strenger Lakonie erzählt Aleksandar Tišma vom Weiterleben, von Menschen, die als hoffnungslos Verstörte übriggeblieben sind in einer Welt, in der dem vergangenen Unheil kein Sinn abgewonnen und den Opfern kein Trost zugesprochen werden kann.

Einsam geht der überlebende Jude Blam in Tišmas Roman Das Buch Blam nach dem Krieg durch die Stadt Novi Sad, in der einst Serben, Kroaten, Ungarn, Deutsche, Juden und Griechen zusammenlebten, und in die er als einer der wenigen, der die Massaker im Jahre 1942 und die Deportationen überstanden hat, zurückgekehrt ist. Er erinnert sich und kann doch nicht fassen, was geschehen ist. Eine andere unvergeßbare Figur, die Tišma geschaffen hat: Vilko Lamian in dem Roman Kapo. Lamian hat Auschwitz überlebt, weil er mit seinen Peinigern kollaboriert, Mithäftlinge verraten und dem Tod ausgeliefert hat.

In fünf Romanen hat Tišma seine Geschichte vom Jahrhundert der Wölfe, wie es Nadeshda Mandelstam in ihrem Lebensbericht genannt hat, aufgeschrieben. Nun liegt der Zyklus mit dem Roman Treue und Verrat geschlossen in deutscher Übersetzung vor.

Wir befinden uns Anfang der sechziger Jahre im sozialistischen Jugoslawien, wieder in Novi Sad. Ein böser Bann scheint über der Stadt zu liegen, in der sich die Menschen wie mürrische und unglückliche Schlafwandler bewegen, die nicht wissen, was sie sich wünschen könnten und die dennoch von Sehnsucht geplagt werden, von dem Begehren nach dem ganz Anderen, das ihrem Leben wieder Licht und Farbe geben könnte. Zu ihnen zählt auch Sergije Rudic, ein 38jähriger Jurist. In einem Belgrader Winkelverlag lektoriert und korrigiert er Schundromane aus dem Westen, die er den realsozialistischen Gegebenheiten anpaßt. Am Wochenende fährt er zu seinen Eltern nach Novi Sad, die ihm auf die Nerven gehen und deren Anhänglichkeit er sich doch nicht entziehen kann. Was kann diesem alten, grämlichen Kind noch widerfahren? Die Liebe, genauer: die Leidenschaft zu einer Frau.

Aus Österreich ist Inge gekommen, die in Novi Sad aufgewachsen ist. Nun ist ihr, die 1945 mit den meisten anderen deutschen Bewohnern Novi Sads aus ihrer Heimat vertrieben worden ist, nach langen Rechtsstreitigkeiten die einstige Wohnung ihres Großvaters zugesprochen worden, in der Sergijes Eltern wohnen. Sergije soll mit ihr und ihrem Mann über eine Einigung verhandeln, eine Aufgabe, die er schnell aus den Augen verliert, denn es gelingt ihm, Inge ohne Präliminarien ins Bett zu bugsieren: ein Abenteuer, ein Triumph über eine durchaus willige Frau.

Doch für Sergije bedeutet das Zusammensein mehr. Aus einem sinnlosen, autistischen Leben soll ihn diese Liebe reißen, "Läuterung" soll sie ihm bescheren, einen Neubeginn ermöglichen – und bringt ihm doch nur fünf romantische Tage in einem kleinen Hotel an der Donau, wo die beiden ihre Sinnlichkeit ausleben. Mehr geschieht nicht, danach kehrt Inge zu ihrem Mann zurück, der sich nicht von ihr trennt, obwohl sie von Sergije schwanger ist.

Eine bittersüße Liebesgeschichte, die beschwert und letztlich demoliert wird von all dem Vergangenen, das fortwirkt und immer wieder siegen wird. Als Schriftsteller demonstriert Tišma konsequent und mit radikaler Distanz den "gräßlichen Fatalismus der Geschichte". Keine Erklärungen liefert er für all das Schreckliche, was sich die Menschen antun und was ihnen angetan wird. Nur Bilder gibt es, quälend genaue Beschreibungen von Gemeinheit, Mord und Verrat, die oft zeitlupenartig, in sich verstrickenden Sätzen beschrieben werden. Treue, im Titel beschworen, ist nur leerer Wahn in einem Geschehen, das sich wie eine riesige Naturkatastrophe über die Menschen wälzt und sie tötet oder als Versehrte zurückläßt.

Opfer als Täter, Täter als Opfer

Und so wären denn alle unschuldig schuldig? Das klingt banal, wird aber durch die Schilderungen des pessimistischen Anthropologen Tišma beunruhigend glaubwürdig. Das Elend des Menschen, entnehmen wir seinen Schilderungen, wächst nicht nur aus seinen bösen, aggressiven Impulsen, sondern auch aus seinem guten Willen, der oft mit Fahrlässigkeit und Eitelkeit verbunden ist. Als junger Mann hat Sergije gegen die deutschen und ungarischen Besatzer seiner Heimat aufbegehrt und ein Getreidefeld in Brand gesetzt. Eine mutwillige Aktion, für die er ins Gefängnis geworfen wird und später ins Arbeitslager. Mit geradezu provozierendem Gestus verweigert Tišma das Hohe Lied des Widerstands. Statt dessen läßt er Sergije zwei Jahrzehnte später, nach einem guten Essen in einem Gartenrestaurant unter einer Kastanie, über die Gefahren sinnieren, "die in irgend einem Winkel unserer eigenen Natur lauern, um alles zu zerstören, was mit guten Absichten und Vorzeichen errichtet wurde. Wir handeln, und dann bemerken wir, daß wir nichts geschaffen haben, daß sich die Wirklichkeit in ganz anderer Richtung bewegt, und wir müssen hinterherlaufen, um sie zu verteidigen, obwohl sie uns schon fremd ist und wir nicht daran schuld sind."

Ein zentraler Satz, der über Tišmas gesamtem Werk stehen könnte, und der nur schwer zu ertragen ist, denn er beharrt auf Relativierung und Nicht-Eindeutigkeit. Die Opfer sind bei diesem Autor auch als Täter denkbar und vice versa. Der Widerstandskämpfer Sergije erschießt nach dem Krieg aus Eifersucht und Ekel einen Nebenbuhler. Er vernachlässigt seine Frau und seine behinderte Tochter, er verachtet seine Eltern. Und nährt sich seine Liebe zu Inge nicht aus Eigennutz und moralischer Indifferenz? Dennoch, und darin besteht die große Kunst Tišmas, spüren wir weder Verachtung noch Mitleid für Sergije. Was bleibt und lange nachwirkt: Unruhe.

Sie wird auch nicht gemindert durch die fast idyllisch anmutende Darstellung einer Familie mit vier Kindern, die Sergije, Inge und ihren Mann um sich schart und mit ihrer naiven Lebenslust anzustecken sucht. Ein verführerisch ausgemaltes Gegenbild, in das Sergije gerne eingehen würde: "Ist dies nicht das wahre Leben?", fragt er sich einmal sehnsuchtsvoll.

Nichts da, sagt uns aber Tišmas Roman und widerspricht mit einer Schlußszene, die an Grausen und Shakespearscher Tragik und Komik kaum zu überbieten ist: Als Sergije erfährt, daß Inge von ihm schwanger ist, will er ihren Mann umbringen. Und um nicht selbst in Verdacht zu geraten, drängt er seinen Freund Eugen Patak, die Tat für ihn zu begehen. Patak, der mit Sergije im Gefängnis gesessen hat und sich nach seiner Rückkehr nach Novi Sad hinter Büchern versteckt und in der Lektüre vergraben hat, weigert sich. Doch dann teilt ihm Sergije mit, daß er Pataks Geheimnis kennt: Patak, um seine eigene Haut zu retten, die Genossen im Gefängnis bei ihrem Ausbruchsversuch an die Wachmannschaften verraten. Tišma treibt seinen Stoff in eine letzte Kehre der Hoffnungslosigkeit und läßt ihn fürchterlich enden.

Fünf Bände hat Tišma über den Gebrauch des Menschen, so ein anderer Titel aus dem Zyklus, geschrieben. Das ist ein langer, waghalsiger Gang ins Herz der Finsternis, eine rücksichtslose Selbstprüfung des Autors und eine Prüfung des Lesers. Wer sich ihr aussetzt, erhält eine so bittere wie unvergeßbare Lektion: über Verblendung und Verrat, über Unschuld und Schuld menschlicher Existenz.

Romanzyklus von Aleksandar Tišma

Der Gebrauch des Menschen
DTV Verlag 1994
332 Seiten
Euro 11,00

Bestellen?

Die Schule der Gottlosigkeit
DTV Verlag 1994
142 Seiten
Euro 8,00

Bestellen?

Das Buch Blam
DTV Verlag 1997
261 Seiten
Euro 8,00

Bestellen?

Kapo
DTV Verlag 1999
341 Seiten
Euro 10,17

Bestellen?

Treue und Verrat
DTV Verlag 2001
303 Seiten
Euro 9,50

Bestellen?

haGalil onLine - Dienstag 23-03-99

Die hier archivierten Artikel stammen aus den "Anfangsjahren" der breiten Nutzung des Internet. Damals waren die gestalterischen Möglichkeiten noch etwas ursprünglicher als heute. Wir haben die Artikel jedoch weiterhin archiviert, da die Informationen durchaus noch interessant sein können, u..a. auch zu Dokumentationszwecken.


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!
haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved